die Tugend, die Liebe konkret werden lässt
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Im Jahr 2000 traf Papst Johannes Paul II. (1920-2005) eine Entscheidung, die unsere Aufmerksamkeit wenigstens einmal im Jahr verstärkt der göttlichen Barmherzigkeit zuwendet. Er führte aufgrund einer Vision der heiligen Faustyna Kowalska (1905-1938), einer polnischen Ordensfrau, den „Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit“ ein. Dieser Tag wird seither am ersten Sonntag nach Ostern, dem „Weißen Sonntag“, gefeiert, an dem nach alter christlicher Tradition die in der Osternacht Getauften in ihren weißen Taufkleidern am Gottesdienst teilnehmen. Seit 2000 werden wir also an diesem Sonntag daran erinnert, dass Gott ein barmherziger Gott ist und möchte, dass auch wir barmherzig sind wie er.
Das Evangelium, das an diesem ersten Sonntag nach Ostern vorgelesen wird, gibt uns einen Einblick davon, was diese göttliche Barmherzigkeit bedeutet. Es ist die Erzählung vom „ungläubigen Apostel Thomas“ (Joh 20,24-29), der klarstellt: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht“ (V. 25).
Wie geht Jesus mit diesem Zweifel und Unglauben eines seiner Jünger um? Er kommt noch einmal in den Abendmahlssaal und seine erste Botschaft ist nicht ein zorniges Donnerwetter, sondern: „Friede sei mit euch“ (V. 26).
Auch danach kommt keine Strafpredigt gegen den Ungläubigen, sondern Jesus geht mit Thomas äußerst verständnisvoll – also barmherzig – um: „Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (V. 27). Jesus fügt jedoch hinzu, dass jene selig sind, die glauben, ohne zu sehen.
Der heilige Franz von Sales, für den die Barmherzigkeit Gottes ein ganz zentrales Element seines Gottesbildes war – des Gottes, der die Liebe ist (1 Joh 4,8) –, fasste in einer Predigt über den heiligen Apostel Thomas diese Ostererzählung so zusammen: „Unser Herr kam in seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit ein zweites Mal einzig des heiligen Thomas wegen. Damit gibt er uns eine Probe der Milde, mit der er die Sünder behandelt; er hat ja zwei Arme: der eine ist seine allmächtige, unparteiische Gerechtigkeit, der andere seine Barmherzigkeit, den er über den der Gerechtigkeit erhebt“ ((DASal 9,461).
Was erfahren wir aus dieser biblischen Erzählung von Gott? Der barmherzige Gott wendet sich allen Menschen, selbst den Ungläubigen und den Zweiflern, mit Verständnis und Liebe zu, damit sie an ihn und seine Liebe glauben können, auch wenn es natürlich besser wäre, Gott vorbehaltloses Vertrauen entgegen zu bringen. Gott aber kennt unsere Zweifel, unsere Schwächen, unsere Fehler, unseren Unglauben – und er hat Verständnis dafür, weil er uns liebt. Sein Arm der Barmherzigkeit erhebt sich über den seiner Gerechtigkeit.
Das ist die frohe Botschaft dieses Sonntags der göttlichen Barmherzigkeit und bringt auf den Punkt, wovon die Bibel übervoll ist: Gott ist ein barmherziger Gott, voll Langmut und reich an Erbarmen. Gott ist nicht gekommen, um zu strafen, zu richten, zu verdammen ... er wendet sich vielmehr allen Menschen zu jeder Zeit mit all seiner Barmherzigkeit zu, damit alle Menschen gerettet werden. „Ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten“, sagt Jesus, „sondern um sie zu retten“ (Joh 12,47). Und: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 11,13; 14,7).
Der heilige Franz von Sales beschreibt diese Barmherzigkeit Gottes sehr schön in seinem Buch „Theotimus – Abhandlung über die Gottesliebe“. Er findet dabei folgende Worte: „Nichts also unterlässt dieser göttliche Erlöser, um uns zu offenbaren, dass seine Erbarmungen noch über seine Werke gehen (Ps 145,9), dass seine Barmherzigkeit weiter reicht als seine Gerichte (Jak 2,13), dass seine Erlösung überreich (Ps 130,7), seine Liebe unendlich ist; dass er, wie der Apostel (1 Tim 2,4) sagt, reich an Erbarmen ist und daher will, dass alle Menschen selig werden und keiner verloren gehe“ (Theotimus II,8; DASal 3,120).
