Annecy, 2. Februar 1620 (OEA IX,250-265; DASal 9,301-312)
Gott spricht, wenn er wirkt, und er wirkt, indem er spricht (Ps 33,9; 148,5). Damit zeigt er uns, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, gut zu sprechen; vielmehr müssen wir unseren Vorsätzen die Wirkungen folgen lassen und unseren Worten die Taten, wenn wir ihm wohlgefällig sein wollen. Wie sein Wort Tat ist, ebenso will er, daß unserem Wort unverzüglich die Tat folgt und unserem guten Vorsatz die Ausführung. Wenn man deshalb im Altertum den guten Menschen vorstellen wollte, bediente man sich des Vergleichs mit einem Pfirsich, auf den man ein Blatt des Pfirsichbaums legte, weil der Pfirsich die Form eines Herzens hat und das Blatt des Pfirsichbaums die Form der Zunge. Damit drückte man aus, daß der gute, tugendhafte Mensch nicht nur eine Zunge hat, um viel Gutes zu sagen; da diese Zunge auf seinem Herzen liegt, spricht er vielmehr nur, insofern sein Herz es will. Das heißt: er sagt nur Worte, die zuerst aus seinem Herzen hervorgehen, das ihn zugleich zur Ausführung und zur Verwirklichung seiner Worte führt. Aus dem gleichen Grund hatten die vier Wesen (Ez 1,5-8) nicht nur Flügel, um zu fliegen, sondern unter ihnen auch Hände. Das soll zu verstehen geben, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, Flügel zu haben, um durch heilige Wünsche und Erwägungen zum Himmel zu fliegen, wenn wir nicht zugleich Hände haben, die uns zur Verwirklichung und Ausführung unserer Wünsche bringen. Es ist ja sicher, daß uns gute Vorsätze und heilige Entschlüsse allein nicht in das Paradies führen, wenn sie nicht von Wirkungen begleitet sind, die ihnen entsprechen.
Um diese Wahrheit zu bekräftigen, kommt also Unser Herr heute in den Tempel, um hier Gott, seinem Vater dargebracht zu werden. Damit unterwarf er sich dem Gehorsam gegen das Gesetz, das Gott einst dem Mose auf die steinernen Tafeln geschrieben gegeben hat (Ex 24,12; 34,1; 2 Kor 3,7). In diesem Gesetz gab es eine Reihe besonderer Vorschriften, die unseren göttlichen Meister und Unsere liebe Frau in keiner Weise verpflichteten. Der Erlöser ist ja der König und Herrscher aller Welt, der Himmel, der Erde und all dessen, was sie erfüllt; er konnte daher keinem Gesetz und Gebot unterworfen sein. Weil er uns aber als erhabenes und unvergleichliches Vorbild vor Augen gestellt werden sollte, dem wir in allem gleichförmig werden müssen, soweit es die Schwachheit unserer Natur zulassen kann, deswegen wollte er trotzdem das Gesetz beobachten und sich ihm unterwerfen, nach seinem Beispiel auch seine hochbegnadete Mutter, wie wir im heutigen Evangelium (Lk 2,22-38) sehen. Es berichtet von der Reinigung Unserer lieben Frau und von der Darstellung Unseres Herrn im Tempel. Darüber will ich drei Erwägungen anstellen, bei denen ich mich nicht lange aufhalten, sondern sie nur im Vorbeigehen streifen will. Ich überlasse sie dann eurem Geist, daß ihr sie wie die reinen Tiere (Lev 11,2f.47) wiederkäuen und sie gut und nutzbringend verdauen könnt. Die erste Erwägung betrifft das Beispiel einer tiefen, echten Demut, das unser göttlicher Heiland und die glorreiche Jungfrau uns geben; die zweite den Gehorsam, der auf die Demut gepfropft ist; an dritter Stelle erwäge ich die vorzügliche Methode, gut zu beten, die sie uns lehren.
