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Zum 3. Fastensonntag

Annecy, 27. Februar 1622 (OEA X,265-280; DASal 9,441-453)

Jedes Reich, das in sich selbst uneins ist, wird verwüstet werden (Lk 11,17).

Jedes Reich, das geteilt und in sich selbst nicht einig ist, wird verödet sein, sagt Unser Herr im heutigen Evangelium (Lk 11,14-28); oder umgekehrt werden alle Reiche, die in sich selbst eins sind durch Eintracht, die keine Uneinigkeit zulassen, ohne Zweifel von Tröstungen erfüllt sein. Wenn nämlich die Voraussetzungen gegensätzlich sind, müssen es die Folgen ebenso sein. Diese Worte sind um so bedeutender und beachtenswerter, haben um so mehr Gewicht, als unser göttlicher Meister sie gesprochen hat. Deshalb haben sich die frühen Kirchenväter oft damit befaßt, davon Auslegungen abzuleiten. Sie sagen, daß es drei Arten von Einheit gibt, von denen der Heiland sprechen wollte, deren Auflösung schließlich die Trostlosigkeit folgt. Die erste ist die Eintracht, die zwischen den Untertanen und ihrem König herrschen muß, die seinen Gesetzen unterworfen und gehorsam sind. Die zweite ist die Einheit, die wir in uns selbst haben müssen, im Königreich, das wir in unserem Inneren haben; seine Königin muß die Vernunft sein; ihr müssen alle Fähigkeiten unseres Geistes, ja selbst alle Sinne und unser Leib unbedingt unterworfen bleiben; denn ohne diesen Gehorsam und diese Unterwerfung können wir nicht vor Betrübnis und Verwirrung bewahrt werden, ebenso wie ein Königreich, wo die Untergebenen den Gesetzen des Königs nicht gehorchen.

Da es aber zu viel Zeit in Anspruch nähme, über alle Formen der Einheit zu sprechen, werde ich mich nur bei der dritten aufhalten; das ist jene, die wir untereinander haben müssen. Diese Einheit und Eintracht hat Unser Herr uns in Wort und Tat gepredigt, empfohlen und gelehrt, aber mit unvergleichlichem Nachdruck und bewundernswerten Worten, so daß es scheint, als habe er vergessen, uns die Liebe zu empfehlen, die wir zu ihm haben müssen, zu seinem himmlischen Vater, um uns besser die Liebe und die Einheit einzuprägen, von der er wollte, daß wir sie untereinander haben. Er hat sogar das Gebot der Nächstenliebe sein Gebot genannt (Joh 15,12), gleichsam sein liebstes. Er ist in diese Welt gekommen, um uns als ganz göttlicher Meister zu belehren, und dennoch dringt er auf nichts so sehr und mit so klaren Worten wie auf die Befolgung dieses Gebotes der Nächstenliebe. Und das nicht ohne triftigen Grund, denn der Lieblingsjünger des Vielgeliebten, der große heilige Apostel Johannes versichert (1 Joh 4,20f): Wenn einer sagt, er liebe Gott, und seinen Nächsten nicht liebt, ist er ein Lügner. Wer umgekehrt sagt, er liebe den Nächsten, liebe aber Gott nicht, verstößt gegen die Wahrheit, denn das kann nicht sein. Gott lieben, ohne den Nächsten zu lieben, der nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen ist (Gen 1,26f), das ist unmöglich.

Wie aber muß diese Einheit und Eintracht beschaffen sein, die wir untereinander haben sollen? O, wie muß sie sein? Wenn es nicht Unser Herr selbst erklärt hätte, besäße niemand die Kühnheit, es mit den gleichen Ausdrücken wie er zu tun. Als er beim letzten Abendmahl das unvergleichliche Zeugnis seiner Liebe zu den Menschen durch die Einsetzung des allerheiligsten Sakramentes der Eucharistie gegeben hatte, sagte er: Mein teuerster Vater, ich bitte dich, daß alle eins seien, die du mir anvertraut hast, wie du, Vater, und ich eins sind (Joh 17,11f.21f). Um zu zeigen, daß er nicht nur von den Aposteln sprach, sondern von allen, hat er vorher gesagt: Ich bitte nicht nur für diese hier, sondern für alle, die auf ihr Wort hin an mich glauben (17,20). Wer hätte es gewagt, sage ich noch einmal, einen solchen Vergleich zu machen und zu bitten, daß wir eins seien, wie es der Vater, der Sohn und der Heilige Geist untereinander sind?

