Von klein auf ist uns das Vaterunser in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist die Antwort Jesu Christi auf die Frage, wie wir beten sollen. Das Gebet des Herrn hatte damit einen vorrangigen Stellenwert unter den Gebeten der Christenheit von Anfang an. Wir beten es sehr oft und sehr oft beten wir es mehr oder weniger gedankenlos. Es kommt uns einfach über die Lippen, ohne viel darüber nachzudenken, was wir denn da eigentlich genau beten. Ein Satz des Vaterunsers macht uns das besonders deutlich: „Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Einfach so dahingebetet ist das kein Problem. Schwierig wird es erst, wenn Gott uns beim Wort nimmt. Wenn er tatsächlich einmal etwas tut, was wir gar nicht wollen. Und das kommt in unserem Leben eigentlich öfters vor als wir vielleicht meinen. Vor allem, wenn Ereignisse unseres Lebens, die wir nicht wollten, mit Leid und Schmerz zu tun haben, entsteht sehr leicht die Frage nach dem Warum: Warum kann Gott so etwas zulassen, so etwas wollen? Er ist doch der Gott der Liebe. Hier wird unser Glaube zum Ernstfall und zur konkreten Herausforderung. Bin ich auch dann bereit, Ja zum Willen Gottes zu sagen, wenn mir dieser Wille gegen den Strich geht?
Louis Brisson ist ein Beispiel dafür, dass im Leben nicht alles genauso läuft, wie ich das gerne hätte. Und er ist ein Beispiel für einen Menschen, der sich dem Willen Gottes gebeugt hat, auch wenns ihm durchaus schwer fiel. Eine Biografie über ihn trägt den bezeichnenden Titel „Werkzeug der Vorsehung“. Genauso könnte man tatsächlich die Überschrift über sein Leben formulieren. Louis Brisson hat auf unterschiedlichste Weise erkannt, dass Gott sein Leben lenkt, dass dies nicht immer so geschah, wie er sich das vorstellte, dass er selbst ein Werkzeug ist, dessen sich Gott bedient, um seinen Willen in dieser Welt zu verwirklichen, und er hat erkannt, dass es trotz allem, trotz mancher Leiden und Schmerzen, die damit verbunden sind, gut und richtig ist, sich Gott und seinem Willen anzuvertrauen.
Den Oblaten des hl. Franz von Sales sagte er einmal: „Der hl. Franz von Sales bekannte sich nicht ausschließlich zur Buße, Predigttätigkeit oder Armut, sondern zur völligen Hingabe an den Willen Gottes. Nicht ‚Alles zur größeren Ehre Gottes’ war seine Devise, sondern: ‚Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden’. Das ist die Quintessenz seines Geistes, ist das Ziel, das wir erreichen müssen.“ Wie hat nun Louis Brisson den Willen Gottes konkret kennengelernt und in sein Leben übersetzt? Folgende Beispiele können uns anregen, selbst ein wenig darüber nachzudenken, wie Gott in meinem Leben wirkt und wie ich mit dieser Vaterunser-Bitte „Dein Wille geschehe“ umgehe.
Gottes Wille: Die Gründung der Oblaten
Louis Brisson war überhaupt nicht darauf vorbereitet, als er von der Heimsuchungsschwester Maria Salesia Chappuis darauf hingewiesen wurde, dass er derjenige Priester sei, den sich Gott dazu auserwählte, eine männliche Ordensgemeinschaft zu gründen, die das Leben und Werk des heiligen Franz von Sales in dieser Welt lebendig halten soll. Brisson hat das zunächst für das Hirngespinst einer frommen Frau gehalten, das man nicht ernst nehmen braucht, nicht einmal als unerklärliche Wunder geschahen. „Ich will nicht“, sagte Brisson am 25. Februar 1845, „nicht einmal dann, wenn mir Jesus Christus persönlich erscheinen würde.“ Ein bisschen erinnert diese Szene an den Apostel Thomas, der auch nicht an die Auferstehung glauben wollte, solange ihm Jesus nicht selbst dafür den Beweis liefert. Brisson selbst bekannte dann viele Jahre später, dass genau das wirklich eingetreten ist. Er sah Jesus Christus vor sich stehen und ihn mit strenger Miene anschauen. Es ist nicht so entscheidend, ob dieses Wunder tatsächlich geschah oder nicht, viel entscheidender ist, dass sich Brisson ab diesem Tag einverstanden erklärte, diesen Willen Gottes in seinem Leben zu erfüllen. Zehn Jahre vor seinem Tod wird Louis Brisson sagen:
„Mutter Chantal bat den hl. Franz von Sales, ein Priesterwerk ins Leben zu rufen: Bilden Sie doch Priester aus, die so sind wie Sie und die Ihren Geist bewahren. Dreihundert Jahre später sind wir gekommen, um diese Erbschaft anzutreten. Und wir sind genau zur richtigen Stunde gekommen.“
Gottes Wille: Die Zeichen der Zeit