Zum ersten: welch größere und tiefere Demut könnte man sich vorstellen als jene, die Unser Herr und Unsere liebe Frau üben, indem sie in den Tempel kommen, der eine, um wie alle Kinder der sündigen Menschheit hier dargebracht zu werden, die andere, um gereinigt zu werden? Es ist ganz sicher, daß Unser Herr zu dieser Zeremonie nicht verpflichtet sein konnte, die nur Sünder betraf, da er die Reinheit selbst war. Und welcher Reinigung konnte Unsere liebe Frau bedürfen, da sie weder befleckt war noch sein konnte? Sie hatte vom Augenblick ihrer Empfängnis an eine so außergewöhnliche Gnade empfangen, daß die der Kerubim und Serafim in keiner Weise damit zu vergleichen ist. Denn obwohl Gott ihnen vom Augenblick ihrer Erschaffung an mit seiner Gnade zuvorkam, um sie davor zu bewahren, in Sünde zu fallen, waren sie dennoch nicht von diesem Augenblick an so gefestigt, daß sie nicht untreu werden konnten, sondern wurden es erst hernach kraft der Entscheidung, die sie fällten, sich dieser ersten Gabe zu bedienen, und durch die freiwillige Unterwerfung ihres freien Willens. Unserer lieben Frau jedoch kam die Gnade Gottes zuvor und sie wurde im Augenblick ihrer Empfängnis zugleich so gefestigt, daß sie weder fallen noch sündigen konnte. Unbeschadet ihrer Reinheit kamen jedoch das Kind und seine Mutter an diesem Tag, sich im Tempel darzustellen, als wären sie Sünder wie die übrigen Menschen. O unvergleichlicher Akt der Demut!
Je größer die Würde der Person ist, die sich demütigt, um so höher ist der Akt ihrer Demut zu schätzen. O Gott, welche Größe Unseres Herrn und Unserer lieben Frau, die seine Mutter ist! Welch schöne Erwägung, zugleich die nützlichste und fruchtbarste, die wir anstellen können, ist die über die Demut, die der Heiland so innig geliebt hat! Es hat den Anschein, daß sie seine Vielgeliebte war und daß er nur vom Himmel herabstieg, um aus Liebe zu ihr auf die Erde zu kommen. Sie ist die größte der rein sittlichen Tugenden, denn ich will nicht von der Gottesliebe und der heiligen Liebe sprechen; sie sind nicht nur eine besondere Tugend, sondern eine allgemeine Tugend, die alle anderen umfaßt und von der sie ihren Glanz empfangen. Was aber die einzelnen Tugenden betrifft, gibt es keine, die so groß und so notwendig ist wie die Demut.
Unser Herr hat sie so sehr geliebt, daß er lieber sterben wollte, als von ihrer Übung zu lassen. Er hat selbst (Joh 15,13) gesagt: Es gibt keine größere Liebe, als sein Leben einzusetzen für das, was man liebt. Nun, er hat wahrhaftig sein Leben gegeben für diese Tugend, denn sterbend hat er den hervorragendsten und erhabensten Akt der Demut gesetzt, den man sich je vorstellen kann. Um uns in etwa die Liebe unseres Erlösers zu dieser heiligen Tugend begreiflich zu machen, sagt der heilige Apostel Paulus (Phil 2,8), daß er sich erniedrigt hat bis zum Tod und bis zum Tod am Kreuz, als wollte er sagen: Mein Meister hat sich nicht nur für einige Zeit oder für einige bestimmte Handlungen verdemütigt, sondern bis zum Tod, d. h. vom Augenblick seiner Empfängnis an und dann sein ganzes Leben lang bis zum Tod; und nicht nur bis dahin, sondern er wollte sogar im Sterben die Demut üben. Er überbietet diese Demut und fügt hinzu: zum Tod am Kreuz, zum schimpflichsten und über jede andere Todesart hinaus verächtlichen Tod.
Dieses göttliche Vorbild belehrt uns, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, die Demut in einigen besonderen Akten zu üben oder nur für einige Zeit, sondern immer und bei jeder Gelegenheit; nicht nur bis zum Tod, sondern bis zur Abtötung unser selbst, indem wir auf diese Weise die Liebe zu unserer eigenen Hochschätzung und die Hochschätzung unserer Eigenliebe demütigen. Man darf sich nicht mit der Übung einer bestimmten Demut in der Haltung und in Worten abgeben; sie besteht darin, zu sagen, daß wir nichts sind, und so viele äußere Ehrenbezeigungen und Verdemütigungen zu machen, wie ihr wollt, und was weiß ich für Dinge, die nichts weniger als die Demut selbst sind. Nun, damit sie gut ist, muß sie uns nicht nur erkennen, sondern anerkennen lassen, daß wir ein wahres Nichts sind, das nicht zu leben verdient. Sie macht uns biegsam, geschmeidig und gegen jedermann gefügig. Auf diese Weise befolgen wir das Gebot des Heilands, der uns befiehlt, uns selbst zu verleugnen, wenn wir ihm folgen wollen (Mt 16,24).
