Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar / Februar 2004
Geborgen und frei
Katharina Grabner-Hayden
„Wen hast du lieber, die Hundeschüssel oder mich?“ –
„Die Hundeschüssel natürlich.“
„Wen hast du lieber, den Fernseher oder mich?“ – „Den
Fernseher natürlich.“
„Wen hast du lieber, die Wimmer oder mich?“ Die Wimmer ist
unsere nette Nachbarin, die veranlasste, dass man vor ein paar Jahren
einen herrlichen Kirschbaum umschneiden ließ, damit die Kinder von
den Ästen, die auf unseren Grund hingen, nicht essen konnten. Futterneid.
„Die Wimmer natürlich.“
Kennen Sie dieses Spielchen? Wir haben
es ein wenig abgeändert. Je paradoxer die Antworten, desto lieber
hat man den Fragenden. Meine Kinder lieben dieses Spielchen, stundenlang,
im Auto, beim Kochen, beim Wandern. Dabei wissen sie alle drei, dass ich
jedes von ihnen in seiner Form gleich lieben kann.
Kann man in der Liebe überhaupt Prioritäten setzen oder portionieren?
Viele haben mich gefragt, ob es möglich ist, alle tatsächlich
gleich lieb zu haben. Ja, kann ich da nur sagen, jeden in seiner Art,
und wundere mich über die Fragestellung. Eine Selbstverständlichkeit,
mag man wohl meinen. Die Realitäten schauen aber leider anders aus.
Oft sitzt man in unserem Hause gemütlich
beisammen und wir erzählen uns von so manchen Kinderstreichen
und Jugenderinnerungen. Das harte Arbeiten am Bauernhof, die Großeltern,
nostalgisch werden dann Gefühle überzeichnet und glorifiziert.
Mag sein, es waren aber wirklich schöne Kindheitserinnerungen auf
die wir zurückblicken können. Eine ständig umsorgende Mutter,
ein meist überforderter Vater, der Großvater, der schon in
der früh sein erstes Gläschen Wein trank, die beherrschende
Großmutter, der man einiges verschweigen musste, um nicht ein kränkelndes
Raunzen und Wehklagen auszulösen.
Wir waren eingebettet in ein sozial höchst differenziertes Beziehungsmuster,
wir konnten uns angleichen oder streiten, konnten ausschweifen und hatten
die Möglichkeit, in dieses System zurückzukehren. Bis wir selbst
erwachsen waren, mit all unseren Talenten und Unzulänglichkeiten.
Das System hatte einfach Platz für uns.
Der Zeitfaktor wird oft als ein bestimmendes Argument herangezogen, warum
Beziehungen auseinandergehen oder nicht funktionieren. Zeit war aber auch
schon damals ein knappes Gut. Großmutter im Haus, die Eltern ständig
arbeitend unterwegs, wir Kinder konnten mitarbeiten oder vertrieben uns
die Zeit bei den Tieren am Hof, oder es wurde uns von der Großmutter
Arbeit gefunden, die wir erledigen mussten. Das, was wir Kinder aber hatten,
war ein unvorstellbarer Freiheitsraum und Geborgenheit.
Die Erwachsenen hatten genauso viel oder wenig
Zeit wie heute, und trotzdem war da ein Unterschied zu heutigen
Verhältnissen. Wir wussten immer, wohin wir gehen konnten, hatten
ein Zuhause. Ein Zuhause nicht nur in räumlicher Hinsicht, sondern
in einer geistig-menschlichen Art. Irgendjemand war eben immer da und
konnte mit uns Sorgen und Nöte, aber auch Glück und Freude teilen.
Hier ging es um ein harmonisches Beziehungen-leben,
es ging um Liebe und Zuwendung, die man sich schenkte. Mit all den Schwierigkeiten,
die eben auch auftreten können, wenn so eine große Familie
zusammenlebt.
Wir Erwachsene können auf ein unerschöpfliches Reservoir an
Gefühlen und Beziehungsmus-ter zurückgreifen, die heute durch
den Druck der Zeit nicht mehr existieren.
Doch genau diese zwei Faktoren, Geborgenheit und Freiheit, sind der humusreiche
(humanreiche) Nährboden für Liebe. Liebe hat kein Zeitmaß,
lässt sich nicht quantifizieren, darf maßlos sein, kann ohne
Bedenken ausgeschüttet werden. Wäre Leitbild und Zielvorgabe,
höchstes Gut. Knappes Gut. Geworden.
Für uns und den nachfolgenden Generationen, obwohl wir wissen sollten,
dass wir ihnen damit den Boden unter den Füßen entziehen. Und
dann fällt man in das berühmte Loch der maßlosen Einsamkeit
und Isolierung, lebt nur noch für sich. Egoismus und Autismus.
Sucht und Suche nach diesen „alten“
Beziehungsmustern werden bestimmende Faktoren. Leider muss ich
sagen, befinden wir uns in dieser Tätergeneration, einer Täterschaft,
die duldet und unterlässt, sich selbst und den anderen liebenswert
zu finden.
Dafür gibt es mittlerweile genügend Fakten aus den einzelnen
europäischen Volkswirtschaften. Wir können uns die Übernahme
dieser sozialen Dienste am Nächsten aus den traditionellen Sozialversicherungssystemen
nicht mehr leisten. Nicht einmal auf das können wir in den nächsten
zwanzig Jahren zurückgreifen, wenn man nicht schleunigst zu effektiven
Gegenmaßnahmen greift. Doch wie kommt man aus diesem ruinösen
System heraus?
Wie bringt man eine Gesellschaft dazu, sich
liebenswerter zu gestalten? Ein Auftrag, ein Herausforderung an
jeden einzelnen von uns.
Die Lösung liegt sicher nicht in aufgezwungenen großen Veränderungen,
sondern in ganz kleinen Schritten, die jeder von uns tun kann.
Es liegt an uns etwas zu tun, keiner kann sich herausstehlen, dies ist
eine Frage des Wollens und der persönlichen Zielvorgaben, um unsere
Welt wieder liebenswerter zu gestalten.
Katharina Grabner-Hayden ist gelernte
Betriebswirtin. Sie ist verheiratet und hat drei Söhne.
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