Annecy, 21. Dezember 1622 (OEA X,406-411; DASal 9,458-463)
Wenn ich den Bericht des heutigen Evangeliums (Joh 20,24-29) betrachte, fällt mir dabei Protogenes aus dem Altertum ein, der gleichzeitig den Beruf des Malers und des Höflings ausübte. Als er daher den großen Antigones malen wollte, der auf einem Auge blind war, fand er einen Ausweg, der seines Geistes würdig war, um die Unvollkommenheit seines Fürsten schmeichelhaft zu verheimlichen: er stellte ihn im Profil dar und zeigte nur die eine Hälfte seines Gesichtes, die schön und ohne Gebrechen war. In unserer Zeit machen es die Geschichtsschreiber ebenso bei den Taten der Großen dieser Erde, denn sie verheimlichen und verschleiern die Wahrheit bei allem, was den Anschein des Bösen hat, so daß man nichts von ihnen lernen kann. Der Geist Gottes dagegen sagt die Wahrheit ohne jede Schmeichelei. Gewöhnlich sehen wir, daß die Heilige Schrift die schlimmsten Fehltritte vieler großer Heiliger offen darlegt, so wenn sie uns die Buße einer hl. Magdalena zeigen will, die Tränen eines hl. Petrus, die Bekehrung eines hl. Paulus; dann läßt sie uns zuerst ihre Fehler lesen, bevor sie von ihrer Reue spricht. So ist es auch beim hl. Matthäus und anderen, besonders beim hl. Thomas.
Das Evangelium, das heute gelesen wird, zeigt klar die Treulosigkeit, die dieser Apostel begeht, als er nicht glauben will. Er fällt wirklich in einen sehr großen Fehler, der fast unbeschreiblich ist; das können wir bei den heiligen Vätern feststellen. Aber ich bitte euch, warum tun sie das, wenn nicht deshalb, um uns die grenzenlose Barmherzigkeit Gottes zu zeigen im Vergleich mit dem Elend der Sünder? Wie wir sehen, heißt es in der Heiligen Schrift (Ps 113,5-7; 138,7; Röm 9,13; 1 Tim 1,15f), daß Gott seinen Thron auf unserer Armseligkeit errichtet. Sehen wir also 1. wie der Evangelist berichtet, daß der hl. Thomas am Tag der Auferstehung nicht bei den anderen war; wie er 2. nicht glauben wollte und damit eine große Unklugheit beging; und wie er 3. übertrieb mit den Worten: Ich werde nicht glauben, wenn ich ihn nicht berühre und ihn nicht sehe.
Der erste Fehler, nämlich sich nicht einzufügen und bei den anderen zu sein, war der Anfang des Bösen, das von hier seinen Ausgang nahm. Man muß nämlich etwas sehr Wichtiges feststellen: daß der Mensch nicht mit einem Schlag zur Vollkommenheit gelangt, sondern allmählich von Stufe zu Stufe (Ps 84,6). Ebenso verhält es sich, wenn man in ihr nachläßt und in eine Sünde oder Unvollkommenheit fällt; man fällt nicht auf einen Schlag, sondern kommt von kleinen Fehlern zu größeren. Man darf nicht sagen: Es ist unbedeutend, wenn man nicht bei der Gemeinschaft ist, sowohl beim Gebet wie bei irgendeiner anderen Übung. Wäre der hl. Thomas bei den übrigen Aposteln gewesen, dann wäre er acht Tage früher heilig und treu gewesen. Wir dürfen nicht glauben, es habe wenig zu bedeuten, wenn wir acht Tage in der Untreue verharren und unsere Vollkommenheit auch nur ein wenig verzögern; es ist im Gegenteil ein großes Übel, da jeder Augenblick sehr kostbar für uns ist und uns sehr wertvoll sein muß.
Den zweiten Schritt seines Fehltritts machte der hl. Thomas, als er bei seiner Rückkehr seine Mitbrüder und Mitjünger sagen hörte: Wir haben den Herrn gesehen. Da antwortete er: Ich glaube nicht; und da er sich der Gnade beraubt sah, die die anderen bei diesem Besuch empfangen hatten, ließ er sich zu Eigensinn und Verdruß verleiten. Gewiß hätte er die Apostel fragen müssen, wie ihnen der Heiland erschienen ist, und sich mit ihnen über dieses Glück freuen; leider tat er aber das Gegenteil und wollte seinen Fehler auf keinen Fall zugeben. So geht es uns allen, daß wir es nicht zugeben wollen, wenn wir gefehlt haben. Hätte der hl. Thomas seine Brüder zum Glück und zum Trost beglückwünscht, den sie alle empfangen hatten, und sich schuldig bekannt, dann hätte er diese großen Unvollkommenheiten vermieden. Wer sich entschuldigt, klagt sich an. Man darf sich also nie entschuldigen, denn wir haben allen Grund zu glauben, daß wir immer unrecht haben.
