die Tugend, mit der alles beginnt
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„Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ Stimmt diese Aussage der jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs (1891-1970), dann gilt sie nicht nur für das Leben, sondern insbesondere für den Glauben. Dann muss Gott in jedem Menschen schon bei der Schöpfung diese Tugend der Sehnsucht eingebettet haben, damit der Mensch sich aufmacht, um Gott zu suchen und zu finden, und wenn er ihn gefunden hat, sich erneut auf die Suche machen, bis alles Suchen und Finden zur Ruhe kommt in der Ewigkeit. Oder wie der heilige Augustinus (354-430) in seinen „Bekenntnissen“ formulierte: „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott.“
Vieles spricht dafür, dass die Sehnsucht eine Grundtugend des Menschen ist, die Gott uns von Anfang an mitgegeben hat. Die Frage nach Gott gehört zu den Grundfragen aller Menschen. Seit es Menschen gibt, haben sich diese die Frage nach Gott gestellt und sind losgezogen, nicht nur in Gedanken, sondern im wahrsten Sinne des Wortes, um Gott zu finden. Die Sehnsucht nach Erkenntnis hat sie angetrieben. Egal, ob dies der Stammvater Abraham war, der aus seinem Land wegzog, oder moderne Wissenschaftler, die den Spuren der Natur folgen, um das Sein in Allem, die Ursache aller Wirkungen oder den Grund aller Gesetze zu erforschen. Es ist die Sehnsucht, die uns antreibt, und es ist die Sehnsucht, mit der Gott uns an sich zieht. Denn: Alles, im Leben wie im Glauben, beginnt mit der Sehnsucht.
Für den heiligen Franz von Sales (1567-1622) ist die Sehnsucht der Urantrieb allen mystischen Verlangens zwischen Gott und den Menschen, wie er es in seiner „Abhandlung über die Gottesliebe“ beschreibt. Gott hat Sehnsucht nach den Menschen, die er liebt. Und daher pflanzt er in jeden Menschen eine Sehnsucht ein, ihn zu suchen und zu finden. Urbild dieser Sehnsucht ist die nächtliche Suche der Liebenden nach ihrem Geliebten, wie es im Hohelied des Alten Testamentes beschrieben wird:
„Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt. Ich packte ihn, ließ ihn nicht mehr los.“ (Hld 3,1-4)
In diesem Bild der Suchenden, die schließlich ihren Geliebten, so sie ihn fand, packte und nicht mehr losließ, sah Franz von Sales alles Sehnen der Seele nach Gott beschrieben. In seinen eigenen Worten beschreibt dies Franz von Sales so:
„Sehnsucht, die dem frohen Besitz vorausgeht, schärft und verfeinert die Empfindung, die damit verbunden ist. Je drängender und mächtiger das Verlangen danach ist, desto größer ist dann Freude und Seligkeit des Besitzes. O Jesus! Mein lieber Theotimus, welche Freude für das menschliche Herz, Gottes Antlitz schauen zu dürfen: Gottes Antlitz, Gegenstand unserer Sehnsucht, ja alleinigen Verlangens unserer Seelen!“ (DASal 3,188).
Eine Geschichte erzählt von einem Gottsucher, der einen weisen Mann fragt, wie er Gott finden könnte. Der weise Mann antwortete nicht, sondern packte den Gottsucher, zerrte ihn zu einem Brunnen und drückte dessen Kopf unter Wasser, so als ob er ihn ertränken wolle. Als er ihn wieder losließ, rang der Gottsucher erst einmal gierig nach Luft. Daraufhin fragte der weise Mann: „Und? Was hast du gefühlt, als dein Kopf unter Wasser war?“ Der Gottsucher antwortete: „Ich spürte eine unendliche Sehnsucht nach Luft.“ Der Weise entgegnete: „Wenn dein Verlangen nach Gott ebenso stark ist, wie diese Sehnsucht nach Luft in jenem Augenblick, dann wirst du Gott finden.“
„Gott ist so groß“, meinte Teresa von Avila (1515-1582), „dass er es wohl Wert ist, von uns ein Leben lang gesucht zu werden.“ In einer solchen Aussage wird die große Sehnsucht spürbar, die diese spanische Mystikerin und Kirchenlehrerin geleitet haben muss. Gott ist so groß, dass all mein Sehnen nicht ausreicht, um ihn wie ihm Hohelied schon in diesem Leben packen und nicht mehr loslassen zu können. Daher muss ich ihn ein Leben lang stets von neuem suchen.