Dieser Vergleich scheint sehr sonderbar zu sein, denn die Einheit der drei göttlichen Personen ist unbegreiflich und niemand, wer es auch sei, vermag sich diese einfache Einheit und diese unaussprechlich einfache Einigkeit vorzustellen. So dürfen wir auch nicht zur gleichen Einheit zu gelangen verlangen, denn das kann nicht sein, wie die frühen Väter bemerken. Wir müssen uns damit begnügen, ihr entsprechend unserer Fähigkeit so nahe als möglich zu kommen. Unser Herr beruft uns nicht zur gleichen, sondern zur gleichartigen Einheit, d. h. wir müssen einander lieben und untereinander einig sein, so rein und vollkommen als möglich.

Ich habe es mit um so größerer Freude unternommen, heute über diesen Gegenstand zu sprechen, als ich gefunden habe, daß uns der hl. Paulus diese Liebe mit bewundernswerten Ausdrücken in der Epistel empfiehlt, die wir in der heiligen Messe gelesen haben; da sagt er im Brief an die Epheser (5,1f): Geliebte, wandelt auf dem Weg gegenseitiger Liebe als vielgeliebte Kinder Gottes; wandelt auf ihm, wie Jesus Christus gewandelt ist, der sein eigenes Leben für uns hingegeben hat, als er sich Gott, seinem Vater als Brandopfer und als duftende, wohlgefällige Opfergabe dargebracht hat. Wie liebenswert und wie erwägenswert sind diese Worte! Das sind ganz goldene Worte, durch die uns der große Heilige begreiflich machen will, wie unsere Eintracht und unsere gegenseitige Liebe beschaffen sein muß. Eintracht und gegenseitige Liebe sind ein und dasselbe; denn das Wort Eintracht bezeichnet die Einheit der Herzen; und Liebe, Zuneigung aus Wahl, ist Einheit der Neigungen. Er wollte uns anscheinend erklären, was der Heiland beabsichtigte, als er seinen himmlischen Vater bat, daß wir alle eins seien, d. h. einig, wie er und sein Vater eins sind. Unser Herr drückte sich etwas kurz aus, als er uns mit Worten belehrte, wie sehr er wünschte, daß wir diese heilige und ganz geheiligte Einheit verwirklichen. Deshalb drückte es sein glorreicher Apostel etwas ausführlicher aus, indem er uns auffordert, auf dem Weg der Liebe zu wandeln als vielgeliebte Kinder Gottes. Er wollte gleichsam sagen: wie Gott, unser allgütiger Vater, uns so innig liebte, daß er alle als seine Kinder angenommen hat (Eph 1,5; 1 Joh 3,2f), so zeigt auch ihr, daß ihr wirklich seine Kinder seid, indem ihr einander von ganzem Herzen innig liebt.

Damit wir aber nicht mit Kinderschritten auf diesem Weg der Liebe wandeln, den Gott, unser Vater, uns zu gehen so sehr empfohlen hat, fügt der hl. Paulus hinzu: Wandelt auf ihm, wie Unser Herr auf ihm gewandelt ist, der sein Leben für uns hingegeben hat, usw. Damit zeigt er uns, daß wir mit Schritten eines Riesen gehen sollen, nicht mit denen eines Kindes. Liebt einander, wie Jesus Christus uns geliebt hat (Joh 13,34; 15,12), nicht eines Verdienstes wegen, das wir hätten, sondern einzig weil er uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat. Dieses Bild und Gleichnis müssen wir in allen Menschen ehren und lieben, nicht etwas anderes in ihnen; denn nichts ist an uns liebenswert, was von uns stammt, weil es dieses göttliche Abbild nicht nur nicht schöner macht, sondern es entstellt, befleckt und besudelt, so daß wir fast nicht mehr wiederzuerkennen sind. Das nun darf man im Nächsten in keiner Weise lieben, denn Gott will es nicht.

Warum hat nun Unser Herr gewollt, daß wir einander so lieben, und warum, fragt die Mehrzahl der heiligen Väter, war er so darauf bedacht, uns dieses Gebot als dem Gebot der Gottesliebe gleichwertig (Mt 22,39) einzuschärfen? Das ist doch sehr erstaunlich, wenn man sagt, daß diese zwei Gebote gleichwertig sind, weil das eine darauf abzielt, Gott zu lieben, das andere das Geschöpf. Gott ist unendlich, das Geschöpf begrenzt. Gott ist die Güte selbst und von ihm kommt uns alles Gute zu; der Mensch ist voll Bosheit und von ihm geschieht uns soviel Böses; das Gebot der Nächstenliebe enthält ja auch die Liebe der Feinde (Mt 5,34f). Mein Gott, welches Mißverhältnis im Gegenstand der einen und der anderen Liebe! Und doch sind die beiden Gebote in der Weise gleichartig, als das eine nicht ohne das andere bestehen kann. Die eine muß notwendig untergehen oder zunehmen, sobald die andere abnimmt oder wächst, wie der hl. Johannes (3,30) sagt.

