Annecy, 3. März 1594 (Fragment) (OEA VII,142-145; DASal 9,43-45)
Ich liebe die Zierde deines Hauses und die Stätte deiner Herrlichkeit (Ps 26,8). Selig, die in deinem Haus wohnen, Herr (Ps 84,5).
Nun nimmt er sich vor, nicht mehr zu sündigen; er bedauert, sein Paradies verloren zu haben, und beklagt seinen Verlust. Dann blickt er nach oben und sieht den Himmel geöffnet mit dem Schlüssel des Kreuzes (Jes 22,22). Er steigt auf den Hügel der Hoffnung, der mit Blumen bedeckt ist und erfüllt vom Duft der Oliven der Gnade und des Lorbeers der Glorie. Da atmet die Seele auf; der Geist erwacht, um sich dem Paradies zuzuwenden und die Sünde zu verlassen. Wer an die Freuden der Sünde gewöhnt ist, beginnt auf diesem Hügel der Hoffnung bereits die Freuden der Gnade zu ahnen, zu fühlen und zu verkosten. Er bedauert unendlich die verlorene Zeit; und wenn er den ewigen Lohn der Tugend bedenkt, kann er mit Recht sagen: Meine Augen schmachten nach deinem Wort, und sagen: Wann wirst du mich trösten? (Ps 119,82). Meine Augen werden schwach, wenn sie zum Himmel aufschauen (Jes 38,14). Wer gibt mir Schwingen gleich der Taube, daß ich fliege? (Ps 55,7)
Der hungrige Sperber späht nach der schönen Beute aus, will sich im Flug auf sie stürzen und sie ergreifen, um seinen Hunger und seine Gier zu stillen. Wenn er sich beim ersten Aufschwung gefesselt fühlt, schlägt er zornig mit den Flügeln und zappelt mit den Füßen, um seine Fesseln zu sprengen. So ergeht es auch der Seele, die auf diesem grünen, freundlichen Hügel der Hoffnung angekommen ist: sie sieht das Paradies, das ihr zur Beute gegeben ist, und versucht sich zu erheben. Da fühlt sie sich durch die Sünde gefesselt, unfähig, es zu erreichen. Welches Leid! Ihr fehlen weder die Flügel noch der Mut. Laßt uns die Fesseln sprengen (Ps 2,3). Der Herr befreit die Gefesselten (Ps 146,7). Nun beginnt sie sich zu bewegen. Sie will einerseits die Hölle fliehen, andererseits die Beute erringen. So gerät sie in den heiligen und gerechten Zorn der Reue. Doch stellt euch vor, der Sperber könnte sprechen und hätte Verstand, oder vielmehr, einer könnte für ihn sprechen; würde er dann nicht dem Herrn sagen: Laß mich frei, ich bitte dich. Ich werde nicht mehr auf Abwege geraten; ich will stets zu dir zurückkehren. Wenn sich die fromme Seele, die ja Verstand besitzt, gefesselt fühlt, macht sie es nicht wie der Vogel, der nur um sich schlagen kann. Sie schaut vielmehr auf ihren Herrn und sagt: Herr, befreie mich. Herr, meine Tochter wird von einem bösen Geist geplagt (Mt 15,22). Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele; mein Gott, auf dich vertraue ich; nie werde ich zuschanden werden (Ps 25,1f).
Von da gelangt die Seele auf den Berg der Liebe. Sie sieht, daß ihr Herr bereit ist, sie trotz all ihrer Sünden aus der Hölle zu befreien und ihr das Paradies zu schenken. So beginnt sie seine Güte zu bewundern: Israel, wie gut ist Gott denen, die aufrechten Herzens sind (Ps 73,1). Wäre ich so weise gewesen, seine Gebote zu befolgen, dann dürfte ich mich jetzt seiner Gunst erfreuen. Wie gut ist er: Preiset den Herrn, denn er ist gut (Ps 18,1). Und dann plötzlich ist er da, mitsamt der Anmut der Liebe: Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke (Ps 18,1). Ich liebe, weil der Herr mich erhören wird (Ps 116,1). Von diesem Berg aus betrachtet sie von neuem ihre Sünden, die sie verachtet: Ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir. Herr, ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu heißen (Lk 15,21). Ich bin nicht würdig, daß du eingehst unter mein Dach (Mt 8,8). Geh nicht ins Gericht mit deinem Diener, Herr (Ps 143,2). Erbarme dich meiner, Herr, nach deiner großen Barmherzigkeit (Ps 51,1). Wie konnte ich nur die Stirn haben, eine solche Güte zu beleidigen? Wie konnte es geschehen, daß ich erst jetzt von so großer Bosheit mich abwende?
Vielleicht kannst du noch nicht zum Himmel aufsteigen, um die Güte Gottes zu betrachten; dann schau sie in ihrem Spiegelbild. Der Spiegel der Güte Gottes (Weish 7,26) ist die Passion des Erlösers Jesus. Betrachte diesen schönen, jungen und edlen Mann, die Zierde der Welt, die vollkommene Güte, die Wonne der Engel, der auf die Erde kam, und frage: Warum ist der König des Himmels auf die Erde gekommen? Die Engel werden dir antworten: So sehr hat Gott die Welt geliebt (Joh 3,16). Und ist er freiwillig auf die Erde gekommen? Ganz freiwillig: freudig, wie ein Krieger seine Bahn durchläuft (Ps 19,6). Und warum? So sehr hat Gott ... Doch wenn er schon kommen wollte, warum kam er dann nicht in Herrlichkeit, leidensunfähig? Um unser aller Sünden zu tragen (Jes 53,5.6.11). Und hat er das gerne getan? So gern, daß er mit großer Sehnsucht dieses Pascha erwartet hat (Lk 22,15). Warum? Weil Gott die Welt so sehr geliebt hat. Warum aber wird er dann traurig im Ölgarten, in den ich mit ihm gekommen bin? Um dir zu zeigen, daß er wirklich leidet, und weil er andererseits sieht, daß du seine Erlösung so mißachtest, und weil es wenige Menschen gibt, die tatsächlich auf sie rechnen. Warum wollte er aber so viel leiden? Weil Gott die Welt so sehr geliebt hat.
Wohlan, meine Seele, richte dich auf. Wenn Gott die Welt so sehr geliebt hat, daß er seinen Sohn gesandt hat, um dich von deinen Sünden reinzuwaschen, so bereue, beklage und beweine die Sünden, die du begangen hast, und verlaß von nun an nie mehr deinen guten Herrn. Sag ihm Dank für die Vergangenheit; für die Zukunft versprich ihm, daß du die nächste Gelegenheit zur Beichte nützen willst. Um nicht undankbar zu sein, führe ein Leben wahrer Buße; verbringe deine Tage in Reue, Buße und Genugtuung. Meine Brüder, wenn ihr diese Gesinnung habt, dann seid ihr gut auf dem Ölberg angekommen, d. h. in Frieden und Gnade. Wenn ihr noch nicht so weit seid, dann verbringt diese Woche in der Verachtung eurer Sünden, und ich bin sicher, wenn Gott euch dazu hilft, werdet ihr dort ankommen und die gütige Stimme des Erlösers vernehmen: Seele, dein Glaube ist groß; es sei dir gewährt, worum du bittest (Mt 15,28).
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