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Zum Fest aller Heiligen

Annecy, 1. November 1621 (OEA IX,133-146; DASal 9,402-413)

Das erste Fest, das je gefeiert wurde, war ein Fest des Wohlgefallens. In der Genesis (1,4.10.12) heißt es: Als Gott Himmel und Erde erschaffen hatte, betrachtete er sie, fand sie gut und fand daran Gefallen; denn als er das Licht betrachtete, sagte er, daß es gut sei; als er dann das Land sah wie eine Pflanzstätte von Bäumen, Kräutern und Pflanzen, und das Meer mit allen Fischen, sagte er von neuem, daß es gut sei. Als aber die göttliche Majestät, wie die alten Väter bemerken, Mesopotamien abgesondert und das irdische Paradies geschaffen hatte, erschuf er den Menschen (Gen 1,27), dann nahm er eine seiner Rippen und machte daraus die Frau (2,21f). Als er darauf sein ganzes Werk betrachtete, fand er es nicht nur gut, sondern mehr als sehr gut (1,31). Das ist das Wohlgefallen.

Die heilige Kirche nun, die nicht nur die Braut Unseres Herrn ist, sondern ihn auch nachahmt, will sich in allem und durch alles ihm angleichen; so feiert sie die Feste der Heiligen mit wunderbarer Freude. Wenn sie diese einzeln betrachtet und ehrt, indem sie auf die Glut der Märtyrer schaut, auf die Liebe der Apostel, die Reinheit der Jungfrauen, sagt sie nach dem Vorbild des Schöpfers, daß dies gut ist; wenn sie aber alles zusammenfaßt und ein Fest für alle miteinander feiert, die Kronen, die Siegespalmen und Triumphe aller Heiligen betrachtet, empfindet sie darüber unvergleichliches Wohlgefallen und ruft aus: Wie gut ist das, aber mehr als sehr gut! Das ist das Fest, das wir heute feiern.

Es gibt mehrere Gründe für seine Einsetzung; ich will mich aber damit begnügen, nur über einen zu sprechen, der grundlegend ist. Es wurde eingeführt, um viele heilige Männer und Frauen zu ehren, die im Himmel sind, deren Namen aber hier auf Erden nicht bekannt sind, so daß die Kirche ihr Fest nicht gesondert feiern kann. Glaubt nicht, daß es die Wunder und die außergewöhnlichen Berufungen sind, die alle heilig werden ließen, die im Himmel sind. O nein, denn es ist wahr, daß es dort eine unendliche Zahl gibt, die in diesem Leben unbekannt waren, die keine Wunder gewirkt haben, deren man auf Erden keinerlei Erwähnung tut, die dennoch jene überragen, die viele Wunder gewirkt haben und in der Kirche Gottes verehrt wurden und werden. Es war in der Tat ein Werk der göttlichen Vorsehung, die Heiligkeit des hl. Paulus, des ersten Eremiten, offenkundig und bekannt zu machen, der so verborgen und wenig beachtet in der Wüste lebte. O Gott, was meint ihr, wie viele Heilige es gab in Höhlen, in Geschäften, in frommen Häusern und Klöstern, die unbekannt gestorben und jetzt in der Herrlichkeit über jene erhöht sind, die auf Erden sehr bekannt waren und verehrt wurden?

Deshalb blickt die Kirche auf das Fest, das im Himmel gefeiert wird, und begeht ein solches auf Erden, in dem sie jene preist, die sie kennt, ebenso aber jene, von denen sie weder den Namen noch das Leben kennt.

Man bewundert die wunderbare Beziehung und Wechselwirkung zwischen Himmel und Erde, die so eng ist, daß man sagen kann, der Himmel ist der Gatte der Erde, die nichts hervorbringen kann, außer durch die Einwirkung, die sie von ihm erfährt. Ich will hier nicht von den Einflüssen sprechen, die die Astrologen behandeln; das ist hier nicht am Platz. Ich spreche von denen, die nach den Platonikern der Himmel auf die Erde ergießt, die sie Früchte, Bäume und Pflanzen hervorbringen lassen. Und was gibt die Erde dem Himmel als Entgelt? Sie breitet vor ihm die Pflanzen, Blumen und Früchte aus und schickt Düfte zu ihm empor, die wie Weihrauch aufsteigen, und der Himmel nimmt sie auf. Mit einem Wort, es ist herrlich, die Wechselwirkung zwischen Himmel und Erde zu sehen.

