Eine Tugend, die uns schwer fällt
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Als einer meiner Mitbrüder, der seit vielen Jahren als Priester in Indien lebt und arbeitet, wieder nach Deutschland kam, fragte ich ihn, was er denn bisher in Indien gelernt habe. Spontan meinte er: „Geduld!“ - Ich fragte nach dem Grund. Er antwortete: Die Inder haben einen völlig anderen Zeitbegriff als wir hier in Europa. Wenn sie „sofort“ sagen, dann meinen sie „morgen“. Sagen sie „morgen“, dann meinen sie „nächste Woche“ und wenn sie „nächste Woche“ sagen, dann meinen sie: „Vielleicht irgendwann einmal“. Ich kann mir vorstellen, dass das für jemanden, der es gewohnt ist, mit genauen Terminen zu arbeiten, und für den Zeit ein sehr kostbares Gut ist, ziemliche Probleme verursachen kann. Wir Europäer sind ja in diesem Punkt ganz besonders gefährdet. Geduld ist jedenfalls etwas, das uns sehr schwer fällt. Ein afrikanisches Sprichwort weiß jedenfalls: „Der Afrikaner hat die Zeit erfunden, der Europäer die Uhr“.
Dazu ein ganz konkretes Beispiel: Einmal setzten sich zwei Menschen in einem Gasthaus an einen Tisch ganz in meine Nähe. Mir fiel sofort ihre Unruhe auf. Kaum hatten sie Platz genommen, riefen sie schon nach dem Kellner. Ohne die Speisekarte anzuschauen, fragten sie nur: „Was geht schnell, wir haben keine Zeit!“ Der Kellner schien auf diese Frage gar nicht vorbereitet zu sein und konnte nicht auf Anhieb eine Antwort geben. „Wir wollen etwas, das sofort serviert werden kann,“ betonte einer der Gäste schon etwas verärgert. Der Kellner nannte eine Speise. „Ja, bringen Sie das zwei Mal, aber schnell“, war die Reaktion. Dann begann das große Warten. Es waren sicher noch keine drei Minuten vergangen, da wurde schon auf die Uhr geschaut. „Wo bleibt denn nur das Essen so lange! Wir haben doch extra gesagt, dass es schnell gehen muss. Was ist das hier für eine unfreundliche Bedienung? Dieses Gasthaus sieht uns nicht mehr!“ Als der Kellner die Getränke brachte, wurde darauf gedrängt, doch das Essen schleunigst zu bringen. Der Kellner verschwand mit den Worten: „Kommt sofort!“ - Nach zehn Minuten war jedoch die Geduld der Gäste zu Ende. Protestierend standen sie auf und verließen das Gastzimmer.
Vor allem die Menschen in Europa haben keine Zeit mehr. Ungeduldig rasen sie von einer Aktion zur anderen. Alles muss funktionieren und zwar möglichst sofort. Die Geduld bleibt auf der Strecke. Das Erlebnis aus dem Gasthaus ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass die Geduld für viele ein Fremdwort geworden ist. Weder mit den anderen, noch mit uns selbst haben wir Geduld. Und mit dem Fehlen der Geduld verschwindet auch etwas anderes, etwas sehr Wesentliches, nämlich die Liebe, denn - so lautet ein italienisches Sprichwort: „Die Liebe hat zwei Töchter, die Sanftmut und die Geduld.“
Geduld und Liebe gehören zusammen. Das ist auch die Lehre des hl. Franz von Sales. Der Ungeduldige ist lieblos und Lieblosigkeit beginnt mit der Ungeduld. Dem Bischof von Genf ist daher diese Tugend ganz besonders wichtig. Er möchte den Menschen den Weg der Liebe weisen. Seine Methode für diesen Weg ist der „Weg der kleinen Schritte“. Die Menschen, die Franz von Sales begleitete, wollten immer möglichst rasch vollkommen werden. Beharrlich mahnte er diese jedoch zur Geduld. Hast und Eile vergrößern nur die Gefahr, dass man auf dem Weg zur Liebe stolpert, das geduldige Vorangehen im Vertrauen auf Gottes Führung bringt uns jedoch sicher ans Ziel ... und ist, nach Franz von Sales auch mehr Wert. Jedenfalls meinte er einmal, dass die Kirschen zwar die schnellsten Früchte hervorbringen, die aber ebenso schnell faulig werden können. Die Palme jedoch, die Königin unter den Bäumen, braucht für die ersten Früchte bis zu hundert Jahre.