Marc Anton kaufte eines Tages zwei Knaben, die ihm ein Händler anbot; denn damals verkaufte man Kinder, wie es in einigen Gegenden noch geschieht. Es gab Leute, die daraus ein Geschäft machten und damit Handel trieben, wie man bei uns mit Pferden handelt. Die zwei Knaben glichen einander so vollkommen, daß ihm der Händler weismachte, sie seien Zwillinge; denn es war nicht zu glauben, daß sie sich ansonsten so vollkommen gleichen könnten. Wenn man sie nämlich voneinander trennte, konnte man nicht feststellen, wer von ihnen welcher war. Diese Seltenheit begeisterte Marc Anton so, daß er sie sehr teuer bezahlte. Als er sie jedoch vorführen ließ, fand er, daß die zwei Knaben ganz verschiedene Sprachen redeten, zumal Plinius berichtet, daß der eine aus der Dauphiné stammte, der andere aus Asien, zwei voneinander so weit entfernte Gegenden, daß man es fast nicht sagen kann. Als Marc Anton das erfuhr, daß sie nicht nur keine Zwillinge waren, sondern nicht einmal aus dem gleichen Land stammten und nicht unter dem gleichen König geboren waren, da wurde er sehr aufgebracht gegen jenen, der sie ihm verkauft hatte. Als ihm aber ein junger Schelm ausmalte, daß diese Ähnlichkeit um so bewundernswerter sei, als sie aus verschiedenen Ländern stammten und miteinander nicht verwandt waren, wurde er vollkommen besänftigt und machte dann viel Wesens daraus, so daß er lieber seinen ganzen Besitz verloren hätte als die zwei Knaben wegen ihrer seltenen Ähnlichkeit.

Was will ich damit anderes sagen, als daß das Gebot der Gottesliebe und das der Nächstenliebe sich so gleichen wie die zwei Knaben, von denen Plinius erzählt, obwohl sie aus den entferntesten Gegenden stammten. Ich bitte euch, welcher Abstand besteht doch zwischen der Unendlichkeit und dem Endlichen, zwischen der Gottesliebe, die einem unsterblichen Gott gilt, und der Nächstenliebe, die einem sterblichen Menschen gilt, zwischen der einen, die dem Himmel gilt, und der anderen, die der Erde gilt? Diese göttliche Ähnlichkeit ist also um so bewundernswerter. Deshalb müssen wir es machen wie Marc Anton: wir müssen die eine und die andere Liebe erwerben wie Zwillinge, die beide gleichzeitig aus dem Schoß der Barmherzigkeit unseres gütigen Gottes entsprungen sind; denn als Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schuf, da gebot er gleichzeitig, daß er Gott und ebenso seinen Nächsten liebe.

Das Naturgesetz hat das Herz aller Menschen stets diese zwei Gebote gelehrt. Auch wenn Gott sie nicht ausgesprochen hätte, wüßten doch alle, daß sie verpflichtet sind, sie zu erfüllen. Das sehen wir daran, daß der Herr die Antwort des unglückseligen Kain äußerst schlecht fand. Als er ihn fragte, was er mit seinem Bruder Abel getan habe, besaß er die große Frechheit, zu sagen, daß er nicht verpflichtet sei, ihn zu hüten (Gen 4,9). Keiner kann sich entschuldigen, er habe nicht gewußt, daß wir den Nächsten lieben müssen wie uns selbst, denn Gott hat diese Wahrheit auf dem Grund unseres Herzens eingeprägt, als er uns alle einander ähnlich geschaffen hat. Da wir alle in uns das Bild des Schöpfers tragen, sind wir folglich einer das Abbild des anderen und stellen alle nur das gleiche Bild dar, das Gott ist.

Da dem so ist, betrachten wir doch ein wenig, mit welchen Worten Unser Herr uns die Nächstenliebe geboten hat; auf diese stütze ich diese Erwägung. Er sagte zu seinen Aposteln (Joh 13,14): Ich gebe euch ein neues Gebot; es besteht darin, daß ihr einander liebt. Vor allem, warum nennt er dieses Gebot neu? Es war ja schon im mosaischen Gesetz (Lev 19,18) gegeben, und wie wir schon gesehen haben, war es selbst dem Naturgesetz nicht unbekannt, sondern bekannt und seit der Erschaffung des Menschen sogar von manchen befolgt worden. Unser göttlicher Meister nennt dieses Gebot neu, weil er es erneuern wollte. Wenn man viel neuen Wein in ein Faß gießt, in dem noch ein wenig alter Wein ist, dann sagt man nicht, das Faß enthalte alten Wein, sondern neuen, weil er an Menge den anderen unvergleichlich übertrifft. Ebenso nennt Unser Herr dieses Gebot neu, denn obwohl es vorher gegeben war, wurde es nur von einer sehr kleinen Zahl von Menschen befolgt, so daß man es ganz neu nennen konnte, weil er es in der Weise erneuern wollte, daß alle einander lieben.