O Gott, wieviel wunderbarer ist es noch, die Beziehung zwischen dem himmlischen und dem irdischen Jerusalem zu erwägen, zwischen der triumphierenden und der streitenden Kirche (Hebr 8,5). Die streitende Kirche tut hier auf Erden, wovon sie glaubt, daß es in der triumphierenden oben geschieht. Und wie eine gute Mutter entnimmt sie dem himmlischen Jerusalem, was sie kann, um damit ihre Kinder zu ernähren. Sie bemüht sich, sie zu erziehen und soviel als möglich den Bewohnern des Himmels gleichförmig zu machen. Wenn sie daher sieht, wie dort das Martyrium und der Triumph jedes einzelnen Heiligen gefeiert wird, tut sie hier unten das gleiche. Wie besingt sie die Glut und Standhaftigkeit des hl. Laurentius, wie bewundert sie einen hl. Bartholomäus und so die anderen! Da sie aber sieht, welche Freude darüber hinaus im Himmel über alle im allgemeinen herrscht, hat auch sie eine Festfeier mit diesem Ziel eingesetzt; das ist jene, die wir heute begehen. Das will sie uns am Beginn der heiligen Messe dieses Tages zu verstehen geben, wenn sie sagt: „Freuen wir uns über das Fest aller Heiligen“, besingen wir ihren Triumph und Sieg, und andere Worte der Freude und des Jubels. Ich will also so kurz als möglich einiges darüber sagen, was man tun muß, um dieses Fest recht zu feiern, und das auf drei Punkte zurückführen: einen ersten, den ich ausführen will, und zwei weitere, die ich davon ableiten werde.

Gott hat von aller Ewigkeit gewünscht, uns seine Gnade zu schenken und uns die Wirkungen seiner Barmherzigkeit erfahren zu lassen, folglich auch die seiner Gerechtigkeit, durch die er uns seine Glorie verleihen will. Dazu wünscht er, daß wir uns der Anrufung der Heiligen bedienen; sie sollen unsere Fürsprecher sein und „wir sollen durch ihre Vermittlung empfangen, was wir nicht zu erlangen verdienen“ ohne sie (Miss.). Nun lieben uns die seligen Geister, die Kerubim, die Serafim und alle übrigen Engel überaus und wünschen uns nicht nur die himmlischen Gunsterweise, sondern erwirken sie uns auch, gedrängt durch das Motiv der Liebe. Die Liebe zum Nächsten entspringt ja aus der Liebe zu Gott als ihrer Wurzel und Quelle. So geht auch aus der großen Liebe der Seligen zu unserem Erlöser und Meister der überaus lebhafte Wunsch hervor, er möge uns seine Gnade in dieser Welt und seine Glorie in der anderen schenken und verleihen. In Wahrheit empfangen wir die Gnade von seiner Barmherzigkeit und die Glorie von seiner Gerechtigkeit. Indessen ist seine Barmherzigkeit so groß, daß sie über allem steht (Ps 145, 9; Jak 2,13); folglich erhalten wir die Glorie von der einen und der anderen. Der Gerechtigkeit ist es eigen, jene zu belohnen, die sich bemühen, das Reich Gottes zu gewinnen, denn die göttliche Majestät hat uns auf die Erde gestellt, wo wir Verdienst oder Schuld erwerben können. Der Lohn, den er uns für unsere Anstrengung und Mühe gibt, ist indessen unendlich größer als unsere Verdienste, und darin erstrahlt seine große Barmherzigkeit.

Die Heiligen haben aber noch ein anderes Motiv, das sie veranlaßt, Gott zu bitten und zu wünschen, daß er uns seine Gnade schenkt: sie sehen in ihm das lebhafte Verlangen, sie uns mitzuteilen. Das bewirkt, daß sie uns diese wünschen und erwirken mit einer um so größeren Liebe, je größer sie den Wunsch in Gott sehen. Das ist ihr hauptsächliches und vorzügliches Motiv. Sie wissen, daß wir für die ewige Glorie geschaffen sind, daß Unser Herr uns deshalb erlöst hat und nichts sehnlicher wünscht, als daß wir uns der Früchte der Erlösung erfreuen; deshalb gleichen sie ihren Wunsch und ihre Liebe der göttlichen Majestät an in dem, was unser Heil betrifft, wie in allem. O Gott, diese Liebe bringt die zum Nächsten hervor und bewirkt, daß man sich bemüht, ihm zu helfen, daß man sich selbst vergißt, um ihm zu dienen.

