oder Anleitung zum frommen Leben
Das berühmteste Buch des hl. Franz von Sales ist seine „Anleitung zum frommen Leben“ (Französischer Originaltitel: Introduction à la vie dévote), im deutschen Sprachraum kurz „Philothea“ genannt. Es erschien Anfang des Jahres 1609 und zählt noch heute zu den zehn meistverkauftesten Büchern der christlichen Weltliteratur.
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Das religiöse Leben zur Zeit des hl. Franz von Sales krankte an einem merkwürdigen Zwiespalt: Es wurde eine Grenze gezogen zwischen Welt und Kloster. Und so herrschte allgemein die Meinung vor: Wer echter Christ sein will, muss ins Kloster gehen, denn das Leben in der Welt ist derart schlecht, dass dort ein echtes Leben aus dem Glauben kaum möglich ist.
So bestand ein innerer Zwiespalt zwischen Religion und Leben. Die Alternative war: Entweder Religion ohne Leben in der Welt oder Leben in der Welt ohne Religion.
Daneben gab es allerdings auch eine große Anzahl von Männern und Frauen, die mit dieser Alternative nicht zufrieden waren. Sie wollten als Christen auch innerhalb der Welt leben. Der Bischof von Genf baute nun mit seiner Philothea eine Brücke zwischen diesen beiden Extremen. Er zeigte einen Weg auf, der Menschsein und Heiligkeit, Lebenskultur und tiefe Frömmigkeit verband.
Einer dieser Menschen war Frau von Charmoisy. Sie war der unmittelbare Anlass dafür, dass es überhaupt zur Veröffentlichung der „Philothea“ kam. Sie suchte bei Franz von Sales Rat, wie sie konkret ihren Glauben in der Welt leben könne. Franz von Sales schrieb ihr daraufhin zahlreiche Briefe, in denen er ihre Fragen beantwortete. Frau von Charmoisy zeigte diese Briefe dem Jesuitenpater Fourier und dieser war vom Inhalt so sehr begeistert, dass er Franz von Sales gegenüber den Wunsch äußerte, er möge doch seine Anregungen veröffentlichen, damit sie nicht nur einzelnen sondern allen Menschen zu Gute kommen.
Franz von Sales sah darin einen Wink Gottes und machte sich daran, diese und auch andere Briefe mit ähnlichem Inhalt so zu überarbeiten, dass sie ein genaues Konzept ergaben und allgemein gültigen Charakter bekamen. Er behielt jedoch den literarischen Stil des Briefes bei, verwendete allerdings als Anrede den allgemeinen Namen „Philothea“, zu Deutsch: „Gott liebende Seele“. So erreichte er, dass sich jede Leserin und jeder Leser von der ersten Seite an ganz persönlich angesprochen fühlte. Man bekommt sofort das Gefühl: Hier geht es nicht um irgendeine theologische Abhandlung, sondern um mich ganz persönlich. Hier bin ich gemeint und hier möchte mir jemand ganz konkret helfen, meinen Glauben zu leben. Hier nimmt mich jemand in meiner Situation, in der ich jetzt gerade lebe, ernst.
Zur Jahreswende 1608/1609 erschien die „Anleitung zum frommen Leben“ oder eben die „Philothea“ zum ersten Mal in Lyon und fand sofort reißenden Absatz. Innerhalb kürzester Zeit musste das Buch mehrmals neu aufgelegt werden. Bis zum Tod des Heiligen gab es bereits 40 französische Auflagen und außerdem Übersetzungen in mehreren Sprachen. Mitte des 17. Jahrhunderts zählte man Ausgaben in 17 verschiedenen Sprachen. In den Bibliotheken von Annecy sind heute 121 verschiedene Philothea-Ausgaben archiviert. Die erste deutsche Übersetzung von Caspar Eysengrein erschien unter dem Titel „Je länger je lieber“ bereits 1616 in München. Von der heute aktuellen deutschen Ausgabe in der Übersetzung von Franz Reisinger, erschienen im Franz Sales Verlag, sind bereits an die 100.000 Exemplare verkauft worden. Sie bildet Band 1 der Deutschen Ausgabe der Werke des heiligen Franz von Sales.