Viele täuschen sich darin, daß sie denken, die Demut sei eine nur für Novizen und Anfänger geeignete Übung; sobald sie ein kleines Stück auf dem Weg zu Gott zurückgelegt hätten, könnten sie gut in dieser Übung nachlassen. Gewiß, während sie sich schon für weise halten, werden sie als sehr töricht erfunden (Röm 1,22). Sehen sie denn nicht, daß Unser Herr sich erniedrigte bis zum Tod, d. h. die ganze Zeit seines Lebens? Wie gut wußte der göttliche Meister unserer Seelen, daß dieses Beispiel für uns notwendig war. Er hatte es ja in keiner Weise nötig, sich zu erniedrigen, und wollte dennoch dabei bleiben, es zu tun, weil die Notwendigkeit dazu in uns lag. Wie notwendig ist die Ausdauer in diesem Punkt, denn wie viele hat man schon gesehen, die sehr gut mit der Übung der Demut begannen, aber aus Mangel an Ausdauer gescheitert sind. Unser Herr hat nicht gesagt: Wer anfängt, sondern wer ausharrt in der Demut, wird gerettet (Mt 10,22; 24,13).
Was ließ die Engel sündigen, wenn nicht der Mangel an Demut? Denn obwohl ihre Sünde Ungehorsam war, ließ sie dennoch der Stolz ungehorsam werden, um alles bei seinem Ursprung zu erfassen. Der elende Luzifer begann damit, sich anzuschauen und zu betrachten, dann ging er dazu über, sich zu bewundern und sich in seiner Schönheit zu gefallen, und aus diesem Wohlgefallen sagte er: Ich will nicht dienen, und warf damit das Joch der heiligen Unterwerfung ab (Jes 14,13f; Jer 2,20). Er hatte wohl recht, sich zu sehen und die Vorzüglichkeit seiner Natur zu betrachten, aber nicht, um sich darin zu gefallen und darüber eingebildet zu werden. Es ist nicht schlecht, sich zu betrachten, um Gott für die Gaben zu preisen, die er uns geschenkt hat, wenn wir nicht zur Eitelkeit und Selbstgefälligkeit übergehen. Es gibt ein Wort der Philosophen, das aber von den christlichen Lehrern für gut befunden wurde, das heißt: erkenne die Vorzüglichkeit deiner Seele, um sie nicht geringzuschätzen und zu verachten. Indessen muß man immer in den Grenzen und im Rahmen einer heiligen, liebevollen Dankbarkeit gegen Gott bleiben, von dem wir abhängig sind und der uns zu dem gemacht hat, was wir sind (Ps 100,3).
Unsere Stammeltern und fast alle anderen, die gesündigt haben, wurden durch den Stolz bewogen. Als guter, liebevoller Arzt faßt Unser Herr das Übel an der Wurzel und beginnt anstelle des Stolzes vor allem die schöne und nützliche Pflanze der hochheiligen Demut einzusetzen; jene Tugend, die uns um so notwendiger ist, als das entgegengesetzte Laster unter den Menschen allgemein verbreitet ist. Wir haben gesehen, wie es bei den Engeln den Stolz gab und wie der Mangel an Demut sie für immer verlorengehen ließ. Sehen wir aber, wie viele Menschen, die gut begonnen haben, aus Mangel an Ausdauer in dieser Tugend gescheitert sind. Was hat König Saul am Beginn seiner Regierung nicht alles getan. Die Heilige Schrift sagt (1 Sam 13,1), daß er unschuldig war wie ein Kind von einem Jahr. Trotzdem änderte er sich durch seinen Stolz derart, daß er verdiente, von Gott verworfen zu werden. Welche Demut bewies doch Judas, solange er in der Gefolgschaft Unseres Herrn lebte; seht indessen, welchen Stolz er im Sterben hatte. Da er sich nicht demütigen und Werke der Buße tun wollte, die eine sehr große, gediegene Demut voraussetzen, verzweifelte er, daß er Vergebung erlangen könnte (Mt 27,4f). Es ist unerträglicher Hochmut, sich vor der göttlichen Barmherzigkeit nicht erniedrigen zu wollen, von der wir alles Gute und all unser Glück erwarten müssen.