Man muß also die Heiligen bitten und anrufen. Das ist die Art, wie man ihre Feste feiern muß, indem man ihren Beistand erbittet und sich seiner bedient, um die Gnaden und Gunsterweise zu erlangen, die wir nötig haben. Unserem Herrn hat es so gefallen, daß man sich der Anrufung der Heiligen bedient, daß er uns, wenn er uns eine Gnade gewähren will, oft dazu anregt, zu ihrer Vermittlung Zuflucht zu nehmen, damit er uns gewährt, was wir erbitten. Er selbst fordert sie auf zu bitten, indem er ihnen sein Verlangen bezeugt, daß sie die Gnaden erwirken, deren wir bedürfen. So beschwört auch die Kirche Unseren Herrn, die Heiligen anzuregen, daß sie für uns bitten (Miss.). Wir müssen uns also mit vollem Vertrauen an sie wenden, vor allem an ihrem Festtag, denn ohne Zweifel erhören sie uns und tun gern, um was wir sie anflehen.

Da wir vom Gebet sprechen, müssen wir sagen, daß daran drei Personen beteiligt sind: die erste ist jene, die man bittet; die zweite jene, durch die man bittet; die dritte jene, die bittet. Die erste, die man bittet, kann stets nur Gott sein, denn er besitzt in sich alle Schätze der Gnade und der Glorie. Wenn wir also die Heiligen bitten, so bitten wir sie nicht, daß sie uns eine bestimmte Tugend oder Gnade gewähren oder zuteilwerden lassen, obwohl sie uns das erwirken; denn es steht nur Gott allein zu, seine Gnaden zu schenken, wie es ihm gefällt und wem er will.

Nun kann man Gott auf zweierlei Weise bitten, nämlich unmittelbar und mittelbar. Unmittelbar heißt, direkt mit Gott sprechen, ohne Vermittlung eines Geschöpfes. Das tat der Hauptmann (Mt 8,6.8), der Zöllner (Lk 18,13), die Samariterin (Joh 4,15), die Kanaanäerin (Mt 15,22-27) und mehrere andere, von denen wir in der Heiligen Schrift lesen, daß sie Unseren Herrn direkt gebeten und von ihm große Gnaden empfangen haben wegen der Demut, mit der sie ihre Bitten vorbrachten. Seht den guten Abraham; was sagt er? Ich will zu meinem Herrn sprechen, obwohl ich nur Staub und Asche bin (Gen 18,27), so als wollte er sagen: Ach, es ist wahr, dieser Gott, zu dem ich sprechen will, ist sehr erhaben und ich bin nichts als Staub, Asche und Unrat und ohne Wert. Trotzdem will ich mit meinem Herrn sprechen, weil er mein Schöpfer ist und ich sein Geschöpf. Der Zöllner empfing die Vergebung seiner Sünden, ebenso die Samariterin und viele andere, denn Gott kann schenken, was ihm beliebt, ohne daß er der Hilfe und Unterstützung irgendeines Geschöpfes bedürfte.

Gott mittelbar bitten heißt, sich an ihn wenden durch Vermittlung der Heiligen und der seligsten Jungfrau, wie es der Hauptmann (Lk 7,3-7) gemacht hat, der seine Freunde schickte, um Unseren Herrn zu beschwören, er möge kommen und seinen Diener heilen. Nachdem die Kanaanäerin den Heiland unmittelbar gebeten hatte und sich von ihm zurückgewiesen sah, sprach sie zu ihm mittelbar durch Vermittlung der Apostel, die sie bat, ihre Fürsprecher zu sein (Mt 15,23). Diese Art zu bitten ist gut und sehr verdienstvoll, denn sie ist demütig. Sie geht von der Erkenntnis unserer Unwürdigkeit und Nichtigkeit aus. Da wir uns Gott nicht zu nahen wagen, um von ihm zu erbitten, was wir nötig haben, läßt uns die Demut uns an die Heiligen wenden. So werden unsere Gebete, die in sich schwach und von geringem Wert sind, mit denen dieser Heiligen vereinigt und werden große Kraft und Wirkung haben.

