(Entwurf)Grenoble, 01. März 1617 (OEA VIII,320-324; DASal 9,175-177)
Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Alten?(Mt 15,2)
Der Herr tadelt hier die Heuchler, daß sie ängstlich auf bestimmte Überlieferungen pochen und solche geschaffen haben, die im Widerspruch zum Wort Gottes stehen. Er lehrt also im Gegenteil, daß gut jene Überlieferungen sind, die dem Wort Gottes nicht widersprechen, vielmehr mit ihm übereinstimmen. Bei dieser Gelegenheit will ich euch eine kurze Belehrung über die Überlieferung geben.
Die ganze christliche Lehre ist ursprünglich und in sich Überlieferung. Denn der Urheber der christlichen Lehre war Christus der Herr. Aber er hat 1. selbst überhaupt nichts geschrieben, außer das Wenige, als er die Ehebrecherin lossprach; er wollte aber nicht, daß wir wissen, was er schrieb, deshalb hat er es in den Sand geschrieben (Joh 8,8). Er hat 2. auch niemand beauftragt zu schreiben, außer was er den Bischöfen Kleinasiens mitteilen wollte (Offb 1,11). Deshalb nannte er 3. seine Lehre nicht „Eugraphium“ (die frohe Schrift), sondern Evangelium (frohe Botschaft) und gab den Auftrag, sie vor allem durch die Predigt zu verbreiten. Er hat nämlich nie gesagt: Schreibt das Evangelium der ganzen Schöpfung, sondern verkündet (Lk 16,15).
4. Deshalb sagte er nicht, daß der Glaube durch das Lesen entsteht, sondern durch das Hören. So sagt er selbst (Lk 10,16 u. ö.): Wer euch hört, der hört mich; Mt 13,9.43: Wer Ohren hat zu hören, der höre. Deshalb sagt der Vater (Mt 17,5): Ihn sollt ihr hören. Ebenso sagt der Apostel (Röm 10,17f; Ps 19,5): Der Glaube kommt vom Hören, das Hören aber vom Wort Gottes. Ihr Schall drang in alle Länder. – 5. So sagt der hl. Paulus (2 Thess 2,14) auch: Haltet fest an den Überlieferungen, die ihr empfangen habt, sei es mündlich oder durch unseren Brief. Und 1 Tim 6,20: Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, meide die Neuerungen eitler Reden und die Einwände der fälschlich so genannten Erkenntnis. Die Häretiker deuten das anvertraute Gut als die Gnade Gottes, die Timotheus empfangen hat, um seines Amtes gut zu walten. Wie unvernünftig und falsch das ist, zeigen die folgenden Worte. Paulus stellt das anvertraute Gut den Neuerungen eitler Rede und den Einwänden der fälschlich so genannten „Erkenntnis“ gegenüber. Dazu sind die Väter zu hören; sehr schön Vinzenz von Lerin, Judas in seinem Brief (3f): Geliebteste, ich habe es mir zum Anliegen gemacht, euch über euer gemeinsames Heil zu schreiben, und ich hielt es für notwendig, euch zu schreiben und euch anzuflehen, daß ihr euch mit aller Kraft einsetzt für den Glauben, der ein- für allemal den Heiligen überliefert wurde; denn es haben sich gewisse Leute eingeschlichen ... Auf jedes Wort legt er Nachdruck: supercertari, sich anstrengen, nicht nur kämpfen, sondern hart und tapfer kämpfen, mehr als kämpfen; semel, nicht zweimal, stets ganz der gleiche Glaube, überliefert, überliefert.