Mit einem Wort, das ist ein allen Menschen gemeinsames Übel. Deshalb kann man nie genug darüber predigen und ihrem Geist die Notwendigkeit der Ausdauer in der Übung der hochheiligen und überaus liebenswürdigen Tugend der Demut einprägen. In dieser Absicht kamen Unser Herr und Unsere liebe Frau heute, um das Brandmal der Sünder anzunehmen, sie, die es nicht sein konnten, und um sich dem Gesetz zu unterwerfen, das für keinen von beiden erlassen war. Welch große Demut, sich so zu erniedrigen! Die Erniedrigung der Kleinen ist nichts Großes und nichts sehr Bedeutendes im Vergleich mit der von Riesen. Die Katzen, die Ratten und ähnliche Tiere, deren Bauch fast die Erde berührt, haben keine große Schwierigkeit, sich wieder zu erheben, wenn sie einmal gefallen oder zusammengebrochen sind; wenn aber die Elefanten einmal gefallen oder gestürzt sind, haben sie die größte Mühe und Schwierigkeit, sich wieder zu erheben und auf die Beine zu kommen. Ebenso ist es nichts Großes zu sehen, daß wir uns erniedrigen und demütigen, denn wir sind nur ein kleines Nichts und verdienen nur Verachtung und Erniedrigung; unser lieber Heiland dagegen und die heilige Jungfrau sind wie Riesen von unvergleichlicher Größe und Erhabenheit; ihre Demütigungen sind von unschätzbarem Wert. Seit sie sich einmal gedemütigt hatten, blieben sie es die ganze Zeit ihres Lebens und wollten sich nicht mehr erheben. Vielmehr hat Unser Herr, und seine hochgebenedeite Mutter nach ihm, sich erniedrigt bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Wir Elenden aber kriechen und schleichen wie Ratten, Katzen oder ähnliche Tiere nur über die Erde; doch wenn wir uns bei einer günstigen Gelegenheit erniedrigt haben, erheben wir uns sogleich wieder, werden hochmütig und streben danach, für etwas Besonderes gehalten zu werden.
Wir sind die Unlauterkeit selbst und wollen, daß man uns für rein und heilig halte; wahrhaftig eine größere Torheit, als man sagen kann. Unsere liebe Frau hat nicht gesündigt, wollte aber dennoch für eine Sünderin gehalten werden. Nehmt doch eine Tochter Evas: wofür erwartet sie nicht geehrt und geachtet zu werden? Gewiß, wenn dieses Übel auch allgemein unter den Menschen verbreitet ist, so scheint es dennoch, daß dieses Geschlecht mehr dazu neigt als jedes andere. Unsere glorreiche Herrin war in keiner Weise ein Tochter Evas dem Geist, sondern nur dem Blute nach, denn sie war stets nur äußerst demütig und bescheiden, wie sie selbst in ihrem heiligen Lobgesang (Lk 1,48) sagt: Der Herr hat auf die Demut seiner Magd geschaut; deswegen werden mich alle Geschlechter seligpreisen. Ich weiß wohl, sie hat es so verstanden, daß Gott auf ihr Kleinsein und ihre Niedrigkeit geschaut hat; aber gerade darin erkennen wir ihre tiefe und aufrichtige Demut besser. Hört sie bitte, wie sie sich stets geringschätzte, vor allem, als der Engel ihr verkündete, daß sie die Mutter des Gottessohnes werden sollte: Ich bin seine Magd, sagte sie. Ich beschließe den ersten Punkt (denn man muß sich kurz fassen, zumal sich das Thema oft bietet). Unser göttlicher Meister lehrt uns, welche Hochschätzung wir für die hochheilige Demut haben müssen, der stets seine Liebe gehörte. Sie ist auch der Boden und das Fundament des ganzen Gebäudes der Vollkommenheit. Dieses kann nur beruhen und sich erhebenauf der Übung einer tiefen, aufrichtigen und wahrhaftigen Anerkennung unserer Niedrigkeit und Schwachheit, die uns zu echter Erniedrigung und Selbstverachtung führt.
Gehen wir zum zweiten Punkt über und sagen wir: die Demut unseres göttlichen Heilands und seiner hochgebenedeiten Mutter war stets von einem vollkommenen Gehorsam begleitet. Dieser Gehorsam hatte solche Macht über beide, daß sie lieber sterben wollten, ja des Todes am Kreuz, als nicht zu gehorchen. Unser Herr starb am Kreuz aus Gehorsam. Und welch glänzende Akte des Gehorsams machte Unsere liebe Frau selbst in der Todesstunde ihres Sohnes, der das Herz ihres Herzens war! Sie widersetzte sich ja nicht im geringsten dem Willen des himmlischen Vaters, sondern verharrte fest und standhaft am Fuß des Kreuzes (Joh 19,25) und dem göttlichen Wohlgefallen ganz unterworfen. Wir können die gleichen Worte des hl. Paulus (Phil 2,8) anwenden, wie wir es für die Demut getan haben: Unser Herr ist gehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Die ganze Zeit seines Lebens tat er alles nur im Gehorsam, wie er selbst bestätigt, wenn er (Joh 6,38) sagt: Ich bin nicht gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat. Er schaute also stets in allem auf den Willen seines himmlischen Vaters, um ihm zu folgen, und nicht nur einige Zeit, sondern immer, bis zum Tod.
