die Tugend für den rechten Umgang mit Sexualität
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Kirche und Sexualität ist ein Thema, das in den Medien nur allzu gerne aufgegriffen wird, weil es den Journalisten die Möglichkeit gibt, die vermeintliche kirchliche Inkompetenz in dieser Frage an den Pranger stellen bzw. die kirchliche Meinung dazu lächerlich machen zu können. Glaubt man also den Medien, so wird klar: Die Kirche hat ihre Kompetenz in der Frage der Sexualmoral restlos verspielt. Themen wie „Empfängnisverhütung“, „vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr“, „Selbstbefriedigung“, „Scheidung“, „Homosexualität“, „Zölibat“ … zeigen, dass die Gesellschaft die Meinung des „Moralapostels“ Kirche mittlerweile weit von sich weist. Eigentlich hört kein Mensch mehr auf das, was die Kirche zu diesen Themen sagt, oder man hört es, lächelt oder lacht darüber und tut dann trotzdem, was man will.
Gefördert hat diese Entwicklung, dass in der kirchlichen Morallehre bzw. in der Praxis der Verkündigung das „sechste Gebot“ oft so sehr betont wurde, dass der einzelne Christ durchaus zur Meinung gelangen konnte, die dieses Gebot betreffenden Sünden seien die einzigen schweren Sünden, die ich begehen kann, alle anderen Übertretungen sind verglichen zur Verfehlungen gegen das sechste Gebot Bagatelldelikte. Diese unangemessene Überbetonung führte dazu, dass man irgendwann damit anfing, durchaus begründet von Übertreibung oder Engführung zu sprechen, dann jedoch begann man, das „Kind mit dem Bade auszuschütten“, das heißt dieses sechste Gebot im praktischen Handeln einfach kurzerhand abzuschaffen: Sex ist meine Privatangelegenheit, da redet mir niemand mehr etwas drein, schon gar nicht die Kirche.
Dass damit auch die Tugend der Keuschheit in Misskredit geriet, ist somit kein Wunder. Untermauert hat diese Entwicklung die Tatsache, dass diese Tugend im Laufe der Kirchengeschichte auf die „sexuelle Enthaltsamkeit“ reduziert wurde. Keusch kann nur der sein, der auf jede Form sexueller Betätigung vollständig verzichtet. Mit zu dieser Verengung beigetragen hat die Glorifizierung des Gelübdes der ehelosen Keuschheit in den Ordensgemeinschaften und natürlich die Einführung des Pflichtzölibats für den Weihestand.
Dennoch wurde Keuschheit sowohl in der Bibel als auch über die Jahrhunderte in der kirchlichen Morallehre immer viel weiter begriffen, was heute im Grunde genauso Gültigkeit besitzt. In ihrem Vollsinn umfasst die Tugend der Keuschheit „alle Aspekte einer lebensgerechten, den einzelnen sowie der menschlichen Gemeinschaft fördernden Gestaltung der Sexualität: Askese ebenso wie sexueller Vollzug, je nach Lebenssituation, Zielsetzung und Entwicklungsphase eines Menschen oder einer Beziehung.“ So formuliert es das „Wörterbuch des Christentums“.
Davon zeugt auch die biblische Verwendung des Wortes „Keuschheit“. Im Alten Testament wird das Wort für „kultische Reinheit“, für richtig gelebte Sexualität in der Ehe und Treue in der Ehe verwendet. Im Neuen Testament kommt diese Tugend ebenso im Zusammenhang mit der Treue in der Ehe vor, dann als Verzicht auf jede Art sexueller Zügellosigkeit, die mit Habsucht verglichen wird, und schließlich mit dem Verzicht auf die Ehe um des Himmelreiches willen, was zum Gelübde der ehelosen Keuschheit als einen der „evangelischen Räte“ führte.
Bei all diesen Aspekten der Tugend Keuschheit geht es allerdings nie darum, Sexualität zu tabuisieren bzw. zu dämonisieren, sondern sie in das menschliche Leben so zu integrieren, dass sie sowohl dem einzelnen als auch der Gemeinschaft dazu verhilft, das Leben und die Liebe in Fülle zu erlangen.
Das ist demnach die Grundfrage, die sich bei der Tugend Keuschheit stellt: Wie integriere ich diese Tugend des rechten Umgangs mit Sexualität so in mein Leben, dass sowohl ich als auch die anderen glücklicher werden, und glücklicher wird man, wenn ich sowohl mir als auch dem anderen ein Mehr an Liebe ermögliche, egal, ob dies nun durch die Tugend der Keuschheit oder durch eine beliebig andere Tugend geschieht.
Der heilige Franz von Sales meint ganz im Sinne dieses ursprünglich umfassenden Keuschheitsbegriffes, dass Keuschheit für alle „unbedingt notwendig“ ist (DASal 1,139). Die Übung dieser Tugend endet nicht mit dem Empfang eines Trauscheins, sondern gilt in einer ehelichen Gemeinschaft genauso wie für ehelos lebende Menschen, egal ob im Kloster oder außerhalb.
