die Tugend, die dem Wohl des Menschen dient
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Ihre Augen sind verbunden, in der einen Hand hält sie eine Waagschale, in der anderen ein Schwert. So wird sie gewöhnlich dargestellt: die Iustitia oder Gerechtigkeit. Diese Tugend zählt neben der Klugheit, der Tapferkeit und dem Maßhalten nach alter klassisch-philosophischer Tradition zu den so genannten „Kardinaltugenden“. Die Gerechtigkeit steht somit in der Hierarchie der Tugenden ganz oben. Aus christlicher Sicht werden die Kardinaltugenden nur noch von den göttlichen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe überflügelt.
Was verbinden wir gewöhnlich mit dem Begriff „Gerechtigkeit“. Wir denken an Gesetz und Ordnung. Untaten werden bestraft, gute Taten belohnt. Wir denken an Chancengleichheit, Gleichberechtigung und den gerechten Lohn, der sich in der Gesetzgebung in der so genannten „sozialen Gerechtigkeit“ niedergeschlagen hat. Wir denken an die Menschenrechte und an das gleiche Recht für alle, an den Schutz der Minderheiten oder der Schwachen gegenüber den Starken und Mächtigen.
Schon in der klassischen Darstellung der Iustitia-Statue sehen wir, dass die Menschen, die über Gerechtigkeit nachdachten, auf Schwierigkeiten stießen, diese Gerechtigkeit in die Praxis umzusetzen. Sie bemerkten: Es braucht dazu das Schwert – es geht also um so etwas wie Bestrafung, wenn Böses getan oder Gesetze übertreten werden. Es braucht aber auch die Waagschale – das Erlangen eines Gleichgewichtes im Ermessen des richtigen Lohn- oder Strafausmaßes. Ein fünfjähriges Kind, das stiehlt, muss um der Gerechtigkeit willen anders behandelt werden, als ein 50-jähriger Erwachsener. Um wirklich gerecht sein zu können, so zeigt das Bild der Statue, bedarf es dazu der „verbundenen Augen“, also einer Rechtssprechung und eines gerechten Urteils ohne Einflussnahme von Außen und ohne Vorurteile von Innen. Vor dem Gesetz sind alle gleich, es gibt keinen Unterschied zwischen arm oder reich, Schwarz oder Weiß, jung oder alt, Mann oder Frau, gläubig oder ungläubig.
In der Bibel wird das Bild der Gerechtigkeit um einen wesentlichen Aspekt bereichert. Es geht nicht zuerst um ein unparteiisches Urteilen und Handeln, sondern um das Leben und Handeln gemäß dem Willen Gottes: „Nur dann werden wir (vor Gott) im Recht sein, wenn wir darauf achten, dieses ganze Gesetz vor dem Herrn, unserem Gott, so zu halten, wie er es uns zur Pflicht gemacht hat“ (Dtn 6,25).
Der „Gerechte“ stellt in der Bibel jemanden dar, der sein ganzes Leben an Gott und seine Weisungen orientiert (Ps 7,10) und über alle Gesetze hinaus durch seine Weisheit und Gottesfurcht einen wesentlichen Beitrag zum Wohl des Menschen leistet. Tut er dies nicht, wird seine Gerechtigkeit zu einem „schmutzigen Kleid“ (Jes 64,5). Die zum Sprichwort gewordenen Urteile König Salomos, der sich von Gott Weisheit erbat, um stets zum Wohle der Menschen entscheiden zu können, sind ein Beispiel dieser biblischen Gerechtigkeit (1 Kön 3,5-28): „Ganz Israel hörte von dem Urteil, das der König gefällt hatte, und sie schauten mit Ehrfurcht zu ihm auf; denn sie erkannten, dass die Weisheit Gottes in ihm war, wenn er Recht sprach“ (V. 28).
