die Tugend der tausend Kleinigkeiten
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Alles, was mit dem Herzen zu tun hat, wird derzeit neu entdeckt, also auch die Herzlichkeit. Technik und Vernunft sind eben nicht alles, auch Gefühl und Romantik gehören zum Menschen. Den Schnulzenroman, der zu Herzen geht und zu Tränen rührt, will zwar niemand gelesen haben, die Verkaufserfolge solcher Bücher sprechen aber eine andere Sprache. Das gilt ebenso für die Zuschauerzahlen bei Herz-Schmerz-Filmen. Es ist einfach beliebt, mit einer Packung Papiertaschentüchern eine romantische Szene nach der anderen zu genießen, die Tränen fließen zu lassen und seufzend das Happy End zu erleben, auch wenn dieses noch so gekünstelt und weit hergeholt erscheint.
Hinter diesem Phänomen, dass das, was zu Herzen geht, die Massen anspricht, steckt eine tiefe Sehnsucht, nämlich die Sehnsucht nach Herzlichkeit. Sie wird von Regenbogenpresse und Filmindustrie meisterhaft angebohrt, um Geld zu scheffeln. Diese Geschäftemacherei zeigt deutlich, dass Herzlichkeit gefragt ist. Wenn Lady Di nach ihrem tragischen Tod in Paris den Beinamen „Königin der Herzen“ erhielt, dann wurde damit nicht nur zum Ausdruck gebracht, dass ihre Herzlichkeit, die sie ausstrahlte, den Menschen unter die Haut ging, genauso wie ihr tragisches Ende oder ihre noch tragischere Lebensgeschichte, sondern auch, dass sich Menschen „Königinnen und Könige der Herzen“ wünschen. Das Herz ist eben nicht nur ein wichtiges und zentrales Körperorgan, das, wenn es zu schlagen aufhört, dem irdischen Leben ein Ende setzt. Mit Herz verbinden wir noch etwas viel Wesentlicheres, nämlich das Zentrum oder Symbol der menschlichen Seele. Durch die Vernachlässigung dieser Wesensmitte wird nicht nur das irdische Leben zerstört, sondern auch das himmlische.
Der heilige Franz von Sales lebte in einer Zeit, in der die Medizin noch nicht so fortgeschritten war, dass sie schon genau wusste, wofür das Herz medizinisch-technisch da ist und wie es funktioniert. In seiner Umwelt war jedoch klar, dass das Herz etwas sehr Wesentliches ist, so wesentlich, dass es zum Mittelpunkt des Menschen gehört, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch und religiös.
Der Herzensmystiker Franz von Sales war davon überzeugt, dass derjenige, der das Herz eines Menschen erobert hat, wirklich den ganzen Menschen gewonnen hat. Er hielt daher z.B. in der Erziehung wenig oder gar nichts von Strafe und Schelte, seine Methode ging tiefer: Schau, dass du das Herz deines Gegenübers, sei es Kind, Schüler oder Erwachsener, gewinnst, und du hast alles gewonnen.
Es verwundert nicht, dass er diese Methode auch in seiner Theologie anwendet. Gott, so war er überzeugt, will das Herz des Menschen gewinnen, also: er will ihn ganz. Und wenn ich Gott gewinnen will, dann muss ich ihm in meinem Herzen Platz machen und nicht nur in meinem Verstand.
Franz von Sales kannte natürlich die Bibelstelle, in der Jesus sagt: „Wo dein Schatz ist, dort ist auch dein Herz. Sammle dir also nicht Schätze für die Erde, wo alles verrottet, sammle dir Schätze für den Himmel“ (Vgl Mt 6,20-21). Für ihn hieß das: Lass Gott in dein Herz hinein und alles ist gut. Da kann alles Mögliche in deinem Leben schief gehen, wenn Gott einen fixen Platz dort hat, wo dein Wesen ist, dann gibt es keinen Grund zur Unruhe. Seine Hauptfrage lautet: Lässt du Gott in deinem Herzen wohnen? Hast du seinen Namen in dein Herz geschrieben? Steht in deinem Herzen „Es lebe Jesus“ oder haben sich in dieses Herz ganz andere Wünsche eingenistet? Darauf legte er Wert, weil er überzeugt war, dass das, was man aus ganzem oder tiefstem Herzen fühlt und denkt, das Entscheidende ist.