Weil Gott zu uns barmherzig ist, darum ist es nur konsequent, dass auch wir zu uns selbst und zu den Anderen barmherzig sein sollen. „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“, sagt Jesus (Lk 6,36). Im Matthäusevangelium erzählt er das Gleichnis vom „unbarmherzigen Gläubiger“ (Mt 18,23-35). Dieser erfleht beim König den Erlass all seiner großen Schulden („zehntausend Talente“). Wenig später aber bleibt er jenem, der bei ihm nur eine geringe Schuld hat („hundert Denare“), unbarmherzig und lässt diesen sogar ins Gefängnis werfen, weil er seine kleine Schuld nicht begleichen kann. Als der König von diesem Vorfall erfährt, lässt er den Gläubiger zu sich rufen und sagt: „Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte? Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe.“ Und Jesus schließt seine Erzählung mit den Worten: „Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt“ (V. 32-35).
Bei der Tugend der Barmherzigkeit geht es aber nicht nur darum, dass wir andere genauso behandeln, wie Gott uns behandelt, sondern es geht um mehr. Davon berichtet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-37). In diesem Gleichnis wird ein Mann von Räubern überfallen. Er liegt halb tot am Boden. Ein Priester und ein Levit sehen ihn und gehen weiter. Erst der Samariter zeigt Barmherzigkeit. Und wie sieht diese Barmherzigkeit konkret aus? „Als [der Samariter] ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn“ (V. 33-34). Und der Samariter tut noch mehr: „Am anderen Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“ (V. 35).
Die Not des Anderen sehen und dagegen etwas unternehmen, selbst dann, wenn man zur Hilfe gar nicht verpflichtet ist, das ist die höchste Stufe der Barmherzigkeit. Der Barmherzige hat nicht nur Erbarmen mit den Fehlern und Schwächen des Anderen, weil auch Gott mit ihm Erbarmen hat, er hat auch Mitleid, hilft und lindert die Not des Anderen, und je mehr er dies tut, als umso barmherziger erweist er sich.
Franz von Sales schreibt davon im „Theotimus – Abhandlung über die Gottesliebe“ und weist darauf hin, dass der Ursprung dieser mitleidenden Barmherzigkeit in der Liebe liegt: „Mitleiden, Teilnahme am Leiden, Mitfühlen und Erbarmen, das alles ist nichts anderes als eine Gemütsregung, die uns teilhaben lässt an dem Leiden und dem Schmerz dessen, den wir lieben, indem sie die Not, die er leidet, in unser Herz zieht. Daher nennt man sie Barmherzigkeit, wie wenn man sagen möchte, dass das, was Erbarmen erregt, in unseren Herzen ist ... Die Liebe ist es, welche die eine und die andere Wirkung hervorbringt durch die Kraft, die sie besitzt, das liebende Herz mit dem Gegenstand der Liebe zu vereinigen. Auf diese Weise macht sie Gutes und Böses der Freunde zum gemeinsamen Besitz ... Die Größe des Mitleidens hängt von der Größe der Liebe, ihres Ursprungs ab“ (Theotimus V,4; DASal 3,244).
Aus dieser Sicht entstanden die Werke der Barmherzigkeit als konkrete Umsetzungen der Liebe zu Gott, zu den Menschen und zu mir selbst. Sie entstammen der Schilderung Jesu vom Weltgericht aus dem Matthäusevangelium (25,31-46). Die entscheidende Erkenntnis dieser Schilderung ist, dass es Gott selbst ist, dem wir im notleidenden Anderen begegnen, dem wir mit unserem barmherzigen Handeln helfen oder eben nicht: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt / nicht getan habt, das habt ihr mir getan / nicht getan“ (V. 40 / 45). Auf keine andere Weise kann ich daher besser auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes konkret Antwort geben, als wenn ich den unterschiedlichsten Nöten meiner Mitmenschen mit Solidarität und Hilfsbereitschaft begegne.