Der dritte Fehler des hl. Thomas und sein eigentlicher Fehltritt bestand darin, daß er sich zur Leidenschaft bis zum Eigensinn hinreißen ließ und dann zur Übertreibung mit den Worten: Nein, ich werde nicht glauben, daß er auferstanden ist, wenn ich nicht meinen Finger in die Wundmale seiner Hände und Füße lege und meine Hand in seine durchbohrte Seite. Darauf erwidert der hl. Bernhard und sagt: Armer Thomas, warum willst du nicht glauben, ohne zu berühren, da unser Glaube nicht zu greifen ist und nicht von den Sinnen abhängt? Dieser große Heilige hat wirklich recht, denn der Glaube ist ein Geschenk Gottes; er flößt ihn einer demütigen Seele ein, denn er wohnt nicht in einer Seele, die von Stolz erfüllt ist. Man muß Demut haben, um den Strahl des göttlichen Lichtes zu empfangen, das ein ganz unverdientes Geschenk ist. Hört, was Unser Herr zu den Pharisäern (Joh 5,33) sagt: Wie könntet ihr glauben, die ihr ganz aufgeblasen seid von eitlem Ruhm und Selbstüberschätzung?
Kommen wir zu unserem Thema zurück, nämlich daß der hl. Thomas sich zur Leidenschaft hinreißen ließ. Es ist ein großes Übel, sich in dieser Weise hinreißen zu lassen, denn die Theologen lehren, wenn wir unseren Leidenschaften nachgeben, führen sie uns bis zur Todsünde. Der große hl. Paulus oder vielmehr Unser Herr im hl. Paulus sagt nach dem Propheten (Ps 4,5; Eph 4,26): Zürnt, aber sündigt nicht. Es ist ja keine Sünde, wenn die Leidenschaften erregt sind; aber es ist etwas ganz anderes, auf den Zorn einzugehen und seinen Empfindungen zu folgen, wie sich zu erbittern und sich dann darauf zu versteifen: das macht die Sünde aus. Die dem Geiz unterworfen sind, gehen z. B. gewöhnlich nicht bis zur Todsünde, aber sie hüten ihren Besitz etwas zu genau; das ist die erste Frucht der Leidenschaft, und das ist je nach der Wichtigkeit der Sache eine läßliche Sünde.
Der hl. Thomas ging bis zur dritten Stufe und beging die Sünde des Unglaubens, die sehr schwer war. Als die anderen Apostel das sahen,waren sie davon sehr betroffen. Gewiß, ohne Zweifel belasten jene, die in einer Gemeinschaft sind und ihrer Lebensweise nicht folgen, ihre Brüder sehr schwer, besonders jene, die das Heil der Seelen wünschen. Aber auch die Apostel haben den Schuldigen nicht aus ihrer Gemeinschaft ausgestoßen, sondern für ihn gebetet, und Unser Herr kam in seiner unaussprechlichen Barmherzigkeit ein zweites Mal einzig des hl. Thomas wegen. Damit gibt er uns eine Probe der Milde, mit der er die Sünder behandelt; er hat ja zwei Arme: der eine ist seine allmächtige, unparteiische Gerechtigkeit, der andere seine Barmherzigkeit, den er über den der Gerechtigkeit erhebt (Jak 2,13).
Bei dieser Gelegenheit fällt mir der hl. Dionysius Areopagita ein, dem man mit vollem Recht den Beinamen des Apostels Frankreichs gegeben hat. In einem seiner Briefe erzählt er folgende Geschichte, die ihr alle gut kennt. Als Demophilus einen armen sündigen Mann in der Nähe des Altares zu Füßen seines Beichtvaters sah, jagte er ihn mit groben Fußtritten aus der Kirche, denn er hielt ihn nicht für würdig, hier zu sein. Das tat er aus glühendem Eifer, der allerdings falsch und maßlos war, obwohl er ihn für gut hielt. Im gleichen Brief berichtet der hl. Dionysius, der hl. Carpus habe Unseren Herrn geschaut, der ganz bereit war, noch einmal für jeden Sünder zu sterben, wenn sein Leiden für ihn nicht überreich genügen sollte.