Das taten die ersten Christen, die alle nur ein Herz und eine Seele waren (Apg 4,32). Sie wahrten so große Einheit miteinander, daß man bei ihnen nie eine Uneinigkeit untereinander sah; durch ihre Eintracht erfreuten sie sich auch des größten Trostes. Aus vielen Getreidekörnern, die gemahlen und miteinander geknetet werden, macht man ein einziges Brot, das aus all diesen Getreidekörnern zuammengesetzt ist, die vorher getrennt waren, die man aber jetzt nicht mehr trennen kann, so daß man sie jetzt nicht mehr einzeln feststellen und erkennen kann. Ebenso hatten diese Christen eine so glühende Liebe füreinander, daß alle ihren Willen und ihre Herzen auf heilige Weise miteinander verbunden und vereint hatten. Diese heilige Verbindung und Vereinigung brachte aber keinerlei Nachteil, denn es konnte dabei weder Uneinigkeit noch Trennung geben, so daß das aus all diesen Herzen geknetete Brot dem Geschmack der göttlichen Majestät überaus angenehm war.

Wir sehen auch, daß aus vielen Trauben, die miteinander gepreßt werden, nur ein Wein wird, und daß man nicht mehr feststellen kann, welcher Wein von diesem Rebstock oder von dieser Beere stammt, sondern daß alles miteinander vermengt nur einen Wein ergibt, der von vielen Rebstöcken und Trauben gewonnen wird. Ebenso bildeten die Herzen der ersten Christen, in denen die heilige Liebe und Zuneigung herrschte, nur einen Wein, der aus vielen Herzen wie aus vielen Trauben zusammengesetzt war. Was aber eine so große Einheit unter ihnen bewirkte, meine Lieben, das war nichts anderes als die heilige Kommunion (Apg 2,42; 1 Kor 10,17). Als sie aufhörte oder seltener wurde, begann die Liebe bei den Christen im gleichen Maß zu erkalten und sie verlor sehr an Kraft und Anmut.

Das Gebot der Nächstenliebe ist also neu aus dem Grund, den wir eben genannt haben, d. h. weil Unser Herr gekommen ist, es zu erneuern, und weil er bestätigt hat, daß er es besser als früher befolgt wissen wollte. Es ist auch deswegen neu, weil Unser Herr es gleichsam wiedererweckt hat, wie man einen Menschen neu nennen kann, der gestorben und auferstanden ist. Dieses Gebot war von den Menschen so sehr vernachlässigt worden, daß es schien, als sei es nie gegeben worden, so wenige erinnerten sich daran oder befolgten es gar. Unser Herr hat es also von neuem gegeben; also will er, daß es als etwas Neues, als ein neues Gebot treu und eifrig befolgt wird.

Es ist auch neu wegen unserer neuen Verpflichtungen, es zu befolgen. Was sind nun diese neuen Verpflichtungen, die Jesus Christus der Welt gebracht hat, um uns fügsam in der Befolgung dieses göttlichen Gebotes zu machen? Sie sind gewiß groß, da er selbst gekommen ist, um es uns zu lehren, nicht nur durch Worte, sondern viel mehr durch das Beispiel. Der überaus liebenswürdige göttliche Meister wollte uns nicht etwas malen lassen, ohne es vorher vor unseren Augen zu malen. Er hat uns kein Gebot gegeben, ohne es zuerst zu befolgen, ehe er es gab. Bevor er das Gebot der Nächstenliebe erneuerte, hat er uns geliebt und durch sein Beispiel gezeigt, wie wir es befolgen müssen, damit wir keine Entschuldigung haben, es sei etwas Unmögliches. Er hat sich im allerheiligsten Sakrament geschenkt und dann gesagt: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe (Joh 15,12). Die Menschen des Alten Bundes sind verdammt, wenn sie den Nächsten nicht geliebt haben, denn dazu verpflichtete sie entweder das Naturgesetz oder noch mehr das mosaische Gesetz. Aber die Christen, die nach dem Beispiel, das Unser Herr uns gegeben hat, einander nicht lieben und dieses göttliche Gebot der gegenseitigen Liebe nicht befolgen, werden zu einer ungleich größeren Strafe verdammt werden.

