die Tugend für das eigene Wohlbefinden
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Das Wort „Abtötung“ wollen wir heute gar nicht mehr hören, obwohl es in der Tradition von Kirche, Spiritualität und Mystik über Jahrhunderte hinweg eine sehr bedeutende Rolle spielte. Größen wie Augustinus, Thomas von Aquin, Teresa von Avila oder Franz von Sales widmeten sich diesem Thema. Bei uns stellen sich allerdings eher die Haare zu Berge. Wir denken gleich ans finstere Mittelalter, an Selbstgeißelung, Bußgürtel oder andere harte Kasteiungen. Das jedoch beweist, dass der Begriff in eine völlig falsche Richtung gedrängt wurde.
Das Wort „töten“ hat natürlich einen sehr negativen Beigeschmack. Daher spricht man heute auch lieber von Selbstbeherrschung, Abstinenz oder vom freiwilligen Verzichten. Die recht verstandene alte Tugend Abtötung will aber gerade nicht töten, sondern besagt, dass der, der nicht abtötet, sich selbst am meisten schadet. Vielleicht kann das eine Geschichte von Leo Tolstoi (1828-1910) etwas verdeutlichen. In seiner Erzählung „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ schildert er einen Bauern, dem ein Stück Land angeboten wurde. Das Besondere an diesem Angebot war, dass er selbst die Größe des Landes bestimmen durfte. So viel Land, wie er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang umschreiten kann, so viel darf er sein Eigen nennen. Der Bauer lief los, kaum dass die Sonne am Horizont erschienen war. Er lief und lief und lief, nur um noch mehr Land zu bekommen. Als er am Abend wieder seinen Ausgangspunkt erreichte, hatte er eine riesige Fläche umrundet, allerdings brach er am Ziel total erschöpft zusammen und starb.
Die Psychologie des 20. Jahrhunderts entwickelte die so genannte „Bedürfnispyramide“ des Menschen, in der alle seine Urbedürfnisse aufgelistet sind: Selbstverwirklichung, soziale Anerkennung, soziale Beziehungen, Sicherheit und körperliche Bedürfnisse wie atmen, essen, trinken, schlafen, Wärme und Sexualität. Sind diese Urbedürfnisse nicht gestillt, ist der Mensch unglücklich. Daher strebt er unaufhörlich danach, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Was aber geschieht, wenn man der Bedürfnisbefriedigung völlig freien Lauf lässt? Die Schlagzeilen der Nachrichten berichten uns davon: Immer mehr Jugendliche trinken auf so genannten „Flatrate-Parties“ Alkohol bis zur Bewusstlosigkeit („Koma-Trinken“). Jeder dritte Mann oder Frau leidet in den westlichen Industrieländern an Übergewicht (in manchen Ländern schon jede/r zweite). Dazu kommen: Drogen- und Medikamentenmissbrauch, Fernseh- und Computersucht, Depressionen, Freizeitstress und Wohlstandskrankheiten aufgrund mangelnder Bewegung oder ungesunder Ernährung. Das Verlangen nach immer Mehr, nach immer Neuem und Anderem, das von Werbung und Konsumindustrie klarerweise gefördert wird, führt zu den verrücktesten Aktionen, wie etwa lebensgefährliche Extremsportarten, die nicht selten tödlich enden. Auf der Suche nach dem „ultimativen Kick“ geht der Mensch zu Grunde. Die Tugend der Abtötung wäre in all diesen Fällen ein gutes Mittel, um bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse nicht ins Uferlose abzugleiten. Entgegen der Annahme, dass nur der glücklich ist, der all seine Bedürfnisse immer befriedigen kann, sagt die Tugend der Abtötung, dass du das eigentliche Wohlbefinden nur dadurch erreichst, wenn du dich selbst beherrschst und hin und wieder auch Verzicht übst. Nicht im Extrem findest du das Glück, sondern auf dem Mittelweg, oder wie Franz von Sales sagt: „Nur Narren gehen immer bis zum Extrem.“ (DASal 11,173).