Nun werden aber in der ganzen Lehre zwei Teile unterschieden, entsprechend dem Wort des hl. Paulus: sei es mündlich oder durch unseren Brief. Nun zweifelt niemand daran, daß der beste und notwendigste Teil der Lehre schließlich niedergeschrieben wurde; ein Teil jedoch wurde nicht schriftlich, sondern gleichsam von Hand zu Hand überliefert. Da fällt mir die Begebenheit 1 Kön 3,16-28 ein: Die Frau, der das Kind, d. h. die christliche Lehre gehört, will nicht, daß es zerstükkelt wird. Die katholische Kirche will das ganze Wort Gottes: die Schriften und die Überlieferungen. Die Sekten dagegen wollen immer, daß es zerstückelt wird. So lehnen gegenwärtig Kaspar Schwenckfeld und die Libertiner die heiligen Schriften ab, die Calvinisten die Überlieferung. Das ist ein Kennzeichen fast aller, daß sie einen Teil annehmen und einen Teil ablehnen: Gestalt, Zeichen, aber nicht die Sache; Anrechnung, nicht Gnade; Glaube, keine Werke; Nachlassen, nicht Vergebung (der Sünden); Verwaltung, kein Bischofsamt, unmittelbares Gebet, kein mittelbares.
Aber, sagen sie, genügen die heiligen Schriften nicht allein? Sind sie nicht ausreichend und mehr als das? Gewiß möchte ich nicht behaupten, wie gewisse sehr berühmte und gelehrte Männer, daß sie nicht genügten. Sie selbst genügen vollständig, aber wir sind nicht hinreichend fähig, die katholische Lehre nur aus den heiligen Schriften, allein für sich genommen, zu schöpfen. Hatten denn nicht alle Irrlehrer die heiligen Schriften, ja sogar die Juden und andere? Und doch glaubten sie nicht und sind dem Irrtum verfallen. Also sind die Überlieferungen notwendig; denn die Lehre nur unter der Eingebung des Heiligen Geistes schöpfen zu wollen, ist unsinnig und wir hätten „soviel Meinungen als Köpfe“. Deshalb muß man das anvertraute Gut (depositum) sehen, dem ein- für allemal den Heiligen überlieferten Glauben folgen, auf die Kirche als dessen Hüterin hören. Sie besitzt ja die Lehre nicht als ihre eigene Erfindung, sondern als treu gehütetes Gut. Die Kirche genügt, weil sie uns die heiligen Schriften gibt; die Überlieferung genügt, weil sie die heiligen Schriften empfiehlt; die heiligen Schriften genügen, weil sie die Kirche und die Überlieferungen empfehlen. Die Kirche ist wie eine Taube, die zwei Flügel hat: die Heilige Schrift und die Überlieferung.
Die Kirche bedarf der Überlieferung, 1. daß sie uns die Existenz bestimmter heiliger Schriften lehre. Denn woher sollte die Gewißheit kommen, wenn nicht vom Zeugnis der Kirche, die diese Überlieferung empfangen hat? So gibt entweder die Heilige Schrift keinen Glauben oder die Überlieferung gibt den Glauben.
2. Damit wir die Zahl der kanonischen Bücher kennen. Denn der hl. Paulus schrieb z. B. einen Brief an die Gemeinde von Laodizea (Kol4,16), und er wird weitergegeben. Man sagt aber, daß er auch an Seneca geschrieben habe. Ferner erwähnt Judas in seinem Brief (14,15) eine Weissagung Henochs. Dazu bemerken die Genfer: „Diese Weissagung Henochs steht nicht in der Bibel, sondern wurde mündlich von den Vätern an die Kinder weitergegeben, wie vieles andere auch.“ So sagt der Apostel (Hebr 5,11): Darüber hätten wir Großes zu sagen, aber es ist nicht in Worten auszusprechen, weil ihr unfähig geworden seid zu hören. Pastor Hermes, Evangelium der Nazarener, des Thomas.
3. Um den Sinn der Heiligen Schrift festzustellen. Denn Irrlehren entstehen, „wenn die echten Schriften nicht recht verstanden werden“ (Augustinus).
nach oben | Übersicht Salesianische Predigten | Übersicht Franz von Sales-Predigten