Die Menschen früher, ich will sagen, die vor der glorreichen Menschwerdung unseres teuren Erlösers und Meisters lebten, konnten eine gewisse Entschuldigung haben; denn wenn man auch damals schon wußte, daß Unser Herr kommen werde, indem er unsere menschliche Natur mit der göttlichen Natur vereinigt, um durch seinen Tod und seine Passion das Bild und Gleichnis Gottes wiederherzustellen, das uns eingeprägt ist, waren es doch nur einige der Größten, wie die Patriarchen und Propheten, die diese Erkenntnis besaßen, während die übrigen Menschen fast alle nichts davon wußten. Da wir aber jetzt wissen, nicht daß er kommen wird, sondern daß er gekommen ist und daß er uns von neuem diese heilige Liebe zueinander geboten hat, welche Strafe verdienen wir dann, wenn wir unseren Nächsten nicht lieben!

Dürfen wir uns also wundern, wenn der Vielgeliebte unserer Seelen will, daß wir einander lieben, wie er uns geliebt hat, da er uns so vollkommen in der Ähnlichkeit mit ihm wiederhergestellt hat, daß kein Unterschied mehr zu bestehen scheint? Gewiß, niemand kann daran zweifeln, daß das Abbild Gottes in uns vor der Menschwerdung des Erlösers nicht grundlegend verschieden war vom Abbild dessen, den wir darstellen und dessen Bild wir sein sollen. Ich frage euch, in welchem Verhältnis stehen denn Gott und das Geschöpf? Die Farben dieses Bildes waren unendlich matt und blaß; es hatte nur einige Züge, einige kleine Linien, wie man bei einem Porträt oder einem Gemälde sieht, das nur entworfen ist, wo die Farben noch nicht aufgetragen sind. Man erkennt nur einen ganz kleinen Schein und recht wenig von dem, was es darstellt. Als aber Unser Herr in die Welt kam, hat er unsere Natur dermaßen über alle Engel erhöht, über die Kerubim und alles, was nicht Gott ist. Er hat uns dermaßen ihm ähnlich gemacht, daß wir mit Gewißheit sagen können, wir gleichen Gott vollkommen, der Mensch wurde gleich uns, und uns die Ähnlichkeit mit ihm schenkte. Wie müssen wir daher unseren Mut aufrichten, um dem gemäß zu leben, was wir sind, und so vollkommen als möglich Den nachzuahmen, der gekommen ist, um uns zu lehren, was wir tun müssen, um in uns diese Schönheit der Gottähnlichkeit zu bewahren, die er in uns so vollständig wiederhergestellt und noch schöner gemacht hat.

Sagt mir also, wie muß die herzliche Liebe beschaffen sein, die wir zueinander haben müssen, nachdem Unser Herr uns alle in gleicher Weise wiederhergestellt und ihm ähnlich gemacht hat, ohne jemand auszuschließen? Man muß sich indessen stets vor Augen halten, daß man am Nächsten nicht lieben darf, was dieser Gottähnlichkeit widerspricht oder dieses heilige Bild trüben kann. Doch davon abgesehen, meine Lieben: müssen wir nicht den herzlich lieben, der uns so lebendig die heilige Person unseres Meisters vor Augen stellt? Ist das nicht einer der vordringlichsten Beweggründe, die wir haben können, um einander mit überaus glühender Liebe zu lieben? Ach, wenn wir unseren Nächsten sehen, müssen wir es da nicht machen wie der gute Raguel, als er den jungen Tobias sah? Als dieser im Auftrag seines Vaters nach Rages kam, begegnete er Raguel; als der ihn anschaute, sagte er zu seiner Frau: Mein Gott, dieser junge Mann erinnert mich sehr an unseren Vetter Tobit! Deshalb fragte er ihn, woher er sei und ob er nicht den Tobit kenne. Darauf antwortete der Engel, der ihn begleitete: Der mit dir spricht, ist sein Sohn; du kannst dir denken, daß wir ihn kennen! Da umarmte ihn der gute Raguel, von Freude ganz hingerissen, herzte und küßte ihn sehr zärtlich. Mein Kind, rief er, wie bist du doch der Sohn eines guten Vaters und wie gleichst du einem großen Mann! Dann nahm er ihn in sein Haus auf und bewirtete ihn überaus gut, entsprechend seiner Liebe zu seinem Vetter Tobit.

