Annecy, 6. Juni 1617 (OEA IX,84-89; DASal 9,248-252)
Die Aufnahme von Seelen, die sich Gott weihen, um ihm im Ordensleben zu dienen, hat man immer sehr feierlich gemacht. Ich stelle allerdings fest, daß man darin bei der Aufnahme von Mädchen mehr getan hat als bei den Männern. Ich persönlich glaube, daß dies deswegen geschieht, weil man beim zarten Geschlecht um so mehr die Stärke bewundern und feiern muß, mit der sie sich von allen irdischen Dingen lossagen. Ihre Hochherzigkeit beschämt gewiß viele, die sich für sehr tapfer und mutig halten.
Sie schätzen das Glück sehr hoch, sagen sie, ganz Gott zu gehören.´Wenn es stimmt, daß ihr es so hoch einschätzt, warum zieht ihr euch nicht ins Kloster zurück, um Unserem Herrn noch ausschließlicher anzugehören und ihm noch vollkommener zu dienen, da ihr keinen triftigen Grund habt, in der Welt zu bleiben? O Gott, ich kann mich von dem und jenem nicht trennen, das ich sehr liebe; ich möchte wohl, aber ich kann nicht. Gebt also zu, daß euch die Kraft und der Mut fehlt und daß ihr euch übertreffen laßt von Seelen, die ihr für schwächer und gebrechlicher haltet als euch. Damit aber die einen wie die anderen Gelegenheit haben, sich zu demütigen, müssen wir bekennen, daß unsere Stärke und unser Mut nicht von uns stammen; der große Apostel Paulus sagt ja, daß unsere ganze Fähigkeit vom Himmel kommt (2Kor 3,5). Wir müssen deshalb dem Heiligen Geist die Ehre geben, denn er gefällt sich darin, das Schwächste und Niedrigste zu erwählen, um seine Größe und seine unvergleichliche Güte zu offenbaren (1Kor 1,27f).
Überaus bewundernswert ist die Vielfalt der Lockungen des Heiligen Geistes. Die Braut im Hohelied (1,2f) sagt zu ihrem göttlichen Bräutigam: Dein Name, mein Vielgeliebter, ist wie Öl und wie ausgegossener Balsam; er verbreitet einen so guten Duft über die ganze Erde, daß sich die Mädchen nach dir sehnen. Wie groß ist das Glück der jungen Mädchen, die aus Sehnsucht nach Unserem Herrn kommen, um sich alle seiner Liebe zu weihen! Unter den Jungen verstehe ich nicht jene, die es an Jahren sind, obwohl ihr Glück sehr groß ist, daß sie die ersten und besten Jahre dem Dienst der göttlichen Majestät widmen können; damit meine ich vielmehr diejenigen, die noch zart und jung sind an Frömmigkeit. Was aber meint ihr, sind jene Düfte, die sie anlocken? Wieviel Ursache hat die göttliche Liebende und wieviel haben auch wir, erstaunt zu sein, denn diese Düfte sind nichts anderes als das Kreuz, die Dornen, die Nägel und die Lanze. O Gott, welches Wunder, daß Unser Herr den Seelen Sehnsucht nach ihm schenkt und sie zu seiner Nachfolge anzieht durch alles, was dem menschlichen Empfinden so hart und abstoßend ist!
Seht, bei uns ist es nicht üblich, die Mädchen zu täuschen, die sich vorstellen, um ins Kloster aufgenommen zu werden. Denn wir sagen ihnen, daß sie bei ihrem Eintritt sterben und daß sie nicht mehr für all das leben dürfen, wofür sie in der Welt gelebt haben. In der Welt habt ihr für euren eigenen Willen gelebt; den muß man jetzt sterben lassen. Ihr habt nach euren Sinnen gelebt; sie müssen nun gestorben sein. Ihr habt in der Hoffnung gelebt, die Güter zu besitzen, die die alten Philosophen das Glück nennen wollten, nämlich Reichtum, Ehren, Größe, Würden; dem muß man absterben. Ihr werdet nichts Eigenes mehr besitzen, man wird nicht länger euer Lob singen, man wird keine Notiz mehr von euch nehmen, als wäret ihr nicht mehr auf der Welt. Mit einem Wort, ihr müßt dem eigenen Willen, den Sinnen und der Eitelkeit absterben.
Dem Willen sterben. Wie notwendig ist dieser Punkt! Man kann diese Notwendigkeit nicht hoch genug ansetzen. Der große hl. Basilius dachte darüber eines Tages nach und fragte sich: Sollte es nicht möglich sein, Gott vollkommen zu dienen, indem man große und harte Bußwerke und Strengheiten übt, ja Großes für Unseren Herrn tut, und doch seinen eigenen Willen zu behalten? Sogleich schien es ihm, daß Unser Herr und hochheiliger Meister ihm antwortete: Ich habe mich aus meiner eigenen Herrlichkeit begeben, ich bin vom Himmel herabgestiegen, ich habe alle menschlichen Armseligkeiten auf mich genommen und bin schließlich gestorben, ja am Kreuz gestorben (Phil 2,7f). Und warum das alles? Vielleicht um zu leiden und dadurch die Menschen zu erlösen? Oder habe ich das zufällig aus freier Wahl getan? O nein, erlaube, der einzige Grund, warum ich alles getan habe, was ich tat, war der, mich dem Willen meines Vaters zu unterwerfen, der das wollte. Und um zu zeigen, daß es nicht nach meiner Wahl geschah, sollst du wissen: wäre es der Wille meines Vaters gewesen, daß ich eines anderen Todes sterbe als am Kreuz oder daß ich in Freuden lebte, dann hätte ich mich dazu ebenso willig bereitgefunden, denn ich bin nicht in die Welt gekommen, um meinen Willen zu tun, sondern den meines Vaters, der mich gesandt hat (Joh 5,30; 6,38; Ps 40,9; Röm 15,3). O Gott, der Wille unseres teuren Erlösers konnte stets nur ganz vollkommen sein und folglich nichts wählen, was seinem Vater nicht höchst wohlgefällig gewesen wäre; wenn er nicht nach seinem eigenen Willen leben wollte, wie könnten wir dann so kühn sein, den unseren leben zu lassen, dessen Wahl gewöhnlich alle unsere Werke verdirbt?