Erwägen wir doch, wie gütig der Heiland ist. Er kam in den Abendmahlssaal einmal für alle Apostel (Joh 20,19-23) und ein zweites Mal für den hl. Thomas allein, acht Tage nach seiner Auferstehung, als sie alle beisammen waren; er wendet sich an Thomas allein und sagt zu ihm: Du willst nicht glauben; wohlan, berühre, betaste, denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein (Lk 24,39). Er legte also seine Finger auf die heiligen Wundmale seines Erlösers. Doch, was glaubt ihr, tat der gute Heilige? Gewiß, als er ihn berührte, fühlte er eine große göttliche Glut, vor allem als er seine Hand an die kostbare Schatzkammer der Gottheit legte, als er das heilige Herz berührte, das ganz glühend vor Liebe war. Da rief er voll Staunen aus: Mein Herr und mein Gott! Im gleichen Augenblick wurde er verwandelt und gläubig, so daß er ein Verkünder des Glaubens war wie die anderen Apostel; und nachdem er Großes für ihn gewirkt hatte, starb er schließlich für diesen Glauben.
Unser gütiger Heiland antwortete ihm: Thomas, du hast geglaubt, weil du gesehen hast; aber selig werden jene sein, die glauben und nicht sehen. Seine göttliche Güte hatte uns ja alle vor Augen, die wir zu seiner Kirche gehören, denn sie hat ihren Anfang in der kleinen Scharder Apostel genommen. Wir wissen von den Geheimnissen des Glaubens nur das, was sie uns gelehrt haben, obwohl ihr Glaube damals unvollkommen war, da sie, wie die Theologen lehren, in der Gnade nicht soweit gefestigt waren. Hier auf Erden haben wir den Glauben ohne den Genuß des Besitzes, aber im Himmel werden wir den Genuß haben ohne den Glauben, weil wir im Himmel seiner nicht mehr bedürfen (1 Kor 13,8.12f; Hebr 12,1). Der Glaube ist ein großes Geschenk Gottes; er trennt uns von den bedauernswerten Häretikern, die nicht an das heilige Sakrament des Altares glauben wollen, weil man hier nichts sieht und nichts greifen kann, wie sie sagen. Als ob das, was Gott gesagt hat, nicht recht gesagt und getan wäre (Jes 55,11; 1 Petr 1,25) und als ob man sehen und berühren müßte, um zu glauben.
Meine lieben Schwestern, es ist ein großer Vorteil, in einer Gemeinschaft zu sein. Hätte der hl. Thomas nicht seine Brüder gehabt, dann wäre er nicht so bald von seinem Unglauben losgekommen. Sie beteten für ihn und so wurde er gerettet. Ebenso ist es bei euch in den Ordensgemeinschaften; wenn eine fällt, helfen ihr die anderen, sich wieder zu erheben, durch die schwesterliche Zurechtweisung, durch Gebet und gutes Beispiel. So gehen in den Orden die Seelen selten verloren, außer sie wollen es, indem sie sich verhärten und eigensinnig im Bösen verharren. Darüber bringt der hl. Bernhard einen schönen Vergleich: Von 200 Schiffen und Ruderbooten, die im Hafen von Marseille vor Anker gehen, geht keines verloren, sagt er, die sich aber anderswo einschiffen, laufen große Gefahr, zugrundezugehen. Ebenso geht es den Seelen, die mitten im Getriebe der Welt stehen und alle Liebe auf sie verwenden; denn von zweihundert werden zur Not zwei gerettet, weil sie nicht an die ewigen Dinge denken und stets auf Ehren, Vergnügungen und Reichtum bedacht sind. Deshalb sind wir verpflichtet, für sie zu beten, damit Gott ihnen einen vollkommenen Glauben schenke, der sie allen irdischen Dingen entsagen läßt.
Das heutige Fest scheint uns einzuladen, für die Ungläubigen und Irrgläubigen zu beten, vor allem für jene, die in diesem Königreich leben, damit alle sich dem Gehorsam gegenüber dem König unterwerfen. Bitten wir Unseren Herrn auch mit aller Inbrunst, uns die Gnade der Beharrlichkeit im Glauben zu schenken, den wir ihm gelobt haben. Denken wir daran: die Ursache für den Fall des hl. Thomas war,daß er sich gegen den Glauben verschloß und in seinem schlimmen Zustand verhärtete. Gott schenke uns die Gnade, daß wir niemals zu dieser dritten Stufe kommen; und sollten wir so weit kommen, möge er uns in seiner Güte und Barmherzigkeit davon zurückführen, bis es ihm gefällt, uns zum ewigen Leben zu führen, wo wir den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist immer preisen werden. Amen.
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