Das unmittelbare Gebet ist ganz kindlich, voll Liebe und Vertrauen; es richtet sich an Gott als unseren Vater und unseren höchsten Herrn. Unser Herr selbst hat uns diese Art gelehrt im Gebet des Herrn (Mt 6, 9-13; Lk 11,2-4), das mit dem Wort Unser Vater beginnt. O Gott, wie erfüllt von Liebe ist dieses Wort und wie erfüllt es das Herz mit Süßigkeit und kindlichem Vertrauen! Das könnt ihr erkennen an den Bitten, die in diesem Gebet ausgesprochen werden. Nachdem man Gott mit dem Namen Vater angeredet hat, bittet man ihn um sein Reich und daß sein Wille geschehe hier auf Erden, wie er im Himmel oben geschieht. Wie groß sind diese Bitten, wie erfüllt von Liebe und Vertrauen!

Die zweite Person, die am Gebet beteiligt ist, ist jener, der verlangt. Beachtet, ich sage nicht, „der bittet“, sondern „der verlangt“, denn es ist ein Unterschied zwischen bitten und verlangen. Der Herr verlangt wohl von seinem Diener, aber er bittet ihn nicht; im Gegenteil, wenn er etwas von ihm verlangt, befiehlt er ihm gewissermaßen, es ihm zu geben. Ein anderer wird verlangen, was man ihm schuldet; der bittet nicht wie beim Gebet, sondern fordert, was ihm von Rechts wegen zusteht. In der scholastischen Theologie wurde die Frage erörtert, ob Unser Herr als Mensch jetzt für uns bittet, denn er ist unser Anwalt (1 Joh 2,1) und Mittler (1 Tim 2,5; Hebr 9,15; 12,24). Auch die Anwälte müssen ebenso bitten wie die Mittler. Das wurde unter den Theologen heftig diskutiert. Mir scheint aber, man muß sich dabei darauf berufen, was unser göttlicher Meister erklärt hat: Ich sage nicht, daß ich für euch bitten werde (Joh 16,26). Es ist ja ein Unterschied zwischen bitten und verlangen, wie wir eben gesagt haben. Es gibt keinen Zweifel, daß unser Herr Jesus Christus nicht um das Himmelreich für uns bittet, das ihm gehört und das er für uns um den Preis seines Blutes und seines Lebens erkauft hat; deshalb verlangt er es als etwas, das ihm von Rechts wegen zusteht. Ebenso ist es mit den anderen Forderungen, die er an seinen Vater richtet. Man mag entgegnen, daß er diese Forderungen in der Form des Flehens und der Bitte ausspricht, indem er sich zu unserem Mittler macht. Ich bin kein streitlustiger Mensch; soviel steht fest: was er für uns verlangt, gehört ihm von Rechts wegen.

Die dritte Person, die am Gebet beteiligt ist, ist das vernunftbegabte Geschöpf. Doch lassen wir alles beiseite, was man dazu sagen könnte, und sagen wir nur, daß wir diese dritte Person sind. Wir Christen, die wir in diesem Tal des Elends leben, bitten und schicken unser Flehen und unsere Seufzer zum Himmel; wir erflehen die Hilfe Gottes und bitten um seine Gnade. Dazu bedienen wir uns der Anrufung der Heiligen. Wir flehen sie an, für unsere Anliegen einzutreten, da wir Fremdlinge und Pilger auf dieser Erde sind (Ps 39,13; Hebr 1,13; 1 Petr 2,11); wir bitten, daß sie uns helfen, zur Glückseligkeit zu gelangen, deren sie sich erfreuen.