Für uns Christen ist natürlich Jesus Christus das Muster eines Gerechten, weil er nicht nur ganz nach dem Willen Gottes lebte („Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ Joh 4,34) und somit das Gesetz erfüllte („Denkt nicht ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen“ Mt 5,17), sondern vor allem, weil er durch sein Leiden und Kreuz den Menschen erlöste. Zu beachten ist, dass all das oftmals dadurch geschah, dass er den Buchstaben des Gesetzes missachtete. Es gibt viele Beispiele, in denen Jesus gerade deshalb „gerecht“ ist, weil er nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes, sondern zum Wohle des Menschen handelte (Z. B. Ähren abreißen am Sabbat Mt 12,1-8; Heilungen am Sabbat Lk 6,6-11 od. Lk 13,10-17 od. Lk 14,1-6). Seine Devise lautete: „Der Sabbat (also ein unantastbares Tabu jüdischer Gesetzgebung) ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Aufgrund dieser Haltung kam er selbst mit dem Buchstaben des Gesetzes in Konflikt und wurde gerade deshalb getötet, weil er gerecht war („Denn auch Christus ist der Sünden wegen ein einziges Mal gestorben, er, der Gerechte, für die Ungerechten, um euch zu Gott hinzuführen.“ 1 Petr 3,18).
In der christlichen Theologie gilt also: Wirklich gerecht kann nur sein, wer nicht nur alle Gebote, Gesetze und Vorschriften kennt und beachtet, sondern über und in all dem die Liebe mit einbezieht. Gerechtigkeit – das Wissen um Gesetze und Gebote – und Barmherzigkeit – der Blick auf das Wohl des Menschen – gehören in der christlichen Tugendlehre von der Gerechtigkeit zusammen. Dies gilt für Gott selbst: Er, der All-Gerechte, ist deshalb die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3,20), weil er ebenso all-barmherzig ist, und wahrscheinlich vor allem deshalb, weil seine Barmherzigkeit größer ist als seine Gerechtigkeit.
Ein Beispiel dafür ist das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn oder besser vom barmherzigen Vater (Lk 15,11-32). Der barmherzige Vater hätte alles Recht der Welt, seinen Sohn, der in der Fremde sein Erbteil verprasste, zum Teufel zu jagen … und wir selbst wären darüber gar nicht so ungehalten. Dennoch lebt dieses Gleichnis von der Barmherzigkeit des Vaters, der seinen verlorenen Sohn nicht nur nicht bestraft, sondern mit Schmuck, Kleidern und einem Festmahl belohnt. Der Ungerechte ist nicht der barmherzige Vater, sondern der Bruder, der nur auf die Gerechtigkeit blickt, ohne barmherzig sein zu wollen.
Oder ein anderes Gleichnis Jesu, das uns immer wieder zum Protest verleitet: das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16). Alle Arbeiter erhalten den gleichen Lohn … jene, die den ganzen Tag gearbeitet hatten, bekommen genauso viel wie die, die nur eine Stunde lang Reben sammelten. Welch Ungerechtigkeit murrten die Arbeiter, doch der Gutsbesitzer weist einen davon zurecht: „Mein Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder bist du neidisch, weil ich (zu anderen) gütig bin?“ (VV 13-15). Der Gutsbesitzer hat eben den wahren Blick für gerechtes Handeln – er vereint Gerechtigkeit mit Güte und Barmherzigkeit.
Es geht weder darum, die Gesetze und Vorschriften auszuhöhlen oder zu unterwandern, auch nicht sie zu missachten oder gar aufzulösen, sondern sie zu erfüllen. Und erfüllt werden sie, wenn die Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit gepaart ist – wie es eben Jesus Christus nach dem Vorbild seines Vaters getan hat.
So formuliert es auch der heilige Kirchenlehrer Franz von Sales (1567-1622): Der allgerechte Gott hätte alles Recht der Welt, die gesamte Menschheit, die andauernd seine Gebote und Gesetze missachtet, in die Hölle zu verbannen. Seine Barmherzigkeit aber hat sich für die Erlösung durch Jesus Christus entschieden. Er, der Gerechteste aller Menschen, nahm alle Sünden auf sich und lässt sich als Schwerverbrecher verurteilen, damit die wahre Gerechtigkeit auf der Welt siegt. Aufgabe des Menschen ist es, in seiner Freiheit sich für den Himmel zu entscheiden: „Gott, der aus Gerechtigkeit mit der Hölle bestraft und aus Barmherzigkeit mit dem Himmel belohnt, wünscht mit sehnlichem Verlangen, dass du den Himmel wählst“ (DASal 1,57).