In der christlichen Tradition kennt man sieben leibliche Werke der Barmherzigkeit (Hungrige speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke besuchen, Gefangene besuchen, Tote begraben) und sieben geistige Werke der Barmherzigkeit (Unwissende lehren, Zweifelnden recht raten, Betrübte trösten, Sünder zurechtweisen, Lästige geduldig ertragen, denen, die uns beleidigen, gerne verzeihen, für die Lebenden und die Toten beten).
Diese Werke der Barmherzigkeit sind allerdings nicht nur konkrete Antworten auf die große Güte Gottes zu uns Menschen, hinter diesen Werken steckt auch eine gehörige Portion politischer Sprengkraft. Diese Werke der Barmherzigkeit sind in jeder Gesellschaft das Maß, an dem sich ihr soziales Handeln zu messen hat. Nicht einmal ein moderner Sozialstaat mit einem abgesicherten sozialen Netz kommt ohne diese Werke der Barmherzigkeit aus, denn nur die Barmherzigkeit erblickt hinter jeder noch so gut gesicherten sozialen Gerechtigkeit die Not jener, die selbst beim besten Sozial-, Kranken- oder Pflegeversicherungssystem durch den Rost fallen. Für diese Ärmsten wirken die Werke der Barmherzigkeit wie ein Stachel im Fleisch der sozialen Gerechtigkeit.
Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann sagte daher einmal in einem Zeitungsinterview:
„Es braucht die Barmherzigkeit auch als einen Stachel, als einen Antrieb für alle Gerechtigkeit, damit wir überhaupt in unseren Herzen gerührt werden; damit wir wahrnehmen können, dass ein anderer leidet, damit wir in und durch Solidarität mit ihm sehen, was ist.“
Politisch helfen die Werke der Barmherzigkeit also zu noch mehr Solidarität mit den Armen, theologisch helfen sie jedem zur Seligkeit. Jesus Christus jedenfalls sagt in seiner Bergpredigt klar, dass barmherziges Handeln auch zum eigenen Nutzen geschieht: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ (Mt 5,7). Und für Franz von Sales sind die Werke der Barmherzigkeit ein Mittel Gottes, „damit er Gelegenheit findet, uns Gutes zu tun“ (DASal 9,48).
Aber nicht nur den anderen gegenüber sollen wir Barmherzigkeit üben, sondern auch uns selbst gegenüber. Und das ist gar nicht so einfach: sich selbst verzeihen, Erbarmen haben mit den eigenen Fehlern, Schwächen und Sünden. Schon gar nicht sollen wir meinen, unsere Sünden wären so groß, dass Gott diesen gegenüber kein Erbarmen mehr zeigen könnte. Damit würden wir die unendliche Größe der Liebe und Barmherzigkeit Gottes nur kleiner machen als uns selbst.
Das Gleichnis vom „barmherzigen Vater“ oder vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15,11-32) macht uns deutlich, dass wir immer umkehren können, egal wie tief wir schon gesunken sind. Ebenso der Umgang, den Jesus mit schweren Sündern und Ausgestoßenen pflegte: die Ehebrecher, die Huren, die Blutsauger oder die Ungläubigen und Gesetzesübertreter. Und all jenen, die diese Barmherzigkeit Jesu als ungerecht empfinden, ruft er zu: „Bist du neidisch, weil ich zu anderen gütig bin?“ (Mt 20,15).
Selbst jene, die Jesus Christus verurteilt, angespuckt, gefoltert und getötet haben, erfahren Barmherzigkeit: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Und der Mörder, der neben Jesus am Kreuz hängt, hört die Botschaft: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).
Man könnte meinen, dass in dieser unendlich großen Barmherzigkeit Gottes allein der Verrat des Judas Ischariot keinen Platz hatte, weil Judas sich erhängte (Mt 27,5). Aber das stimmt nicht. Judas wurde von Gott nicht gerichtet, er richtete sich selbst, weil er meinte, sein Verrat wäre so abscheulich und groß, dass ihm nicht verziehen werden könnte. Und nirgends in der Bibel steht, dass Judas vor Gott kein Erbarmen gefunden hätte.