Dieser heilige Franz von Sales (1567-1622) widmet der Abtötung in seinem Buch „Philothea – Anleitung zum frommen Leben“ ein eigenes Kapitel (III. Teil, 23. Kapitel). Er beginnt dabei mit einem wesentlichen Hinweis. Recht verstandene Abtötung fängt nicht mit Äußerlichkeiten an, sondern mit dem Herzen: „Weil das Herz die Quelle unserer Handlungen ist, werden diese so sein, wie unser Herz beschaffen ist … Um uns von unseren Fehlern zu reinigen, ist es zwar gut, das Fleisch abzutöten, besonders notwendig aber ist es, seine Wünsche zu reinigen und sein Herz zu erneuern.“ Er kennt daher auch den Begriff der „Herzensabtötung“. Abtötung rein um der Abtötung willen ist demnach falsch. Es kommt immer auf die innere Einstellung an, auf das Warum und Wozu. Nur so wird Abtötung auch zur Tugend. Dieses „Herz“, so Franz von Sales, soll ganz von Jesus Christus und seiner Botschaft durchdrungen sein. Wenn ich mich äußerlich abtöte, dann geschieht dies nur dann richtig, wenn dies aus Liebe zu Gott geschieht. Gott ist der Grund und das Ziel meines Lebens, daher auch Grund und Ziel dafür, dass ich die Tugend der Abtötung übe und meine Bedürfnisse nicht uferlos zu befriedigen versuche. Das heißt: Immer dann, wenn ich mich entscheide, auf etwas zu verzichten, soll der Grund dieser Entscheidung Gott sein. In der Rede Jesu über das Fasten, Beten und Almosengeben (Mt 6,1-18) kommt das deutlich zum Ausdruck, wenn Jesus dazu auffordert, diese Dinge nicht an die große Glocke zu hängen, sondern im stillen Kämmerlein zu praktizieren, denn Gott sieht auch das Verborgene und für ihn und nicht für die anderen wollen wir uns abtöten. Voraussetzung für echte Abtötung im christlichen Sinne ist demnach die Grundentscheidung, dass Gott Fundament und Ziel meines Lebens ist.
Franz von Sales nennt auch einige konkrete Beispiele äußerlicher Abtötung, wobei er stets vor Übertreibung warnt. Ein besonders schönes Beispiel betrifft das Essen bzw. das Fasten, weil darin sowohl die falschen Übertreibungen der Abtötung angeprangert, jedoch auch der Sinn guter Abtötung erkennbar wird: „Der Hirsch kann schlecht laufen“, schreibt Franz von Sales, „wenn er zu feist und wenn er zu mager ist. So sind auch wir starken Versuchungen ausgesetzt, wenn unser Leib zu gut genährt oder wenn er ermattet ist. Im ersten Fall wird er in seiner Üppigkeit frech, im zweiten versagt er aus Schwäche. Wie wir ihn schwer tragen können, wenn er zu fett ist, so kann er uns nicht tragen, wenn er geschwächt ist. Die Maßlosigkeit im Fasten, Geißeln, im Tragen des Bußgürtels und anderen Kasteiungen macht bei vielen die besten Jahre unfruchtbar für den Dienst der Liebe, wie es beim hl. Bernhard geschah, der es bereute, sich zu viel kasteit zu haben. Weil sie ihren Leib früher misshandelt haben, müssen sie ihm später schmeicheln. Hätten sie nicht besser daran getan, ihn stets gleichmäßig zu behandeln, entsprechend den Aufgaben und Arbeiten, zu denen ihr Stand sie verpflichtet?“ Der Mittelweg der Abtötung ist also nicht nur der beste, sondern auch der einzige, der von Gott gewollt ist.
Ein wichtiger Ratschlag zum Schluss: Wer es einmal nicht geschafft hat, den Mittelweg der Abtötung zu gehen, tut schlecht daran, sich dafür noch mehr zu bestrafen. Franz von Sales rät in diesem Fall, einfach wieder neu zu beginnen: „Wir müssen daran denken, dass wir jeden Tag mit unserem Fortschritt oder unserer Vervollkommnung wieder zu beginnen haben ... Man muss immer wieder beginnen und zwar gerne immer wieder beginnen.“ (DASal 5,272)
Herbert Winklehner OSFS