Aus diesem Grund war Franz von Sales auch so angetan von der Herzdurchbohrung Jesu durch den Hauptmann nach seinem Tod am Kreuz. Hier wurde für ihn die ganze Herzlichkeit Gottes für den Menschen deutlich und spürbar: Gott liebt dich aus ganzem Herzen. Um dir das zu beweisen, ließ er den Hauptmann die Lanze nehmen und sein Wesen durchbohren, damit alle sehen können, dass Gott uns alles, sogar sein Herz geschenkt hat. In diesen Bildern, die Franz von Sales hier verwendet, ist nicht nur seine Herzensmystik grundgelegt, hier liegt auch der Ursprung der heute weltweit verbreiteten Herz Jesu- und Herz-Marien-Verehrung, in der wir unseren Dank und unsere Freude über die Herzlichkeit Gottes und Marias zum Ausdruck bringen.
Die Tugend der Herzlichkeit hilft mir, zu einem solchen Menschen aus Herz zu werden. Wie geht das? Franz von Sales nennt die Herzlichkeit das Wesen der Freundschaft. Es ist eine Freundschaft, die im Herzen wurzelt, weil die Liebe eben ihren Sitz im Herzen hat. Seine Schlussfolgerung daraus:
„Wir können die Mitmenschen nie zu viel lieben und somit auch in der Liebe nie die Grenzen der Vernunft überschreiten, sofern die Liebe wirklich im Herzen wurzelt. Der glorreiche hl. Bernhard sagt: ‚Das Maß der Liebe zu Gott ist Liebe ohne Maß.’ Und weiter sagt er: Setze der Liebe keine Schranken, lasse sie ihre Äste breiten, so weit sie nur kann. Was für die Gottesliebe gilt, das gilt auch für die Nächstenliebe; doch muss die Gottesliebe den ersten Rang haben. Tut sie das, dann dürfen wir unsern Mitmenschen so viel Liebe schenken, als wir nur immer haben. Es darf uns nicht genug sein, sie nach göttlichem Gebot nur zu lieben wie uns selbst; wir müssen sie mehr lieben als uns selbst; das ist das Gebot der Vollkommenheit, so lehrt es uns das Evangelium: ‚So, wie ich euch geliebt habe, sollt auch ihr einander lieben,’ (Joh 13,34; 15,12) sagt der Herr.“
Herzlichkeit bedeutet also: Lieben ohne Grenzen, von Herz zu Herz. Das ist das Ziel, das auch Gott uns ans Herz legt: So wie ich euch geliebt habe, genauso so herzlich, so sollt auch ihr einander lieben. Oder das Hauptgebot: Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken“ (Mt 22,37).
Der Weg dazu ist, dass ich im Umgang miteinander und mit Gott vor allem das Herz sprechen lasse und auf das Herz des Menschen sehe. Zeichen der Herzlichkeit, kleine Aufmerksamkeiten, ein gutes Wort, ein Gruß sind kleine Schritte, um zu dieser Liebe, die im Herzen wurzelt, zu kommen. Solche Kleinigkeiten können oft wahre Wunder bewirken. Ich habe mich gestritten und war im Recht, der andere im Unrecht. Unsere erste Reaktion ist natürlich Rache und Zorn. Es ginge aber auch anders, nämlich mit Herzlichkeit, mit einer kleinen Geste der Versöhnung. Es geht darum, dass wir dabei nicht bloß logisch handeln, aus Vernunftgründen, sondern herzlich. Wenn wir Blumen aus reiner Berechnung schenken, dann spüren wir das genauso, wie wenn wir diese Blumen völlig unlogisch, aber aus ganzem Herzen vorbeibringen. Herzlichkeit bringt nämlich gefühlsmäßig und wortlos die Botschaft mit sich: Ich mag dich, ich will dir nichts Böses, auch wenn ich jetzt vielleicht unheimlich sauer auf dich bin. Aber du sollst wissen, in meinem Herzen hast du deinen Platz. Und eines ist auch klar: Wer herzlich denkt und spürt, dem fallen tausend Kleinigkeiten ein, den anderen Menschen oder Gott immer wieder ins Herz zu schließen.
Ein abschließendes Wort des hl. Franz von Sales, für alle, die meinen, diese Tugend der Herzlichkeit sei zu hoch oder zu schwierig. Diesen legt er ans Herz: „Es ist sehr schwer, ins Schwarze zu treffen, auch wenn man gut zielt und gut schießt. Aber das ist sicher, hinzielen müssen wir aufs Schwarze, auf den Kern der Tugend, die wir über alles lieben sollen, ob es sich um Demut, Herzlichkeit oder eine andere Tugend handelt. Treffen wir aber nicht gleich ins Schwarze, so sollen wir uns darüber nicht wundern und dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen; wenn wir nur wenigstens die Scheibe treffen und der Schuss möglichst nahe beim Schwarzen sitzt. Selbst die Heiligen haben nicht alle Tugenden vollkommen getroffen.“
Herbert Winklehner OSFS