Was Unsere liebe Frau betrifft, seht und betrachtet den Verlauf ihres Lebens; ihr werdet darin nichts als Gehorsam finden. Sie schätzte diese Tugend so hoch, daß sie sich fügte, als ihr befohlen wurde, sich zu vermählen, obwohl sie das Gelübde der Jungfräulichkeit gemacht hatte. Hernach verharrte sie immer im Gehorsam, wie wir heute sehen, da sie in den Tempel kommt, um dem Gesetz der Reinigung zu gehorchen, obwohl weder für sie noch für ihren Sohn irgendeine Notwendigkeit bestand, ihm zu gehorchen, wie wir bereits im ersten Punkt ausgeführt haben. Das war vielmehr ein ganz freiwilliger Gehorsam, und er war nicht geringer, da er freiwillig und nicht notwendig war. Sie hat diese Tugend selbst so sehr geliebt, die ihr göttlicher Sohn wie ein göttliches Reis auf den Stamm der heiligen Demut gepfropft hat, daß sie den Menschen keine andere empfahl. Im Evangelium findet sich kein Wort, außer daß sie bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sagte: Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). Damit hat sie die Beobachtung des Gehorsams gepredigt. Diese Tugend ist die unzertrennliche Begleiterin der Demut. Die eine findet sich nicht ohne die andere; denn die Demut bewirkt, daß wir uns dem Gehorsam unterwerfen.
Unsere liebe Frau und heilige Herrin fürchtete nicht, ungehorsam zu sein, weil sie dem Gesetz in keiner Weise unterworfen war; sie fürchtete vielmehr den Schatten des Ungehorsams. Denn wäre sie nicht in den Tempel gekommen, um Unseren Herrn darzubringen und sich zu reinigen, obwohl sie dessen nicht bedurfte, da sie ganz rein war, hätten sich Leute finden können, die Nachforschungen über ihr Leben anstellen wollten, um zu erfahren, warum sie nicht tat wie die übrigen Frauen. Sie kommt also heute in den Tempel, um den Menschen jeden Argwohn zu nehmen, den sie hegen könnten, aber auch noch, um uns zu zeigen, daß wir uns nicht damit begnügen dürfen, die Sünde zu meiden, sondern auch den Schatten der Sünde; daß wir nicht bei unserem Entschluß stehenbleiben dürfen, diese oder jene Sünde nicht zu begehen, sondern daß wir sogar die Gelegenheiten fliehen müssen, die uns zur Versuchung werden könnten, in sie zu fallen. Sie lehrt uns auch, daß wir nicht mit dem Zeugnis unseres guten Gewissens zufrieden sein dürfen, sondern sorgfältig darauf achten müssen, jeden Argwohn zu meiden, durch den andere an uns oder unserem Benehmen Anstoß nehmen könnten. Das sage ich für gewisse Leute, die entschlossen sind, bestimmte Sünden nicht zu begehen, die sich aber nicht bemühen, die Äußerungen zu meiden, daß sie diese Sünden gern begingen, wenn sie es wagten.
Wie sehr muß dieses Beispiel des hochheiligen Gehorsams, das Unser Herr und Unsere liebe Frau uns geben, uns anspornen, uns vollkommen und ohne Rückhalt dem Gehorsam zu unterwerfen in allem, was uns befohlen wird, uns aber damit nicht zu begnügen, sondern auch das zu befolgen, was uns geraten wird, um uns der göttlichen Güte wohlgefälliger zu machen. Mein Gott, ist es etwas so Großes, uns gehorsam zu sehen, die wir geboren sind, um zu dienen, da der erhabenste König, dem alles untertan sein muß, sich dem Gehorsam unterwerfen wollte? Nehmen wir also dieses heilige Beispiel an, das der Heiland und die glorreiche Jungfrau uns geben; lernen wir, uns zu unterwerfen, biegsam, geschmeidig und für alle Hände lenksam zu werden durch den hochheiligen Gehorsam, und nicht nur für einige Zeit, noch für bestimmte einzelne Akte, sondern für immer, für dieganze Zeit unseres Lebens bis zum Tod.