Jemand, der mit seiner dreifachen Verleugnung eine gleich schwere Sünde wie Judas Iskariot beging, war Petrus. Dieser jedoch reagierte ganz anders. Wie Judas ging er hinaus aus der Stadt, aber nicht, um sich zu erhängen, sondern um bitterlich zu weinen (Lk 22,62). Er bereute seinen dreimaligen Verrat an Jesus und hoffte auf dessen Barmherzigkeit, die ihm dann auch im überreichen Maß geschenkt wurde. Die einzige „Strafe“, die Petrus von Jesus erhielt, war dessen dreimalige Frage: „Liebst du mich?“ (vgl. Joh 21,15-17). Und nachdem Petrus diese Frage dreimal mit Ja beantwortete, wurde er als Oberhaupt der Kirche bestätigt: „Weide meine Schafe!“ (V. 17).
Der heilige Franz von Sales liefert dazu einen interessanten Aspekt, der noch einmal deutlich macht, wie wichtig es Gott ist, dass wir alle, selbst die Oberhäupter unserer Gesellschaft, barmherzig sind. Über Petrus meinte er nämlich in einer Predigt:
„Petrus war etwas zu hart und zu streng. Christus ließ also seinen Fall [die dreimalige Verleugnung] zu, damit er aus dem, was er gelitten, Gehorsam lernte und Milde gegen die Sünder (Hebr 5,8) ... wer selbst der Buße bedurfte, gewährt anderen leichter Vergebung“ (DASal 9,186).
Am Fall Petrus können wir sehr schön erkennen, dass die Tugend der Barmherzigkeit so wie jede andere Tugend auch nichts anderes ist als die konkrete Umsetzung der Liebe, die Gott ist (1 Joh 4,8). An der Tugend der Barmherzigkeit wird das in jeder Variation offensichtlich. Gottes Barmherzigkeit zu uns Menschen, egal wie groß unsere Fehler sind, ist die konkrete Umsetzung seiner Liebe zu uns. Unsere Barmherzigkeit zu den Menschen und zu uns selbst ist die konkrete Umsetzung des Gebotes der Nächsten- und Selbstliebe – und unsere Barmherzigkeit mit Gott ist die konkrete Umsetzung unserer Liebe zu Ihm. Denn auch das ist in der Tugend der Barmherzigkeit inbegriffen, dass wir mit Gott barmherzig sind, wenn wir einmal seine Entscheidungen in unserem Leben nicht verstehen.
Franz von Sales bringt in der „Philothea – Anleitung zum frommen Leben“ eine sehr schöne Erzählung über den heiligen Johannes von Alexandria (550-619), die uns deutlich macht, dass Barmherzigkeit und Liebe engstens miteinander verbunden sind:
„Dem heiligen Bischof Johannes von Alexandria erschien ein schönes Mädchen, glänzender als die Sonne, königlich geschmückt, mit einem Kranz von Olivenzweigen gekrönt, und sagte: ‚lch bin die älteste Tochter des Königs; wählst du mich zur Freundin, dann führe ich dich zu ihm.’ Er verstand, dass es die Barmherzigkeit gegen die Armen war, die Gott ihm empfahl, und gab sich dieser Tugend in einem Maß hin, dass er der ‚Almosenspender’ genannt wird“ (Philothea III,1; DASal 1,108).
Die Barmherzigkeit ist also die „älteste Tochter“ der Liebe, „ein schönes Mädchen, glänzender als die Sonne“. Und zur Barmherzigkeit gegenüber uns selbst ermutigt uns Franz von Sales mit den Worten: „Der Grund zum Vertrauen liegt ja in ihm [Gott], nicht in uns; wenn wir uns auch ändern, er ändert sich nie und ist immer gleich gut und barmherzig mit uns, ob wir schwach und unvollkommen oder stark und vollkommen sind. Ich pflege zu sagen: unsere Armseligkeit ist der Thron der göttlichen Barmherzigkeit“ (DASal 2,42). Oder noch eindeutiger: „Gottes Barmherzigkeit wurde durch die Sünde Adams nicht besiegt – im Gegenteil! Sie wurde nur um so mehr herausgefordert“ (Theotimus II,5; DASal 3,112).
Lassen auch wir uns zur Tugend der Barmherzigkeit, der Tugend der konkreten Liebe, herausfordern.
Herbert Winklehner OSFS