Aber ach, wir sind armselige Menschen! Unsere Gebete sind so kalt und schwach, nachlässig und lau. Zwischen den Gebeten der Seligen und den unseren besteht wahrhaftig ein Unterschied und ein Mißverhältnis. O Gott, die glorreichen Heiligen beten ständig und unablässig, ihre Glückseligkeit ist es, immerwährend das Lob Gottes zu singen, aber mit solcher Glut, tiefer Demut, Liebe und Festigkeit, daß es von unvergleichlichem Wert ist. Wenn unser armseliges, geringes und unreines Gotteslob sich mit dem ihren verbindet, gewinnt es eine wunderbare Kraft und Wirksamkeit. Damit ist es so wie mit einem Tropfen Wasser, der in ein Faß Wein fällt: er hört auf zu sein, was er war, und verwandelt sich in Wein. Wenn unsere Gebete in Verbindung mit denen der glorreichen Heiligen vor die göttliche Majestät gelangen, verlieren sie ebenso ihre Schwäche und nehmen die Kraft, Stärke und Wirksamkeit der ihren an. Durch diese himmlische Verbindung werden sie kostbar vor Gott und verdienstvoll für uns und unseren Nächsten; denn die göttliche Güte und Liebe will nicht, daß man sich nur für sich bemüht, sondern auch für den Nächsten.

Wie wir sagten, wünschen und bitten die Heiligen im Himmel unablässig, daß wir die Früchte der Erlösung genießen und auf diese Weise zur Glückseligkeit gelangen, die sie besitzen. Dazu werden sie gedrängt durch jene Liebe, die nicht eifersüchtig ist (1 Kor 13,4), die kein anderes Ziel hat als die Ehre Gottes; deshalb wünschen sie, daß wir sie besitzen. Das war der zweite Punkt, daß die Seligen um so glühender und inniger für uns bitten, als sie im Wesen Gottes klarer sehen, wie sehr seine Güte unser Heil und unser Glück wünscht. Das gleiche müssen wir für unseren Nächsten tun, indem wir uns seinem Dienst widmen und ihm helfen, sich zu retten, mit einer Liebe, die nicht eifersüchtig oder neidisch ist, sondern auf Gott allein schaut und kein anderes Streben kennt, als ihn zu verherrlichen.

Wenn wir doch ein wenig begreifen könnten, wie groß diese Liebe der Heiligen ist und mit welcher Glut und Demut sie ihre Gebete begleiten! Wir hätten gewiß allen Grund, uns zu demütigen, wenn wir die geringe Demut, die sich in unseren Gebeten findet, mit jener vergleichen wollten, die sie mit den ihren verbinden. Wir würden sehen, wie groß auch die Demut sein mag, die unsere Gebete begleitet, sie wäre nichts im Vergleich mit jener, die sie im Himmel üben. Die Demut der Seligen entspringt ihrer überaus klaren Erkenntnis ohne Schatten und Gleichnis (1 Kor 13,4; 1 Joh 3,2) von der Erhabenheit und Wesenheit Gottes, vom unendlichen Abstand zwischen Gott und dem Menschen, zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf; und je höher der Grad ihrer Glorie ist, um so mehr erkennen sie diesen unendlichen Abstand, um so tiefer ist folglich ihre Demut. Wenn ein Mensch in diesem Leben durch die häufige Übung der Erwägung und Betrachtung der Erhabenheit Gottes und seiner eigenen Niedrigkeit zur Feststellung eines so großen Mißverhältnisses und Abstands voneinander kommt, daß er sich bis in den tiefsten Abgrund seines Nichts erniedrigt und demütigt, daß er keinen Ort findet, um sich tief genug in ihn zu versenken, wie groß muß dann erst die Demut der glorreichen Heiligen sein, die die Majestät Gottes so klar schauen!

Die Demut der heiligen Jungfrau war gewiß die größte in diesem Leben, denn sie besaß eine größere Erkenntnis Gottes als jedes Geschöpf. Wenn sie (Lk 1,48) sagt, daß er auf die Niedrigkeit seiner Magd geschaut hat, zeigt sie, daß sie den unendlichen Abstand zwischen Gott und ihr erkannte und bekannte. Die Demut, mit der sie die Worte (Lk 1,3 8) sagte: Siehe, ich bin die Magd des Herrn, war so außergewöhnlich, daß sie selbst die Engel erstaunte. Aber die Demut Unserer lieben Frau jetzt im Himmel ist abertausendmal größer, als jene hier unten war, weil sie eine tausendmal größere Erkenntnis der Erhabenheit Gottes hat, als sie damals war. Diese Erkenntnis der göttlichen Majestät, ihrer Erhabenheit und Vollkommenheit ist der vorzüglichste und stärkste Beweggrund, uns zu demütigen und uns in unser eigenes Nichts zu erniedrigen. So wird die Demut in der Glorie geübt. Es gibt also keinen Zweifel, daß die Gebete der Heiligen, die aus solcher Demut verrichtet und von ihr begleitet werden, sehr verdienstvoll sind und uns viel helfen können.