Sehen wir drittens, wie wir im heutigen Evangelium eine vorzügliche Art finden können, das Gebet zu verrichten. Viele täuschen sich sehr, wenn sie glauben, daß es vieler Dinge, vieler Methoden bedürfe, um es gut zu machen. Einige von ihnen findet man sehr eifrig bemüht, alle möglichen Mittel ausfindig zu machen, um eine bestimmte Kunst zu finden, die zu kennen ihnen notwendig scheint, um es gut zu machen, und sie hören nie auf, an ihrem Gebet herumzutüfteln und zu klügeln, um zu sehen, wie sie es nach ihrem Wunsch machen könnten. Die einen denken, man dürfe nicht husten und sich nicht rühren, aus Furcht, daß sich der Geist Gottes zurückziehe; eine überaus große Torheit, als ob der Geist Gottes so empfindlich wäre, daß er von der Methode oder von der Haltung derer abhinge, die das Gebet verrichten. Ich sage nicht, daß man sich nicht bestimmter Methoden bedienen soll; aber man darf sich nicht an sie klammern und an ihnen hängen, so daß wir unser ganzes Vertrauen in sie setzen wie jene, die glauben, wenn sie nur stets ihre Erwägungen vor den Affekten machen, sei alles gut. Es ist sehr gut, Erwägungen zu machen, nicht aber, sich dermaßen an die eine oder andere Methode zu klammern, daß man denkt, alles hänge von unserer Betriebsamkeit ab.
Um ein gutes Gebet zu verrichten, ist nur eines notwendig, nämlich Unseren Herrn in unseren Armen zu halten. Wenn das zutrifft, ist es immer gut gemacht, auf welche Weise wir es auch anstellen. Es gibt keinen anderen Kunstgriff, und ohne diese Voraussetzung vermögen unsere Gebete nie etwas und können von Gott nie angenommen werden. Der göttliche Meister hat ja selbst (Joh 14,6) gesagt: Niemand kann zum Vater gelangen, außer durch mich. Das Gebet ist nichts anders als „eine Erhebung unseres Geistes zu Gott“, die wir keineswegs aus uns selbst machen können. Wenn wir nun unseren Heiland in unseren Armen halten, wird uns alles leicht. Seht doch den hl. Simeon, wie gut er betet, während er Unseren Herrn in seinen Armen hält. Laß nun deinen Diener in Frieden gehen, sagt er, denn er hat sein Heil, seinen Gott gesehen. Es wäre ein übler Streich, wollte man unseren Herrn Jesus Christus aus seinem Gebet ausschließen und meinen, es ohne seinen Beistand gut zu machen. Ohne Zweifel können wir dem ewigen Vater nicht gefallen, wenn er uns nicht anschaut durch seinen Sohn, unseren Heiland (vgl. Ps 84,10; Röm 8,29); und nicht nur die Menschen, sondern auch die Engel, denn wenn er auch nicht ihr Erlöser ist, so ist er doch ihr Retter und sie sind durch ihn in der Gnade gefestigt. Wenn man durch ein rotes oder violettes Glas schaut, erscheint unseren Augen alles, was man sieht, von der gleichen Farbe; ebenso findet uns der ewige Vater so schön und gut, wie er es wünscht, wenn er uns durch die Schönheit und Güte seines hochgebenedeiten Sohnes anschaut; denn sonst sind wir die Häßlichkeit und Unförmigkeit selbst.
Ich habe gesagt, das Gebet ist „eine Erhebung zu Gott“. Das ist richtig; denn obwohl wir auf dem Weg zu Gott den Engeln und Heiligen begegnen, erheben wir den Geist nicht zu ihnen, noch richten wir unsere Gebete an sie, wie die Häretiker boshafterweise behaupten wollten. Vielmehr bitten wir sie nur, ihre Gebete mit den unseren zu vereinigen und eine heilige Verschmelzung mit ihnen zu bewirken, damit durch diese heilige Verbindung die unseren von der göttlichen Güte besser aufgenommen werden. Er wird sie immer gnädig annehmen, wenn auch wir seinen teuren Benjamin mitbringen, wie die Kinder Jakobs taten, als sie ihren Bruder Josef in Ägypten aufsuchten (Gen 43,15). Wenn wir ihn nicht mitbringen, werden wir die gleiche Strafe erhalten, die Josef seinen Brüdern androhte, daß sie nämlich sein Angesicht nicht mehr schauen und von ihm nichts bekommen würden, wenn sie ihren kleinen Bruder nicht mitbrächten (Gen 42,20; 43,3).