Wie jedes gute Buch, so blieb allerdings auch die Philothea nicht vor Kritik verschont. Es gab Priester oder Bischöfe, die öffentlich auf der Kanzel das Buch als Teufelswerk brandmarkten und im wahrsten Sinne des Wortes zerfetzten. Was war das radikal Neue, das diese Kritik verursachte? Neu und auch unerhört war ganz einfach die Aussage, dass jeder Christ, egal welchen Beruf er bekleidet oder in welchem Stand er lebt, zur Heiligkeit berufen ist und diese Heiligkeit auch erlangen kann. Kurz: Die Frömmigkeit muss sich an die Situation des einzelnen Menschen anpassen. Oder: Die Gebete und religiösen Übungen sind für den Menschen da, nicht umgekehrt.
Wie verband nun Franz von Sales diese vermeintliche Kluft zwischen Welt und Frömmigkeit? Dies ist eine Frage, die heute zwar nicht mehr in dieser Schärfe von damals gestellt wird, aber gerade in verschiedenen klischeehaften Formulierungen doch zum Vorschein kommt:
Der Wirtschaftsboss, der behauptet: "Wenn mein Betrieb florieren will, dann muss ich meine christlichen Grundsätze zuhause lassen."
Der Akkord- oder Schichtarbeiter, der klagt: "Wie soll ich das Sonntagsgebot erfüllen, wenn ich arbeiten muss, oder wenn der Sonntag der einzige Tag in der Woche ist, an dem ich mich ausschlafen kann."
Oder die sonderbare Arbeitsteilung in der Familie, wo der Ehemann zu seiner Frau sagt: "Ich übernehme Arbeit und Geld, du übernimmst Kirche, Küche und Kinder."
All diese Formulierungen zeigen wenigstens das eine: "Ein Mensch in der Welt hat es viel schwerer, ein guter Christ zu sein, als etwa einer, der im Kloster bzw. hauptberuflich Christ ist."
Demgegenüber aber sagt Franz von Sales: "Es besteht kein Widerspruch zwischen Welt und Gott. Die, die glauben, um heilig zu werden, müssen die Welt ablehnen, sind auf dem Irrweg. Denn alles, was wahrhaft menschlich ist, ist wahrhaft christlich, und alles was wahrhaft christlich ist, ist wahrhaft menschlich." Das Vollkommenheitsideal des hl. Franz von Sales lautet: "Sei wahrhaft Mensch, dann bist du wahrhaft Christ."
Gemäß diesem Grundsatz folgt für Franz von Sales, dass sich wahre Frömmigkeit der Individualität eines Menschen und seiner Berufssituation anpassen können muss.
Damit widersprach er der allgemeinen Auffassung seiner priesterlichen Zeitgenossen. Diese gaben den nach Frömmigkeit strebenden Damen und Herrn folgende Weisung:
"Fliehen sie die Unterhaltung und die Menschen, so viel sie können! Den Besuch von Theatern, Hochzeiten und anderen Festlichkeiten verneint, verbietet und untersagt. Die häuslichen Verrichtungen sollen den Dienstboten überlassen werden. Der Vormittag soll für das Gebet frei gemacht werden. Die Arbeit soll sofort unterbrochen werden, wenn man sich zum Gebet gedrängt fühlt."
Das Gebet hat immer den Vorrang. Man muss die Arbeit wegstellen für das Gebet. Natürlich erkannten die Menschen in ihren Berufen, dass das einfach undurchführbare Forderungen sind und sie waren frustriert.
Dem entgegnete aber der hl. Franz von Sales in einmaliger und bahnbrechender Weise in der Philothea:
"Ich will gerade jenen helfen, die in der Stadt, im Haushalt oder bei Hof leben. Bei ihnen findet man oft die irrige Ansicht, ihnen sei das Streben nach Frömmigkeit unmöglich. Die Frömmigkeit aber passt zu jedem Stand und Beruf. Sie muss aber anders geübt werden vom Edelmann, anders vom Handwerker, Knecht oder Fürsten, anders von der Witwe, dem Mädchen, der Verheirateten. Mehr noch: Die Übung der Frömmigkeit muss auch noch die Kraft, der Beschäftigung und den Pflichten eines jeden angepasst sein. Es ist ein Irrtum, ja sogar eine Irrlehre, die Frömmigkeit aus der Kaserne, aus den Werkstätten, von den Fürstenhöfen aus dem Haushalt verheirateter Frauen verbannen zu wollen. Die echte Frömmigkeit schadet keinem Beruf und keiner Arbeit. Jeder Mensch wird wertvoller in seinem Beruf, wenn er die Frömmigkeit damit verbindet."