Bevor wir jedoch ihre Wirkungen erfahren, müssen wir sie uns zu sichern verstehen; denn wenn wir nicht unsererseits mitwirken, werden wir nicht mit ihrer Unterstützung rechnen können. Es wäre lächerlich, die Heiligen zu bitten, daß sie für uns eintreten und uns eine Gnade erwirken, wenn wir unsererseits uns nicht für sie aufnahmefähig machen wollten. Wir bitten sie, uns Tugenden zu erwirken, und wollen uns nicht mit ihrer Übung befassen, noch einen Akt dieser Tugenden machen. Trotzdem erwarten wir, daß die Heiligen sie uns erwirken, obwohl wir tun, was den Tugenden entgegengesetzt ist, um die wir bitten. Welch ein Mißbrauch ist das! Die Barmherzigkeit Gottes will gewiß, daß wir mit seinen Gnaden und seinen Gaben mitwirken. Wenn wir von ihm durch die Fürbitte der Heiligen irgendwelche Tugenden erbitten, so gewährt er sie uns auch, wenn wir sie zuerst zu üben beginnen. Denn seht, unser teurer Erlöser und Herr hat uns erschaffen ohne uns, d. h. er hat uns das Sein gegeben, als wir nichts waren; aber er will uns nicht retten ohne uns, er will unserer Freiheit nicht Gewalt antun und keinen mit Gewalt retten; er braucht unsere Zustimmung und unsere Mitwirkung mit seiner Gnade.

Nur dann wird sich unsere Erlösung erfüllen, ohne die wir nicht in den Himmel kommen können. Es gibt keine andere Pforte, um in das Paradies einzutreten, als die Erlösung des Heilands. Deshalb schließt die Kirche alle ihre Gebete mit dem Namen unseres Herrn Jesus Christus, um zu zeigen, daß die Gebete der Engel und der Menschen vom ewigen Vater nur im Namen seines Sohnes erhört werden können (Joh 14,13; 16,23). Folglich kann kein Geschöpf, selbst nicht die seligste Jungfrau, welche Gebete es auch verrichten mag, zur Glorie gelangen, außer durch den Tod und die Passion Unseres Herrn, der sie uns erkauft und verdient hat. Die Heiligen bitten also, daß uns das Verdienst dieses Leidens zugewendet werde. In dem Maß nun, wie wir den Gaben Gottes entsprechen, teilt er uns neue zu, und dann vermehren wir sein Wohlgefallen, uns immer neue zu schenken. Auch die Seligen bitten seine Güte inständig, sich über uns zu ergießen. Wie wir sagten, werden sie dazu angespornt, weil sie das Verlangen und die Freude sehen, die Gott daran hat, sich zu ergießen und mitzuteilen.

Seht, wenn wir uns recht empfänglich machen wollen für die Unterstützung durch die Heiligen und wenn wir sie bewegen wollen, für uns zu bitten, müssen wir treu die Tugenden üben, die wir durch ihre Vermittlung erbitten, und uns recht aufnahmebereit machen für die Gaben des Herrn. Das ist der dritte Punkt. Um das zu tun, müssen wir es machen wie sie, nämlich die Lehren annehmen die unser Heiland auf dem Berg verkündete, auf den er sich zurückzog (Mt 6,1-12), als er sich von einer großen Volksmenge umgeben sah. Da sprach er die heiligen Worte, in denen die ganze christliche Vollkommenheit enthalten ist: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen; selig die Weinenden, denn sie werden getröstet werden; selig schließlich, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich.