Unser lieber kleiner Bruder ist das gebenedeite Kindlein, das Unsere liebe Frau heute in den Tempel bringt, das sie selbst oder durch den hl. Josef dem guten Greis Simeon übergibt. Es ist wahrscheinlicher, daß es der hl. Josef tat, nicht die seligste Jungfrau; dies aus zwei Gründen: einmal, weil die Väter ihre Kinder darzubringen kamen, so als hätten sie mehr Anteil an ihnen als die Mutter selbst; zum anderen, weil sich die Frauen, solange sie noch nicht gereinigt waren, dem Altar nicht zu nahen wagten, auf dem das Opfer geschah (Lev 12,4). Wie dem auch sei, das hat nicht viel zu bedeuten. Es genügt, daß der hl. Simeon das hochgebenedeite Kindlein auf seine Arme nahm, entweder aus den Händen Unserer lieben Frau oder des hl. Josef. Wie glücklich sind jene, die in der rechten Verfassung in den Tempel kommen, um diese Gnade zu erlangen, von der Gottesmutter oder ihrem Bräutigam unseren Herrn und Meister zu empfangen. Denn wenn wir ihn in unseren Armen halten, haben wir nichts mehr zu wünschen und wir können wohl das heilige Lied singen: Nun laß deinen Diener in Frieden ziehen, mein Gott, denn meine Seele ist ganz zufriedengestellt, da sie alles besitzt, was das Wünschenswerteste im Himmel und auf Erden ist (Ps 73,25).
Ich bitte euch aber, erwägen wir ein wenig die notwendigen Voraussetzungen, um diese Gunst zu erlangen, daß wir den Erlöser in die Arme schließen und ihn aus den Händen Unserer lieben Frau empfangen wie der hl. Simeon und Hanna, jene gute Witwe, die das Glück hatte, zur gleichen Zeit im Tempel zu sein. Die Kirche läßt uns (im Brevier) singen, daß der hl. Simeon gerecht war, weil er gottesfürchtig war. Das Wort gottesfürchtig an mehreren Stellen der Heiligen Schrift läßt uns an die Ehrfurcht vor Gott und den Dingen in seinem Dienst denken. Er war also voll Ehrfurcht vor den heiligen Dingen. Dann erwartete er die Erlösung Israels und der Heilige Geist war in ihm. Diese vier Voraussetzungen sind notwendig, um das Gebet gut zu verrichten, denn diese muß man zunächst erfüllen, damit wir Unseren Herrn in unseren Armen halten können; denn darin besteht das wahre Gebet.
Erstens, Simeon war gerecht. Was heißt das anderes, als daß er seinen Willen nach dem Willen Gottes ausgerichtet hatte? Gerecht sein heißt nichts anderes als nach dem Herzen Gottes sein und nach seinem Wohlgefallen leben. Was uns betrifft, sind wir um so weniger fähig, das hochheilige Gebet zu verrichten, je weniger wir unseren Willen dem Unseres Herrn angeglichen haben. Fragt jemand, wohin er gehe: Ich gehe beten. Das ist gut; Gott möge dich zum Ziel deinesWunsches und Unterfangens führen. Aber sag mir bitte, was willst du dabei tun? Ich will Gott um Tröstungen bitten. Das ist gut gesagt: du willst also nicht deinen Willen nach dem Willen Gottes ausrichten, der will, daß du Trockenheit und Unfruchtbarkeit hast? Das heißt nicht gerecht sein. O, ich will Gott bitten, daß er mich von den vielen Zerstreuungen befreit, die mir beim Gebet kommen und mich dabei belästigen. Ach, seht ihr nicht, das heißt doch nicht, euren Willen befähigen, sich dem Unseres Herrn zu vereinigen und anzupassen. Er will, daß ihr zu Beginn des Gebetes entschlossen seid, dabei die Not ständiger Zerstreuungen, Trockenheiten und des Widerwillens zu ertragen, die euch überkommen, und ebenso zufrieden zu sein, als wenn ihr viele Tröstungen und Ruhe hättet. Es ist ja sicher, daß euer Gebet Gott nicht weniger angenehm, noch uns weniger nützlich sein wird, weil es unter vielen Schwierigkeiten verrichtet wird. Wenn wir nur unseren Willen bei allen Ereignissen nach dem der göttlichen Majestät ausrichten, sei es im Gebet oder bei anderen Gelegenheiten, werden wir immer unsere Gebete und alles andere nützlich und in den Augen seiner Güte angenehm verrichten.