Es wäre sogar wertvoller, gegen unseren Willen zu Ehrenstellen erhoben zu werden (und es gehörte unvergleichlich mehr Mut dazu, sie anzunehmen), als sie nach eigener Wahl und Entscheidung zurückzuweisen, wenn wir erkennen, daß wir ihrer nicht würdig sind. Dafür sehen wir ein Beispiel am großen hl. Claudius, dessen Fest wir heute feiern. Nachdem er als Domherr von Besançon dem geistlichen Stand seltene Beispiele der Tugend gegeben hatte, wurde er einmütig zum Erzbischof dieser Stadt gewählt. Obwohl seine Demut bewirkte, daß er sich dessen unwürdig erachtete, nahm er das Amt dennoch an, weil es der Obere befahl, der Papst es anordnete und weil ihn die einmütige Wahl des Volkes erkennen ließ, daß es der Wille Gottes war. Es ist Stolz, Ämter und Ehrenstellen zu suchen, es wäre andererseits Vermessenheit, sie zurückzuweisen, wenn sie uns von denen angeboten werden, die Macht über uns haben.
Schließlich gibt es keine echte Tugend ohne das Absterben des Eigenwillens, und der hl. Bernhard sagt, daß in der Hölle nur der Eigenwille brennt.
Aber das ist nicht alles; denn wir sagen diesen Mädchen, die in das Kloster eintreten wollen, daß sie allen Sinnen absterben müssen. Das heißt, man darf keine Augen mehr haben, um zu sehen, keine Ohren, um zu hören, usw. Man muß ihnen also ihre Funktion entziehen. Ihr seid gewohnt, den Blick erhoben zu halten und die Augen stets offen, um alles anzuschauen; von nun an müßt ihr den Blick senken und die Augen nur öffnen, wenn es notwendig ist, nicht aus Neugierde. Das Kleid, das wir ihnen geben, macht das hinreichend deutlich, vor allem aber der Schleier, den wir ihnen aufs Haupt setzen; er zeigt, daß sie sich ihrer Sinne und ihrer Fähigkeiten für nichts Irdisches mehr bedienen dürfen; vielmehr darf in ihnen wie in toten Mädchen, nichts mehr von all dem lebendig sein, was bis zu dieser Stunde in ihnen gelebt hat. Mit einem Wort, wir wiederholen: Ihr müßt eurem bürgerlichen Leben absterben, denn wie wir schon gesagt haben, werdet ihr kein Ansehen mehr genießen, man wird von euch nur mehr wie von Toten sprechen. Man wird euch auch mit einem schwarzen Sack bekleiden, der euch daran erinnern soll.
Wozu aber derart allem absterben, insbesondere sich selbst? Gewiß nur zu dem Zweck, daß Jesus Christus in euch lebe. Welcher Christus? Der Verherrlichte? O nein, noch nicht. Das wird im Himmel sein, daß der Verherrlichte in uns lebt; für jetzt aber muß es der Gekreuzigte sein, denn wir sind in der Zeit der Drangsal, nicht der Freude. Hört, was der hl. Paulus von sich selbst sagt: Ich lebe, doch nicht mehr ich lebe, sondern mein Herr lebt in mir (Gal 2,19f); nicht mein verherrlichter Herr, sondern der gekreuzigte. Im übrigen wundere ich mich sehr, wie man den Mut hat, zum Dienst Gottes zu kommen, da man keine Tröstungen und Freuden verspricht, sondern daß man immer arbeiten und leiden muß, sich immer abtöten und demütigen. Da ist ohne Zweifel eine geheime Kraft am Werk; es ist die Kraft der Lokkungen des Heiligen Geistes, die auf diese Weise zu seiner größeren Verherrlichung wirkt.
Indessen erwäge ich, daß im heutigen Evangelium (Mt 25,14-23) von den Talenten, die der Herr seinen Dienern übergab, als er eine Reise antrat, berichtet wird, daß er davon eines übergab, dann zwei und dann fünf. Es ist ein großes Talent, christlich zu leben in der Beobachtung der Gebote Gottes. Trotzdem ist der mehr begünstigt, der deren zwei erhalten hat, d. h. mit diesem einen auch noch das, nach der Vollkommenheit des christlichen Lebens streben zu wollen. Aber, o Gott, wie groß ist das Glück dessen, der darüber hinaus drei Talente erhalten hat, in denen alle christlichen Vollkommenheiten enthalten sind! Das sind die drei wichtigsten Ratschläge Unseres Herrn: Gehorsam, Keuschheit und Armut. Das sind die drei verwirklichten Gelübde, die uns mit Gott vereinigen (ich sage verwirklicht, nicht nur gelobt). Durch diese drei Gelübde weihen wir uns Gott und übergeben ihm alles, was wir haben: durch das Gelübde der Armut übergeben wir unseren Besitz und alle Ansprüche, die wir haben, etwas zu besitzen; durch das Gelübde der Keuschheit übergeben wir unseren Leib und durch das des Gehorsams übergeben wir unsere Seele mit all unseren Kräften. – – –
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