Das ist eine ungewöhnliche Lehre, die dem Geist der Welt direkt entgegengesetzt ist. Ihr werdet sie aber besser verstehen durch das Gleichnis jener Statue, die Nebukadnezzar im Traum sah. Sie hatte einen Kopf aus Gold, Hände aus Silber, einen Rumpf aus Erz und Füße aus Ton, und alles übrige, wie ihr oft gehört habt. Während Nebukadnezzar ihre Schönheit bewunderte, sah er, wie sich ein kleiner Stein von der Höhe löste, der die Füße der Statue traf, sie zu Boden warf und sie zu Staub machte, so daß nichts von ihr übrigblieb (Dan 2,31-35). Meine lieben Schwestern, das sage ich euch, denn obwohl ihr noch nicht außerhalb der Welt seid, lebt ihr doch wie die Nasiräer (Num 6) von der Welt und ihrer Eitelkeit entfernt und zurückgezogen. Was ist denn diese Statue anderes, ich bitte euch, als die Welt oder vielmehr ihre Eitelkeit und ihr Stolz, die einen Kopf aus Gold hat, usw.? Und der Berg, von dem ein kleiner Stein herabfiel, ist nichts anderes als Unser Herr, aus dessen Mund dieser Stein der acht Seligkeiten kam, der die Statue der Eitelkeit zerstört; er bewirkte, daß immer mehr Menschen die Welt, ihre Reichtümer, Ehren und Würden aufgaben und arm, gering und verächtlich wurden.

Es ist wahr, daß diese Lehre des Evangeliums über die ganze Erde verbreitet und von vielen ergriffen wurde. Seht, wie das geschehen ist. Unser Herr sagt: Selig die Armen im Geiste; die Welt sagt: Glücklich, die reich sind, Gold und Silber haben; glücklich sind jene, die jede Art von Bequemlichkeit in diesem Leben haben. Wie unglücklich sind dagegen die Armen, die nichts von all dem haben. Sie gelten nichts, man hält sie für bemitleidenswert. Doch Unser Herr, der die Torheit und das Elend der Weltmenschen sieht, und worauf sie ihr Glück gründen, wirft diesen Stein auf die Füße dieser Statue und sagt als erstes: Selig sind die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich; wehe dagegen über die Reichen (Lk 6,24); denn abgesehen davon, daß sie dieses Reich nicht besitzen werden, werden sie unglücklich sein, weil sie als Lohn nur die Hölle und die Gesellschaft der Teufel haben werden.

Ich könnte darüber noch viel hinzufügen, wenn ich anderswo wäre; ich will es aber übergehen, weil ich nur für euch spreche. Unser göttlicher Meister fährt fort: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen. Diese Sanftmut will nun, daß man die Regungen des Zornes unterdrückt, daß man mild, herzlich und voll Güte gegen alle ist, daß man dem Feind verzeiht, daß man Verachtung erträgt; die Eitelkeit der Welt dagegen, die einen Geist hat, der dazu in direktem Widerspruch steht, sagt: Glücklich, wer sich an seinem Feind rächt, wer allen Furcht und Angst einjagt, dem man kein Wort der Erwiderung und der Geringschätzung zu sagen wagt; der ist glücklich! Dagegen erachtet die Welt den für unglücklich, der in Verachtung und Anfeindung mild und gütig ist. Unser Herr wirft von neuem diesen Stein und erklärt: Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen. Mit diesen Worten macht er den Stolz und die Arroganz zunichte, auf denen die Welt ihr Glück begründet.

Er fügt noch hinzu: Selig, die weinen, denn sie werden getröstet werden. Die Welt sagt: Glücklich jene, die lachen und es sich gut gehen lassen, die auf Bällen tanzen, die maskiert gehen, den Vergnügungen und Eitelkeiten nachjagen; wehe denen, die weinen! Wie sind solche Leute zu bedauern! Schließlich fügt der Erlöser hinzu: Selig, die Hunger und Durst nach Gerechtigkeit haben. Selig nicht nur jene, die Gerechtigkeit üben, sondern auch jene, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden. Sagt die Welt nicht genau das Gegenteil? Gründet sie ihr Glück nicht gerade auf dem, was den Lehren des Evangeliums entgegengesetzt ist? Unser Herr schaute diese Staute nicht im Traum wie Nebukadnezzar, sondern in Wirklichkeit, und sah, daß sie nur Füße aus Ton hat, d. h. daß alles, was diese Welt schätzt, nur auf nichtigen und vergänglichen Dingen beruht; deshalb warf er, wie wir gesagt haben, diesen Stein von der Höhe der Seligkeiten, in denen die ganze christliche Vollkommenheit enthalten ist.