Nun denn, müssen wir es nicht ebenso machen, wenn wir einander begegnen? Wir müssen zu unserem Bruder sagen: Wie gleichst du doch einem großen guten Mann, denn du bist das Abbild meines Erlösers und Meisters! Und welch zärtliche Liebkosungen müssen wir einander geben auf die Versicherung hin, die er uns gibt oder die wir uns gegenseitig geben, daß wir das Abbild des Schöpfers recht gut erkennen und daß wir seine Kinder sind. Doch besser gesagt, wie liebevoll müssen wir den Nächsten aufnehmen, indem wir in ihm diese Gottähnlichkeit ehren und stets von neuem die zwei Bande der Liebe (Kol 3,14) knüpfen, die uns miteinander verbunden, zusammengefügt und vereinigt halten. Wandeln wir also auf dem Weg der Liebe als vielgeliebte Kinder Gottes, wie uns der heilige Apostel in der heutigen Epistel auffordert.

Wandelt aber auf ihm, sagt er weiter, wie Jesus Christus auf ihm wandelte, der sein Leben für uns hingegeben, d. h. es seinem Vater als Brandopfer und Opfergabe von süßem Wohlgeruch dargebracht hat. In diesen Worten erkennen wir den Grad, den unsere gegenseitige Liebe erreichen, und die Vollkommenheit, zu der sie gelangen muß, nämlich füreinander die Seele hinzugeben, das Leben, mit einem Wort alles, was wir sind, und alles, was wir haben, außer das Heil; Gott will ja, daß dies allein ausgenommen sei. Unser Herr hat sein Leben für jeden von uns hingegeben; er hat seine Seele hingegeben, seinen Leib und sich schließlich nichts vorbehalten; folglich will er nicht, daß wir uns irgendetwas vorbehalten, ausgenommen das ewige Heil.

Unser göttlicher Meister hat sein Leben nicht nur für uns hingegeben, indem er es damit verbrachte, die Kranken zu heilen, Wunder zu wirken und uns zu belehren, was wir tun müssen, um das Heil zu erlangen und ihm wohlgefällig zu sein. Er hat es vielmehr auch hingegeben, indem er während dessen ganzer Dauer das Kreuz zimmerte, da er abertausend Verfolgungen sogar von denen erduldete, denen er so viel Gutes tat, für die er sein Leben hingab. Wir müssen es ebenso machen, sagt der Apostel, d. h. wir müssen unser Kreuz zimmern, einander ertragen, wie es uns der Heiland gelehrt hat, müssen unser Leben hingeben selbst für jene, die es uns nehmen möchten, wie er es so liebevoll getan hat. Wir müssen es für den Nächsten einsetzen nicht nur in angenehmen Dingen, sondern in den beschwerlichsten und unangenehmsten, wie liebevoll die Verfolgungen zu ertragen, die unsere Liebe zu unseren Brüdern irgendwie erkalten lassen könnten.

Manche sagen: Ich liebe meinen Nächsten sehr und möchte ihm gern irgendeinen Dienst erweisen. Das ist recht gut, sagt der hl. Bernhard, aber es ist nicht genug; man muß noch weiter gehen. O, ich liebe ihn doch! Ich liebe ihn so sehr, daß ich gern all meinen Besitz für ihn verwenden möchte. Das ist mehr und schon besser, aber es ist noch nicht genug. Ich versichere Ihnen, ich liebe ihn so sehr, daß ich gern selbst meine Person für ihn einsetzen würde zu allem, was er von mir wünschen mag. Das ist gewiß ein sehr gutes Zeichen deiner Liebe, aber man muß noch weiter gehen, denn es gibt in dieser Liebe noch eine höhere Stufe, wie uns der hl. Paulus lehrt, wenn er (1 Kor 11,1) sagt: Ahmt mich nach, wie ich Jesus Christus nachahme. Und in einem anderen seiner Briefe (2 Kor 12,14f.19), wenn er zu seinen teuersten Kindern spricht und schreibt: Ich bin bereit, mein Leben für euch hinzugeben und mich so vollständig einzusetzen, daß ich keinerlei Vorbehalte mache, um euch zu beweisen, wie zärtlich und herzlich ich euch liebe. Ja, ich bin sogar bereit, durch euch oder für euch alles geschehen zu lassen, was man von mir will. Damit belehrt er uns, daß es nicht so viel ist, sich für den Nächsten einzusetzen, ja bis zur Hingabe seines Lebens, als sich nach dem Belieben der anderen verwenden zu lassen, sei es für sie oder durch sie.