Gott belohnt den Geduldigen, der Schritt für Schritt seinen Weg geht. Gott weiß um unsere Langsamkeit und fordert nicht, dass wir schneller werden, sondern Schritt für Schritt weitergehen. Gott hat Geduld mit uns Menschen. Es kommt ihm nicht auf unsere Geschwindigkeit an, sondern darauf, dass wir uns für ihn entscheiden, dass wir den Weg seiner Nachfolge gehen und nicht aufgeben oder mutlos werden, wenn auf diesem Weg nicht immer sofort alles funktioniert.
Franz von Sales sagt daher: „Wisse, dass die Geduld die Tugend ist, die dich am meisten zur Vollkommenheit erhebt. Ich meine nicht die Geduld mit den anderen, sondern die Geduld mit dir selbst. Denn wer in der reinen Liebe zu Gott aufgehen will, der bedarf nicht so sehr der Geduld mit anderen, als der Geduld mit sich selbst. Deine Unvollkommenheiten musst du ertragen, wenn du vollkommen werden willst; musst sie ertragen in Geduld.“
Jesus Christus erzählt uns im Evangelium ein schönes Gleichnis, das uns diese Tugend Geduld sehr gut veranschaulicht. Es ist das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26-29):
„Jesus sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre. Sobald aber die Frucht reif ist, legt er die Sichel an; denn die Zeit der Ernte ist da.“
Worauf kommt es in diesem Gleichnis an? Das Wichtigste ist, dass der Sämann auf seinen Acker geht und sät. Für das Wachsen der Saat braucht er sich keine Gedanken zu machen. Der Sämann darf sich sogar niederlegen und schlafen. Die Zeit nimmt seinen Lauf. Es wird Nacht und Tag. Der Sämann schläft und steht wieder auf. Nichts bringt ihn aus der Ruhe. Die Saat wächst von selbst und zwar ebenso Schritt für Schritt und in aller Geduld: zuerst wächst der Halm, dann die Ähre und dann das volle Korn in der Ähre. Erst wenn die Frucht wirklich reif ist, ist die Zeit der Ernte da. Jesus sagt also nichts von Geschäftigkeit und Hektik. Er fordert nicht zur rastlosen Aktivität auf, sondern zur Geduld. Alles hat seine Zeit: Es gibt eine Zeit des Säen, eine Zeit des Wachsens und schließlich eine Zeit des Erntens. Der Sämann hat nur den Anfang zu machen. Er muss den Samen in die Erde legen. Dann hat er nur noch die Aufgabe in aller Geduld zu warten.
Um diese Geduld zu lernen, braucht es natürlich ein ganz besonders tiefes Vertrauen in unseren Schöpfer, der Wachsen lässt. Es ist also notwendig, unsere Beziehung zu Gott wirklich zu pflegen, vor allem durch Gebet, Gottesdienst, dem Lesen der Bibel. Dort erfahre ich ja, dass Gott sich der Menschen annimmt und sie nicht im Stich lässt. Im ständigen Umgang mit Gott wird mir deutlich, dass Vieles auch dann gut und richtig ist, wenn es mir selbst nicht schnell genug oder sogar ganz und gar gegen den Strich geht. Mir werden meine Ziele klarer, die Gott für mich vorgesehen hat, Ziele allerdings, die ich nicht von Heute auf Morgen erreichen werde, sondern zu denen ich unterwegs bin, Schritt für Schritt, mit Geduld und Ausdauer, so wie die selbstwachsende Saat, die ihre Zeit braucht, um reif zu werden.
Der Christ, der sich ganz in der Gegenwart Gottes geborgen weiß, hat also sehr viel Geduld, mit sich selbst, mit den Mitmenschen und natürlich auch mit Gott, dessen Wille nicht immer zu verstehen ist.
Herbert Winklehner OSFS