"Der blinde Bartimäus" (Mk 10,46-52)
Liebe Schwestern und Brüder,
Herr, öffne meine Augen für das wunderbare an deiner Weisung. – Das ist ein Gebet, ein Antwortvers aus dem Stundenbuch, der uns offenbar darauf aufmerksam macht, dass wir dazu neigen, blind zu sein für das Wunderbare unseres Glaubens.
Objektiv betrachtet ist unser Alltag ein Auf und Ab von Positivem und Negativem. An manchen Tagen geht’s drunter und drüber, an anderen scheint dann wieder die Sonne. Manchmal sind wir zu Tode betrübt, manchmal können wir vor Glück himmelhoch jauchzen. Manchmal ist Gott und das Gebet trocken, dürr und langweilig, manchmal treten wir ein in eine Atmosphäre der Wohlgestimmtheit und des Friedens, der uns ermutigt und aufbaut.
... und manchmal sehen wir gar nichts, weil wir blind sind für das Wunderbare, das Gott uns geschenkt hat, oder wir wollen es nicht sehen, weil ja das Dunkel und die Finsternis viel interessanter ist, spannender, worüber sich viel besser reden lässt.
Denken wir doch mal daran, was wir im Laufe des Tages so alles erzählen. Meistens sind es Sachen, die uns aufregen. Der hat wieder Mist gebaut ... und hast du schön gehört, dort ist das passiert, ist das nicht schrecklich. Und so viel Arbeitslosigkeit und jetzt kommen auch die Rentner dran und die Kriege und der Terror hören ja überhaupt nicht mehr auf. Ganz Afrika ist Aids-verseucht und das Erdbeben und die Umweltkatastrophen. Schlimm, schlimm, schlimm ... wie soll man bei all dem noch an einen Gott glauben, der uns gern hat und möchte, dass wir glücklich werden. Warum tut er nichts dagegen?
Unsere Augen sind irgendwie programmiert dazu, eher die Finsternis zu sehen als das Licht. Zumindest bekommt man diesen Eindruck. Und so gesehen wird der Schrei des Bartimäus aus dem heutigen Evangelium zum Urschrei von uns allen, auch wenn wir eigentlich trotz Brille noch relativ gut sehen können. Jesus, hab Erbarmen mit mir. Hilf mir, dass ich auch das Wunderbare des Lebens sehen kann, genauso wie das Schreckliche. Heiland, mache dass ich sehe, woran ich mich freuen kann, was Gutes geschieht, das mich jauchzen lässt, dich loben und preisen lässt, und sagen lässt: Danke Gott, dass ich leben darf und du mein Leben bist.
Ein Sonntag so wie heute kann uns die Augen öffnen für die Not, die es überall auf der Welt gibt, er kann uns aber auch den Blick öffnen, für die vielen guten Dinge, die Kirche weltweit tut, getan hat und tun wird. Er kann uns deutlich machen, dass Gott sehr wohl mit uns Menschen und mit der Welt Erbarmen hat und dass er unermüdlich am Werk ist, verborgen oder offen, um den Menschen zur Seite zu stehen.
Der heilige Franz von Sales unterscheidet – psychologisch sehr treffend – zwei Arten von Traurigkeit, eine böse Traurigkeit und eine gute Traurigkeit, eine Traurigkeit, die blind macht, und eine Traurigkeit, die mir die Augen öffnet.
Die „böse Traurigkeit“, sagt Franz von Sales, ist jene Traurigkeit, die mich nicht heilt, sondern kaputt macht, weil sie mir ständig vorgaukelt, dass alles nur noch schwarz und düster ist. Die gute Traurigkeit lässt mich erkennen, dass es einen Gott gibt, bei dem ich geborgen bin, auch wenn’s mir jetzt vielleicht nicht so gut geht, der mir Ruhe verschafft in den Stürmen des Lebens. Die böse Traurigkeit lacht darüber und sagt: Wo ist er denn, dein Gott. Wo treibt er sich denn wieder herum oder wo schläft er denn, dein Gott, und lässt dich in deinem Elend allein? Herr, hab erbarmen mit mir – schreit Bartimäus, und die gute Traurigkeit sagt uns, dass Jesus kommt und mir Mut zuspricht in meiner Blindheit und Finsternis: „Hab nur Mut, steh auf.“
Und in dieser so intimen Begegnung zwischen einem Menschen mit Gott – auch das soll manchmal im Leben vorkommen, trotz aller Zweifel und allen Unglaubens – in dieser Begegnung sagt Jesus: „Geh! Dein Glaube hat dir geholfen.“
Inmitten der Finsternis bedeutet der Glaube nicht noch mehr Last und noch mehr Joch, wie wir das oft meinen, sondern jene Hilfe, die notwendig ist, damit wir wieder sehen können.
Herr, öffne mir die Augen für das Wunderbare an deiner Weisung.
Darum geht’s eigentlich im Alltag unseres Lebens. Das Wunderbare Gottes erkennen und begreifen, das dieses Wunderbare mehr ist und stärker ist als alle Finsternis um uns herum. Amen.
Herbert Winklehner OSFS
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