Konkret: Ein Ehemann, der ständig in der Kirche sitzt und betet und dabei seine Familie im Stich lässt, handelt schlecht. Seine Frömmigkeit besteht nämlich darin, nicht ständig in der Kirche zu sitzen, sondern sich um seine Familie zu kümmern.
Franz von Sales - und das ist wichtig zum Verständnis dieses Buches - schreibt seine Philothea für Menschen, die sich entschieden haben, ihr Christsein bewusst zu leben. Er selbst schreibt im Vorwort: "Mit meiner Anleitung wende ich mich also an einen Menschen, der fromm sein will und nach der Gottesliebe strebt." Franz von Sales schreibt also nicht für Leute, die erst zum Christentum finden müssen, sondern für solche, die den Wert des christlichen Lebens bereits erkannt haben und sich entschieden haben, auf diesem Weg weiterzugehen.
Die gute Pädagogik seiner Glaubensführung geht dann so weiter, dass er im ersten Teil diesen Wunsch nach einem bewussten christlichen Leben stärkt, indem er dem Leser die Frömmigkeit schmackhaft macht - durch Betrachtungen, Erwägungen - und ihn hinführt zu einem festen Entschluss, diesen begonnenen Weg auch ernsthaft weiterzugehen. Am Ende dieses ersten Teiles fordert Franz von Sales zu einer Lebensbeichte auf und zu einer feierlichen, schriftlich abgefassten Erklärung, die dann durch Eucharistiefeier und Kommunionempfang besiegelt wird.
Viele Übungen und weitere Schritte, die Franz von Sales rät, sind in ihrem Umfang nur so zu verstehen, dass er eben Leser vor Augen hat, die in ihrem Christsein weiterkommen wollen, die mit dem "normalen" Christsein nicht zufrieden sind.
Im zweiten Teil des Buches stellt Franz von Sales zwei Hauptmittel für das Christsein vor, das eine, das von Gott kommt - nämlich die Sakramente - das andere das den Menschen auf Gott hin antwortet - nämlich das Gebet.
Der dritte Teil handelt von den Tugenden, die dem Leser auf seinem Weg sehr förderlich sind, wie man diese Tugenden üben und wachsen lassen kann.
Im vierten Teil kommen dann die Versuchungen an die Reihe, die einem auf einem solchen Weg begegnen können und er zeigt, wie man sich gegen diese Versuchungen schützen kann.
Der fünfte Teil schließt im Grund den Kreis zum ersten Teil. Es geht um die Erneuerung seiner Anfangsentscheidung, die jährlich durch Exerzitien gemacht werden soll.
Eine weitere Größe in der Pädagogik des Hl. Franz von Sales ist der Geist der Freiheit. Franz von Sales betrachtet seine vorgeschlagenen Wege nie als unbedingt bindend. Nein, Franz von Sales ist kein Freund allzu straffer innerer und äußerer Bindungen. Ich soll mir mein Leben nicht auf die letzten Kleinigkeiten festlegen. Ich soll nur jeden Tag neu beginnen und mich fragen, was ist der nächste Schritt, den ich tun kann, um Gott besser nachzufolgen.
Franz von Sales betont immer wieder, dass auch seine Weisungen nur im Gesamten zu verstehen sind, es sind nur Ratschläge und keine Befehle oder kleinliche Vorschriften. So schreibt er einmal seiner geistlichen Freundin, der hl. Johanna Franziska von Chantal: "Ich lasse ihnen den Geist der Freiheit. Dies soll die Grundregel unseres Gehorsams sein: Alles aus Liebe tun und nichts aus Zwang."
Die erste Verantwortung hat der Mensch selbst zu tragen. Darum darf man den Menschen nicht jeden Schritt vorschreiben, denn damit wird ihm das Nachdenken über sein Leben weggenommen.
Franz von Sales will nur, dass die Richtung bei jedem Menschen stimmt, nämlich zu Gott hin. Er weiß, dass diese Richtung nicht von heute auf Morgen da ist, sondern dass es vieler kleiner Schritte bedarf, bis man das Ziel erreicht hat. Solche kleinen Schritte beschreibt uns auch der hl. Franz von Sales in seinem Bestseller „Philothea“. Er kann damit aus gutem Grund nicht nur als Vordenker des Zweiten Vatikanischen Konzils sondern allgemein als Begründer der Laienspiritualität bezeichnet werden.
Herbert Winklehner OSFS