Der Wille Gottes zeigt sich nicht nur in außergewöhnlichen Zeichen und Wundern. Viel mehr äußert er sich in den kleinen Dingen des Lebens, in den sogenannten „Zeichen der Zeit“. Diese Zeichen entdeckte Louis Brisson in der Arbeiterjugend, der er in seiner Stadt Troyes begegnete. Viele Jugendliche kamen damals vom Land in die Stadt, um in den dort neu entstehenden Fabriken Arbeit zu finden. Viele von ihnen, besonders die jungen Frauen, hatten allerdings kaum eine ordentliche Bleibe. Louis Brisson erkannte, dass Gott will, dass die Kirche sich genau hier auf besondere Weise engagiert. Er baute eine Reihe von Heimen, in denen die Arbeitermädchen nicht nur wohnen, sondern auch religiöse Bildung und Erziehung erhalten konnten. Auch dieses Ja zum Willen Gottes führte zu einer Ordensgründung: die Oblatinnen des hl. Franz von Sales, die Brisson zusammen mit der heiligen Leonie Franziska Salesia Aviat ins Leben rief. Später wird Brisson einmal sagen: „Wir sind heute für eine wichtige Mission auf dem Gebiet der Arbeit bestimmt, um den Arbeitern nahe zu sein und einen heilsamen Einfluss auf sie auszuüben.“
Gottes Wille: Meine Talente
Louis Brissons Hobby war die Naturwissenschaft und Technik. Sie faszinierte ihn nicht nur, sondern er setzte sie auch praktisch um. Er machte Erfindungen und konstruierte und baute viele seiner Gebäude selbst. Der Wille Gottes äußert sich auch in den Talenten und Fähigkeiten, die ich in mir entdecke. Diesem Willen Gottes hat sich Brisson sehr gerne gebeugt. Ein besonderes Meisterstück gelang ihm durch die Konstruktion einer astronomischen Uhr, die man noch heute im Kloster der Oblatinnen in Troyes bewundern kann. Sie hatte für Brissons sonstige Werke keinen sonderlichen Nutzen. Brisson selbst aber erkannte darin ein Bild des Wirkens Gottes in seiner Schöpfung. Er sagte: „Wisst ihr, warum ich diese Uhren mache? Weil sie ein Bildnis dessen wiedergeben, was Gott geschaffen hat. Je vollkommener das Uhrwerk, desto mehr ähnelt es der Schöpfung Gottes. Die Bewegungen der Erde und der Sterne bestimmen und begleiten unser Leben. Die Uhr tickt weiter, bis die Stunde angebrochen ist, in der wir diese Welt verlassen und in Gott aufgenommen werden, wo es keine Zeit mehr gibt. Ich arbeite gerne an einer solchen Uhr, für mich ist das entspannend und ich finde Gott darin wieder.“
Gottes Wille: Wenn alles verloren scheint
Das Leben Brissons dauerte über 90 Jahre. Die dunkelsten Stunden seines Lebens erlebte Brisson in seinen letzten 10 Lebensjahren. Die Kirchenfeindlichkeit des französischen Staates vernichtete sein gesamtes Werk, dass er in Frankreich aufgebaut hatte. Seine beiden Ordensgründungen wurden gesetzlich aufgehoben. Jedes Heim, jede Schule wurde entweder geschlossen oder ging in staatlichen Besitz über. Brisson musste miterleben, was auch schon im Buch Ijob zu lesen ist: „Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen, gepriesen sei der Name des Herrn.“ Kurz vor seinem Tod wurde sogar noch sein Haus, in das er sich zurückgezogen hatte, öffentlich versteigert. Im Wissen, dass ihm wirklich alles genommen wurde, starb er. Heute wissen wir, dass sein Werk eben nicht verlorengegangen ist, sondern in den Oblatinnen und Oblaten des heiligen Franz von Sales sowohl in Frankreich als auch in vielen anderen Ländern dieser Welt existiert. Wahrscheinlich hat er diese Herausforderung des Willens Gottes gespürt, als er seinen Mitbrüdern sagte: „Heute möchte ich euch ein Wort der Hoffnung und Unterstützung sagen: der Unterstützung für die Gegenwart und der Hoffnung für die Zukunft. Oft und oft hat mit Mutter Salesia beteuert: Wenn alles verloren scheint, wenn man das Unterste nach oben kehrt und jeder die Hoffnung schon aufgegeben hat, wird der Herr seine Macht und seinen Einfluss zeigen. Dann müsse es jedem klar werden, dass allein in seinen Händen die Entscheidung liegt und wir Menschen nichts vermögen.“
„Dein Wille Geschehe – wie im Himmel so auf Erden.“ Am Leben Louis Brisson wird deutlich, dass Gott in dieser Welt tatsächlich wirkt, auch wenn wir selbst das oft nicht sehen und vor allem nicht immer verstehen können. Louis Brisson aber war trotz allem davon überzeugt, dass wir nicht verloren gehen werden, wenn wir diesen Gott nicht aus den Augen verlieren – auch wenns drunter und drüber geht. Hier erwies er sich als wahrer Schüler des hl. Franz von Sales, der in seinem Buch Philothea seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass niemand verloren geht, der sich in allem an Gott und seinen liebenden Willen ausrichtet: „Mag das Schiff diesen oder jenen Kurs nehmen, mag es nach Westen oder Osten, nach Süden oder Norden streben, mag dieser oder jener Wind es treiben, die Kompassnadel wird doch stets nach Norden zeigen. Mag nicht nur um uns herum, sondern auch in uns alles drunter und drüber gehen, mag unsere Seele traurig oder vergnügt und fröhlich, verbittert und unruhig oder friedlich, im Licht oder in der Finsternis der Versuchung, mag sie ruhig und voll Freude oder voll Ekel sein, in Trockenheit oder Seligkeit, mag die Sonne sie versengen oder der Tau sie erfrischen: immer soll unser Herz, unser Geist und der höhere Wille gleich der Kompassnadel unablässig auf die Gottesliebe als ihr einziges und höchstes Gut schauen und ausgerichtet sein.“ (Philothea 4. Teil, 13. Kapitel; DASal 1,239)
Herbert Winklehner OSFS
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