Das Gegenteil gilt natürlich ebenso: Unkeuschheit ist in der Ehe genauso möglich wie außerhalb der Ehe, nämlich immer dann, wenn aus meiner Sexualität die Liebe verschwindet, wenn es also nur noch um mich und meine persönliche Lustbefriedigung geht und mir die Bedürfnisse des anderen gleichgültig sind.
In den Worten des heiligen Franz von Sales klingt dies so: „Die Unkeuschheit ist nichts anderes als die zügellose Begierde nach der Fleischeslust. Nun ist das Verlangen ungeordnet, weil man die Lust mit einer Person genießen will, die uns nicht gehört, wie es bei der Unzucht und beim Ehebruch geschieht, oder weil man sie genießen will gegen die von der Natur aufgestellte Ordnung; oder weil man sie genießen will gegen das Ziel und die Absicht, für die diese Lust bestimmt ist“ (DASal 12,241).
Noch schlimmer wird es, wenn ich Sexualität dazu missbrauche, Macht über andere auszuüben. Dann ist die Grenze zur Gewaltanwendung und Vergewaltigung nicht mehr allzu weit. Und ich glaube, es wird niemand etwas dagegen haben, wenn sich die Kirche mit ihrem Hinweis auf die Tugend der Keuschheit diesen Formen sexuellen Missbrauchs entschieden entgegenstellt, wozu auch die Herstellung und Nutzung von Pornographie, vor allem Kinderpornografie zu zählen ist.
In Bezug auf die Ehe schreibt Franz von Sales: „Wohl gibt die heilige Freiheit der Ehe eine besondere Kraft, das Feuer der Begierlichkeit zu dämpfen, aber die Schwachheit jener, die sie genießen, überschreitet leicht die Grenzen des Erlaubten zur Zügellosigkeit, des Gebrauches zum Missbrauch“ (DASal 1,140).
Gefordert ist daher Sensibilität. „Der menschliche Leib gleicht einem Glas,“ schreibt Franz von Sales, „das bei der Berührung mit einem anderen stets Gefahr läuft zu zerbrechen“ (DASal 1,141). Um dieses Zerbrechen zu verhindern, ist dem Menschen die Tugend der Keuschheit geschenkt, die ihm hilft, seine Sexualität zu seinem eigenen, wie zum Wohle aller zu nützen, so dass der Mensch eben nicht daran zerbricht, sondern zu größerer Würde gelangen kann.
Franz von Sales schreibt: „Die Liebe ist ja nicht eine Tugend, die zerstört und arm macht, sondern die alles gut macht, alles belebt und bereichert, was sie an Gutem in den Seelen findet, über die sie herrscht. Die himmlische Liebe nimmt den Tugenden daher keineswegs ihre natürlichen Vorzüge und ihre Würde, sondern es ist ihr im Gegenteil eigen, die Vollkommenheiten, die sie antrifft, noch zu vervollkommnen und in dem Maß, als sie höhere Vollkommenheiten vorfindet, diese noch in höherem Maße zu vervollkommnen“ (DASal 4,236). Für den Kirchenlehrer ist die Keuschheit „die Liebe des Leibes“ (DASal 9,217), sie ist damit jene Form der Liebe, die deren körperliche Ausdrucksweise – sprich Sexualität – ihre Würde und Vollkommenheit verleiht.
Natürlich kennt der heilige Franz von Sales auch den Begriff der „ehelosen Keuschheit“. Als Ordensgründer musste er sich selbstverständlich auch mit diesem Gelübde auseinandersetzen. Spricht er jedoch von der Tugend Keuschheit, dann meint er damit nicht nur Ordensleute, sondern jeden Menschen und er empfiehlt uns, von Gott um diese Tugend zu bitten, da sie eine wichtige Fähigkeit für ein gelingendes Leben darstellt:
„Die Keuschheit ist aber eine Gabe Gottes, die man nicht mit Brachialgewalt erwirbt und nicht durch Geschicklichkeit und Kunstgriffe bewahrt. Die Gaben Gottes reißt man ja nicht mit seinen Händen durch Anstrengung und Gewalt an sich; sie werden umsonst gegeben (Mt 10,8) und nach der Disposition des Herzens. Was muss man also tun, um diese Gabe Gottes aus seinen Händen zu gewinnen und an sich zu ziehen, da niemand keusch sein kann, wenn nicht der Herr ihm die Gnade schenkt (Weish 8,21)? Betet, sagt der Apostel, d. h. bittet um sie im Geist tiefer Demut, denn durch das Gebet werdet ihr sie erlangen und bewahren, wenn ihr sie gewonnen habt“ (DASal 9,396).
Herbert Winklehner OSFS