Thema: Gottesliebe, Nächstenliebe
Marc Anton kaufte eines Tages zwei Knaben, die ihm ein Händler anbot; denn damals verkaufte man Kinder, wie es in einigen Gegenden noch geschieht. Es gab Leute, die daraus ein Geschäft machten und damit Handel trieben, wie man bei uns mit Pferden handelt. Die zwei Knaben glichen einander so vollkommen, dass ihm der Händler weismachte, sie seien Zwillinge; denn es war nicht zu glauben, dass sie ansonsten sich so vollkommen gleichen könnten. Wenn man sie nämlich voneinander trennte, konnte man nicht feststellen, wer von ihnen welcher war. Diese Seltenheit begeisterte Marc Anton so, dass er sie sehr teuer bezahlte. Als er sie jedoch vorführen ließ, fand er, dass die zwei Knaben ganz verschiedene Sprachen redeten, zumal Plinius berichtet, dass der eine aus der Dauphiné stammte, der andere aus Asien, zwei voneinander so weit entfernte Gegenden, dass man es fast nicht sagen kann. Als Marc Anton das erfuhr, dass sie nicht nur keine Zwillinge waren, sondern nicht einmal aus dem gleichen Land stammten und nicht unter dem gleichen König geboren waren, da wurde er sehr aufgebracht gegen jenen, der sie ihm verkauft hatte. Als ihm aber ein junger Schelm ausmalte, dass diese Ähnlichkeit um so bewundernswerter sei, als sie aus verschiedenen Ländern stammten und miteinander nicht verwandt waren, wurde er vollkommen besänftigt und machte dann viel Wesens daraus, so dass er lieber seinen ganzen Besitz verloren hätte als die zwei Knaben wegen ihrer seltenen Ähnlichkeit. Was will ich damit anderes sagen, als dass das Gebot der Gottesliebe und das der Nächstenliebe sich so gleichen wie die zwei Knaben, von denen Plinius erzählt, obwohl sie aus den entferntesten Gegenden stammten. Ich bitte euch, welcher Abstand besteht doch zwischen der Unendlichkeit und dem Endlichen, zwischen der Gottesliebe, die einem unsterblichen Gott gilt, und der Nächstenliebe, die einem sterblichen Menschen gilt, zwischen der einen, die dem Himmel gilt, und der anderen, die der Erde gilt? Diese göttliche Ähnlichkeit ist also um so bewundernswerter. Deshalb müssen wir es machen wie Marc Anton: wir müssen die eine und die andere Liebe erwerben wie Zwillinge, die beide gleichzeitig aus dem Schoß der Barmherzigkeit unseres gütigen Gottes entsprungen sind; denn als Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schuf, da gebot er gleichzeitig, dass er Gott und ebenso seinen Nächsten liebe. (DASal 9, Seite 444)
Kommentiert: Gottes- und Nächstenliebe gehören zusammen