Das hatte Paulus von unserem göttlichen Erlöser gelernt; der hatte sich selbst für unser Heil und unsere Erlösung eingesetzt und ließ sich dann verwenden, um diese Erlösung zu vollenden und uns das ewige Leben zu erwerben, indem er sich sogar von denen ans Kreuz schlagen ließ, für die er starb. Er hatte sich selbst sein Leben lang eingesetzt, aber bei seinem Tod ließ er sich einsetzen und alles geschehen, was man wollte, nicht durch seine Freunde, sondern durch seine Feinde, die ihn in unerträglicher Wut töteten. Er leistete trotzdem keinen Widerstand und weigerte sich nicht, sich von jedem führen und behandeln zu lassen, wie es die Grausamkeit diesen Unglücklichen eingab (Jes 1,5). Er sah darin den Willen seines himmlischen Vaters, der bestimmte, daß er für die Menschen starb. Diesem Willen unterwarf er sich mit unvergleichlich großer Liebe, die viel mehr angebetet zu werden verdient, als man sich vorstellen und begreifen kann. Zu dieser höchsten Stufe der Vollkommenheit sind die Ordensleute und wir alle, die wir dem Dienst Gottes geweiht sind, zu dieser höchsten Stufe der Nächstenliebe, sage ich, sind wir berufen und nach ihr müssen wir mit allen Kräften streben. Wir müssen uns nicht nur für sein Wohl und zu seinem Trost einsetzen, sondern müssen uns für ihn verwenden lassen durch den hochheiligen Gehorsam, ganz wie man will, ohne uns je zu widersetzen. Wenn wir uns selbst einsetzen, bringt das, was wir nach der Entscheidung unseres Willens oder nach eigener Wahl tun, unserer Eigenliebe stets große Genugtuung. Uns aber zu Dingen verwenden zu lassen, die man will, die nicht wir wollen, d. h. die wir nicht wählen, darin liegt die höchste Stufe der Selbstverleugnung, die unser Herr und Meister uns durch seinen Tod gelehrt hat. Wir möchten predigen, und man schickt uns zum Krankendienst; wir möchten für den Nächsten beten, und man schickt uns, dem Nächsten zu dienen. Was man uns tun heißt, ist stets unvergleichlich mehr wert (ich meine, was nicht im Widerspruch zu Gott steht und ihn nicht beleidigt) als das, was wir selbst tun oder wählen.

Liebt also einander, sagt der hl. Paulus, wie Unser Herr uns geliebt hat. Er hat sich als Sühnopfer dargebracht; das geschah, als er am Kreuz sein Blut bis zum letzten Tropfen über die Erde ergoß, damit es gleichsam ein heiliges Bindemittel bilde (Kol 1,20), durch das er alle Bausteine seiner Kirche, nämlich die Gläubigen, miteinander vereinigen, verbinden und zusammenhalten wollte, damit sie so vereinigt seien, daß es unter ihnen nie irgendeine Trennung gebe; so sehr fürchtete er, daß diese für sie die Ursache ewiger Trauer werde. Wie dringlich ist doch dieser Beweggrund, um uns zur Liebe dieses Gebotes und zu seiner genauen Befolgung anzuspornen. Wir wurden in gleicher Weise mit diesem kostbaren Blut getränkt als mit einem heiligen Bindemittel, um unsere Herzen miteinander zu verbinden und zu vereinigen. Wie groß ist doch die Güte Gottes!

Unser Herr wurde seinem göttlichen Vater auch für uns dargebracht oder hat sich geopfert als wohlduftende Opfergabe. Welch göttlichen Duft verbreitete er doch, als er das allerheiligste Sakrament des Altares einsetzte, in dem er uns die Größe seiner Liebe so wunderbar bezeugt! Diese Tat der Vollendung verbreitete einen unvergleichlichen Wohlgeruch; durch sie gab er sich uns hin, die wir seine Feinde waren und seinen Tod verschuldet haben; und damals gab er uns das Mittel, das zu erreichen, was er uns wünschte, nämlich eins mit ihm zu werden, wie er und sein Vater eins sind, d. h. das Gleiche. Darum hat er seinen himmlischen Vater gebeten oder wollte ihn bitten, und gleicherweise und gleichzeitig fand er, wie das geschehen kann. O unvergleichliche Güte, wie verdienst du geliebt und angebetet zu werden!

Wie weit hat die Größe Gottes sich erniedrigt für jeden von uns und wie weit will er uns erhöhen! Uns so vollkommen mit sich zu vereinigen, daß er uns zu ein und demselben mit ihm macht. Das hat Unser Herr gewollt, um uns zu belehren, daß wir, wie wir alle mit der gleichen Liebe geliebt werden, mit der er uns alle im heiligsten Sakrament umfängt, nach seinem Willen uns lieben sollen mit der gleichen Liebe, die nach Einigung strebt, aber nach der denkbar größten und vollkommensten Einheit. Wir alle werden mit dem gleichen Brot genährt (1 Kor 10,17), nämlich mit dem himmlischen Brot der göttlichen Eucharistie, mit der Speise, die Kommunion heißt und, wie wir gesagt haben, die allgemeine Einheit darstellt, die wir miteinander haben müssen. Ohne diese Einheit verdienen wir nicht, den Namen von Kindern Gottes zu tragen, weil wir ihm nicht entsprechen.