Als aber die Welt sah, daß ihr Ruhm zerstört ist und daß man ihn aufgibt für die Armut, die Verachtung, Tränen und Verfolgung, da schlich sich die menschliche Klugheit ein und erfand abertausend Auslegungen dieser Seligkeiten; und sie hat alles verniedlicht. O Gott, sagt sie, die Armen im Geiste sind wirklich glücklich. Aber heißt arm im Geiste sein nicht, den Gebrauch des Reichtums haben, Güter und Würden besitzen, wenn man nur sein Herz nicht zu sehr daran hängt? Andere werden sagen: Um arm im Geiste zu sein, genügt es, Religiose zu sein, auf die Welt und dergleichen verzichtet zu haben. Es ist wahr, daß man es durch diesen Verzicht schon in gewissem Maß ist; aber ach, nicht das meint Unser Herr. Gerade darüber beklagt sich der hl. Augustinus, denn es ist sehr schwer, viele Güter und Ehren zu besitzen und nicht daran zu hängen. Das genügt nicht, sagt er, um Religiose zu werden. Alles aufgeben, um alles nach Wunsch zu haben, arm werden, indem man ins Kloster geht, und wollen, daß uns nichts abgeht, die Armut geloben und keinerlei Unbequemlichkeit spüren, und was das Schlimmste ist, im Orden suchen, was wir in der Welt nicht finden konnten, trotz des Gelübdes danach trachten, mehr Bequemlichkeit und Behaglichkeit zu haben, als ehe wir arm wurden, o Gott, was für eine weichliche, fade und sträfliche Armut! Es ist trotzdem wahr und es ist ein Unglück, daß jene im Kloster schwerer zufriedenzustellen sind, die vor ihrem Eintritt am wenigsten Besitz hatten.

Gewiß will unser Herr und Meister nicht nur von solcher Armut sprechen; so haben er und die Heiligen sie nicht geübt. Er ist ganz nackt gestorben und seine Heiligen sind ihm in dieser Armut nachgefolgt; sie haben alles aufgegeben und sich mutig allem Ungemach ausgesetzt, das sie mit sich bringt. Seht den heiligen Abt Serapion, von dem im „Leben der Väter“ berichtet wird, daß er alles verließ und sich ganz nackt auszog. Hätte man ihn gefragt: Guter Heiliger, was hat dich dazu bewogen?, so hätte er gesagt: O Gott, dieser liebenswerten Armut ist das Himmelreich verheißen; das hat mich dazu bewogen und läßt mich in dieser Weise leiden. Seht, wie uns die Armut dazu bringt, die Unbequemlichkeiten anzunehmen, die aus ihr folgen.

Was nun die menschliche Klugheit gegen die Armut vorzubringen weiß, das erfindet sie ebenso gegen die Sanftmut, die Tränen und alle anderen Seligkeiten zusammen. Man braucht aber nicht so viele Deutungen, man muß einfach vorgehen und sich an den Wortlaut halten. Wenn wir uns zur Aufgabe machen wollen, die Armut anzunehmen, dann nehmen wir gern die Beschwerden und Unbequemlichkeiten an, die sie von selbst mit sich bringt. Seien wir gütig und herzlich gegen alle; weinen wir, wenn wir getröstet werden wollen; ich will sagen, vergießen wir geistliche Tränen. Ich weiß wohl, daß die Worte: Selig, die weinen, von jenen zu verstehen sind, die ihre Sünden und die des Nächsten beweinen, weil sie Gott widersprechen, oder vielmehr wegen der Entfernung vom höchsten Gut, wie David getan hat (Ps 42,4), der sein Brot mit Tränen netzte und sagte: Wo ist dein Gott? Doch nicht alle haben diese Tränen; sie sind auch nicht zum Heil notwendig. Dennoch können alle das Verlangen nach ihnen haben und vor der göttlichen Majestät stehen mit einem zerknirschten und demütigen Herzen (Ps 59,19). Laßt uns gerecht sein, Verfolgungen aller Art um der Gerechtigkeit willen erleiden und ertragen, auf diese Weise Durst und Hunger nach ihr haben, und laßt uns dadurch den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist verherrlichen. Amen.


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