Franz von Sales war weder Idealist, noch Träumer, noch Utopist. Er schreibt aus seiner Erfahrung als gelernter Jurist. Theologie war nur sein Nebenfach, sein Hauptfach war Jura und er promovierte zum Doktor des zivilen und kirchlichen Rechts. In seiner Heimat Savoyen war er nicht nur Bischof, sondern auch staatlich anerkannter Rechtsanwalt. Der Senat von Chambèry nahm ihn in die Anwaltskammer auf. Zeit seines Lebens wurde er als Anwalt und Richter in Streitfragen in Anspruch genommen. Was ihn dabei so gerecht machte, war die Barmherzigkeit, die er in seine richterlichen Urteile einfließen ließ. Eine außergerichtliche Einigung oder Versöhnung war ihm stets lieber, als langwierige Prozesse, die das Unheil in den meisten Fällen nicht lösten, sondern nur verschlimmerten.
Welche Ratschläge erteilte der Rechtsgelehrte Franz von Sales jenen Menschen, die gerecht sein wollen? Wir finden seine praktischen Tipps in seinem berühmten Buch „Philothea – Anleitung zum frommen Leben“ (3. Teil, 36. Kapitel; DASal 1,192-193):
Zunächst fühlt Franz von Sales seinen Mitmenschen auf den Zahn und weist sie darauf hin, dass das, was sie gemeinhin als Gerechtigkeit betrachten, sehr oft nichts weiter ist als der eigene Vorteil. Er nennt Beispiele, die heute genauso gültig sind wie vor vierhundert Jahren:
„Den Nächsten klagen wir wegen des kleinsten Vergehens an, uns selbst aber entschuldigen wir auch bei schweren Verfehlungen; … für die anderen soll die strenge Gerechtigkeit gelten, für uns aber Barmherzigkeit und Nachsicht; ... Wir fordern schroff unser Recht, erwarten aber, dass die anderen höflich vorgehen, wenn sie zu ihrem Recht kommen wollen. … Wir klagen gleich über den Nächsten, wollen aber nicht, dass man sich über uns beklage. Was wir für andere tun, scheint uns immer zu viel, was andere für uns tun, zählt in unseren Augen nicht.“
Franz von Sales fasst zusammen: Unser vermeintlicher Gerechtigkeitssinn misst eigentlich mit zweierlei Maß: „Mit einem Wort, wir gleichen den Wachteln von Paphlagonien, die zwei Herzen haben: wir haben ein mildes, nachsichtiges und höfliches Herz für uns, gegen die anderen aber ein hartes, strenges und unerbittliches. Wir haben zweierlei Gewicht: eines, um unsere eigenen Interessen möglichst vorteilhaft, und ein zweites, um jene des Nächsten möglichst unvorteilhaft zu bestimmen. … Zweierlei Gewicht haben, ein schweres beim Kaufen, ein leichtes beim Verkaufen, ist vor Gott ein Gräuel (vgl. Dtn 25,13; Spr 20,10).“
Seine Schlussfolgerung: Wenn du gerecht handeln willst, dann versetze dich zuerst in die Situation des anderen: „Sei also gleichmäßig gerecht in all deinem Tun. Versetze dich immer in die Lage deines Mitmenschen und ihn an deine Stelle, dann wirst du richtig urteilen. … Prüfe darum oft dein Herz, ob es gegen den Nächsten so gesinnt ist, wie du es von ihm erwartest, wenn du an seiner Stelle wärest.“
Was also ist der sicherste Weg zur Gerechtigkeit? Es ist der Weg der „Goldenen Regel“ der Bergpredigt: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Darin besteht die wahre Gerechtigkeit. Franz von Sales hat das nicht nur beherzigt, er war sogar der Meinung, dass man im Zweifelsfall immer die Barmherzigkeit und nicht die Gerechtigkeit wählen sollte. So antwortete er, als er einmal darin kritisiert wurde, dass er jenen gegenüber, die die Gebote und Gesetze missachten, viel zu milde sei, mit folgenden Worten: „Mir ist es lieber, ich sündige wegen allzu großer Milde als wegen zu großer Strenge.“
Herbert Winklehner OSFS