Franz von Sales denkt ähnlich. Erst nach unserem Tod wird die Tugend der Sehnsucht ihre Aufgabe erfüllt haben. Bis dahin aber bleibt das Verlangen nach Erkenntnis, vor allem nach Gotteserkenntnis bestehen. Und so soll es auch sein, damit unser Blick auf das gerichtet sei, was wirklich wesentlich ist: Gott und seine ewige Herrlichkeit.
Natürlich ist es nicht jedem Menschen gegeben, von solch unendlicher Sehnsucht nach Gott ergriffen zu sein, wie dies Mystiker wie Franz von Sales oder Teresa von Avila deutlich machen. Aber es genügt schon eine weniger vollendete Sehnsucht, die man gemeinhin Neugierde nennt, allerdings nicht Neugierde im negativen Sinne als Gier nach Neuem und Sensationellem, sondern positiv, als erster Antrieb, diesem Gott ein wenig näher zu kommen.
Es ist die Neugierde eines Zöllners Zachäus (Lk 19,1-10), der von Jesus gehört hatte und ihn sehen will. Er geht hinaus auf die Straße, erkennt, dass er zu klein ist, um die vielen Menschen, die sich um Jesus scharen, zu überragen. Die Neugierde treibt ihn an, auf einen Baum zu klettern, sich also anzustrengen, um seine Kleinheit um der Begegnung mit Jesus willen zu überwinden. Jesus belohnt diesen Akt der Neugierde. Er erkennt das Verlangen, das in Zachäus schlummert, und spricht ihn an: „Zachäus, komm schnell herunter, denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein“ (Lk 19,5).
Die Sehnsucht, wenn auch eine weniger vollendete, hat diese Begegnung ermöglicht. Damit sie dauerhaft bleibt, musste sich Zachäus jedoch wandeln. Der große Betrüger, der vielen Menschen das Geld aus den Taschen zog, musste umkehren. Aber auch diese Wandlung wurde möglich, weil in Zachäus die Sehnsucht nach Jesus brannte.
„Wie schaffe ich es, Gott zu lieben?“ fragte sich der hl. Franz von Sales, und er antwortete: „Wer glühend nach der Liebe verlangt, wird bald glühend lieben“ (DASal 4,298). Oder anders ausgedrückt: Wer Sehnsucht hat, Gott zu lieben, der liebt ihn bereits.
In dieser Aussage wird das Wechselverhältnis der Tugend Sehnsucht noch einmal deutlich. Gott sehnt sich nach dem Menschen und der Mensch sehnt sich nach Gott. Gottes Liebe zu den Menschen ist so stark, dass er selbst Mensch wird, nicht bloß, um ihn von den Sünden zu befreien, sondern rein aus Liebe. Und der Mensch antwortet auf diese Liebe Gottes mit dem Erwachen seiner eigenen Sehnsucht nach Gott als ein erstes Zeichen dafür, dass er Gott liebt und immer mehr lieben möchte.
Nur jenen, die nicht einmal Neugierde nach Gott verspüren, denen Gott und seine Botschaft völlig gleichgültig sind, dessen Sehnsüchte sich suchtartig höchstens auf irdische Befriedigungen richten, nur jenen kann Gott nicht helfen. Es sind die Gleichgültigen, die sich um keinen Deut um das Werben Gottes kümmern. Sie haben die Tugend der Sehnsucht verloren, die ihnen bei der Schöpfung grundgelegt wurde. Sie wissen nichts davon, worüber der Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) einmal schrieb, dessen Glaube nicht groß, aber seine Sehnsucht nach der Erkenntnis Gottes um so größer war. Er schrieb: „Wir vermögen Gott nicht zu sehen, aber wir vermögen ihn immer zu suchen.“ Es bewahrheitet sich erneut, dass selbst im größten Atheisten, so er nicht gleichgültig ist, eine tiefe Sehnsucht nach dem Absoluten schlummert, weil Gott in einen jeden Menschen die Tugend der Sehnsucht eingepflanzt hat.
Herbert Winklehner OSFS