Kinder, die einen guten Vater haben, müssen ihn nachahmen und seinen Geboten in allem folgen. Wir haben nun einen Vater, der besser ist als jeder andere, von dem alle Güte kommt (Jak 1,17). Seine Gebote können nur sehr vollkommen und heilsam sein; deshalb müssen wir ihn möglichst vollkommen nachahmen und ebenso seinen göttlichen Anordnungen gehorchen. Aber unter all seinen Geboten ist keines, auf das er solchen Nachdruck gelegt und von dem er sein Verlangen nach einer genauen Befolgung so klar bezeugt hat, wie das der Nächstenliebe. Das bedeutet nicht, daß das Gebot der Gottesliebe nicht den Vorrang hätte; da aber für die Befolgung des Gebotes der Nächstenliebe die Natur weniger hilfreich ist als für das andere, war es notwendig, daß wir dazu in besonderer Weise angespornt werden.

Lieben wir also einander mit der ganzen Fülle des Herzens, um unserem himmlischen Vater zu gefallen, doch lieben wir einander auf vernünftige Weise. Das bedeutet, daß unsere Liebe von der Vernunft geleitet werden soll; sie will, daß wir die Seele des Nächsten mehr lieben als seinen Leib; daß wir dann auch den Leib lieben und hernach in rechter Ordnung alles, was dem Nächsten gehört, alles nach Gebühr, zur Erhaltung dieser Liebe.

Wenn wir das tun, mit wieviel Recht und gewiß nicht ohne großen Trost können wir dann den Psalm (133) singen, dessen Betrachtung dem großen hl. Augustinus so lieblich war: Ecce quam bonum! Wie gut ist es, die Brüder beisammen wohnen zu sehen in heiliger Einheit, in Eintracht und Frieden, denn sie sind wie kostbares Öl, das ausgegossen wird über das Haupt des Hohepriesters Aaron, das dann herabfließt über seinen Bart und seine Kleider. Unser göttlicher Meister ist der Hohepriester, über den das unvergleichlich kostbare und duftende Öl der heiligen Liebe, sowohl zu Gott als zum Nächsten, ausgegossen wurde. Wir sind gleichsam die Haare seines Hauptes sowie seines Bartes. Oder wir können vielmehr in den Aposteln den Bart Unseres Herrn sehen; er ist unser Haupt, wir seine Glieder (1 Kor 12,12-17; Eph 4,15; Kol 1,18). Sie waren gleichsam mit seinem Gesicht verwachsen, da sie sein Beispiel und seine Wunder sahen, seine Lehren unmittelbar aus seinem heiligen Mund vernahmen. Was uns betrifft, hatten wir nicht diese Ehre, sondern haben von den Aposteln gelernt, was wir wissen. Wir sind also gleichsam die Kleider unseres Hohepriesters, unseres Erlösers; auf sie fließt gleichwohl auch dieses kostbare Salböl der überaus heiligen Liebe herab, die er uns so sehr empfohlen und befohlen hat. Das hat uns auch sein heiliger Apostel in deutlicheren Ausdrücken gesagt, da er nicht wollte, daß wir uns damit befassen, in dieser so notwendigen Übung die Engel und die Kerubim nachzuahmen, sondern Unseren Herrn selbst, der sie uns viel mehr durch Werke als durch Worte gelehrt hat, vor allem, als er ans Kreuz geheftet war.

Am Fuß dieses Kreuzes müssen wir uns ständig aufhalten als an dem Ort, an dem die Nachahmer unseres erhabenen Meisters und Erlösers hauptsächlich ihren Aufenthalt nehmen. Hier empfangen sie ja dieses himmlische Öl der heiligen Liebe, das wie eine heilige Quelle mit aller Macht dem Herzen des göttlichen Erbarmens unseres gütigen Gottes entströmt. Er hat uns geliebt mit einer so starken, beständigen, so glühenden und beharrlichen Liebe, daß selbst der Tod sie nicht erkalten lassen konnte, sondern sie im Gegenteil angefacht und grenzenlos vermehrt hat. Die Wasser der bittersten Trübsal vermochten das Feuer seiner Liebe zu uns nicht auszulöschen (Hld 8,6f), so glühend war sie; und die schlimmsten Verfolgungen seiner Feinde waren nicht stark genug, um die unvergleichliche Gediegenheit und Festigkeit der Liebe zu überwinden, mit der er uns geliebt hat. So muß unsere Liebe zum Nächsten sein: stark, glühend, gediegen und beständig. – – –


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