Die zweite Voraussetzung, die notwendig ist, um das Gebet gut zu verrichten, besteht darin, daß wir wie der gute hl. Simeon die Erlösung Israels erwarten, d. h. daß wir in der Erwartung unserer eigenen Vollendung leben und nicht ablassen zu warten. Das sage ich für manche, die das Verlangen haben, vollkommen zu werden durch die Aneignung von Tugenden, die aber alle auf einen Schlag haben möchten, als ob die Vollkommenheit in nichts anderem bestünde als im Verlangen nach ihr. Das wäre gewiß eine große Wohltat, wenn wir sogleich ohne andere Mühe demütig sein könnten, sobald wir das Verlangen haben, es zu sein. Oder wenn ein Engel eines Tages eine Schatzkammer mit Tugenden und mit der Vollkommenheit selbst füllen könnte und wirnichts anderes zu tun hätten, als hinzugehen und sie anzuziehen, wie wir es mit einem Kleid tun. Das wäre gewiß sehr angenehm. Weil das aber nicht möglich ist, müssen wir uns daran gewöhnen, das Eintreten unserer Vollkommenheit in Herzensruhe zu suchen, indem wir alles tun, was wir vermögen, um die Tugenden zu erwerben durch die Treue in ihrer Übung, jeder nach seinem Stand und Beruf. Was das Erreichen des Ziels unseres Strebens früh oder spät betrifft, bleiben wir in Erwartung; überlassen wir das der göttlichen Vorsehung. Sie wird darauf bedacht sein, uns wie den hl. Simeon zu der Zeit zu trösten, die sie dafür bestimmt hat (1 Petr 5,7.10). Und selbst wenn das erst in der Stunde unseres Todes wäre, muß uns das genügen, wenn wir nur unsere Pflicht erfüllen, indem wir stets tun, was an uns liegt und in unserer Macht steht. Wir würden immer früh genug haben, was wir ersehnen, wenn wir es haben, sobald es Gott gefällt, es uns zu geben.
Die dritte Bedingung ist, daß wir gottesfürchtig sein müssen wie der hl. Simeon, d. h. voll Ehrfurcht vor Gott zur Zeit des heiligen Gebetes. Denn welche Verehrung und Ehrfurcht müssen wir doch haben, wenn wir mit der göttlichen Majestät sprechen, wenn die Engel, die so rein sind, in seiner Gegenwart zittern. Aber, mein Gott, ich kann dieses Gefühl der Gegenwart Gottes nicht haben, die eine so große Erniedrigung der ganzen Seele bewirkt, d. h. aller Fähigkeiten unserer Seele, und schließlich jene fühlbare Ehrfurcht, die mich so sanft und angenehm vor Gott erniedrigt. Nun, von dieser Ehrfurcht will ich nicht sprechen, sondern von jener, die bewirkt, daß der höhere Teil und die Spitze unseres Geistes sich niedrig und demütig vor Gott hält, seine unendliche Größe und unsere tiefe Niedrigkeit und Unwürdigkeit anerkennt. Wie gut tut es, die Ehrfurcht zu sehen, mit welcher der hl. Simeon das göttliche Kind in seinen Armen hielt, da er die Erkenntnis der erhabenen Würde dessen besaß, den er trug!
Viertens wird gesagt, daß der Heilige Geist im hl. Simeon war und seine Wohnung in ihm nahm. Das geschah deshalb, weil er gewürdigt wurde, unseren Herrn zu sehen und in seinen Armen zu halten. Wir müssen also dem Heiligen Geist Raum in uns geben, wenn wir wollen, daß Unsere liebe Frau oder der hl. Josef uns den göttlichen Heiland zu tragen und in unseren Armen zu halten gibt. Darin besteht unser ganzes Glück, denn wir können nur durch seine Vermittlung und seine Gunst Zugang zu seinem Vater haben (Röm 5,2; Eph 2,18; 3,12). Was muß man nun tun, um dem Heiligen Geist Raum in uns zu geben? Der Geist des Herrn ist ausgegossen über die ganze Erde (Weish 1,7). Trotzdem heißt es aber an einer anderen Stelle (4,5), daß er nicht in einem falschen und heuchlerischen Herzen wohnt. Es ist wichtig, daß der Geist Gottes nur den Vorbehalt der Falschheit und Heuchelei macht, um nicht in uns zu wohnen. Wir müssen also schlicht und einfach sein, wenn wir wollen, daß er zu uns kommt und nach ihm Unser Herr. Der Heilige Geist scheint ja der Quartiermacher unseres Erlösers Jesus Christus zu sein. Wie er von aller Ewigkeit von ihm als Gott ausgeht, scheint er mit ihm zu tauschen, indem Unser Herr als Mensch von ihm ausgeht.
Was bleibt uns jetzt noch zu sagen? Wenn wir in diesem vergänglichen und sterblichen Leben den Heiligen Geist in uns haben und uns in großer Achtung und Ehrfurcht vor der göttlichen Majestät halten, ergeben das Erreichen unserer Vollkommenheit erwarten und, soviel wir können, unseren Willen dem Willen Gottes angleichen, dann werden wir das Glück haben, den Heiland in unseren Armen zu halten, und durch diese Gnade werden wir ewig selig sein. Amen.
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