Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Mai / Juni 2004

Frau Müller und das Mäuschen Frida
Carolin Rixner

Am Ende der Rosenstraße steht ein großes Haus. Es ist gepflegt und von einem hübschen Garten umgeben. In diesem Haus wohnt seit 40 Jahren Frau Müller. Vor kurzem hat sie ihren 72. Geburtstag gefeiert. Sie ist eine rüstige alte Dame und hätte ein schönes Leben haben können. Aber sie ist nicht glücklich. Jeden Morgen beim Aufstehen fühlt sie die Schmerzen in den Beinen und denkt: „Ja, bald werd ich gar nicht mehr laufen können und dann ist’s sowieso vorbei mit mir. Lang werd ich’s nicht mehr machen.“

Was wird morgen sein?
Dann, nachdem sie ein kleines Frühstück zu sich genommen hat („Das Brot schmeckt auch nicht mehr so richtig. Der Bäcker wird immer knauseriger mit den Gewürzen und dem Salz …“), macht sie sich auf den Weg zum Einkaufen. Sie braucht nicht viel. „Früher war alles billiger“, denkt sie bei sich – vielleicht brabbelt sie es auch leise vor sich hin –, als sie die Waren in ihren Korb legt. „Und die Qualität war auch besser. Heutzutage wird alles in riesigen Fabriken gefertigt und überall ist Chemie drin. Aber ich sterb’ sowieso bald und um eine alte Frau macht sich ohnehin keiner Gedanken.“
Beim Nachhauseweg begegnen ihr Schulkinder, die lachend über den Gehsteig hüpfen. „Nicht mal grüßen tun die! Wir damals hatten noch Respekt vor dem Alter!“ schimpft Frau Müller vor sich hin.
Zuhause setzt sie sich in ihren Sessel, um sich auszuruhen. „Mei, seit der Albert nimmer lebt … Früher, ja, da sind wir immer zusammengesessen, und was hätten wir noch für ein schönes Leben haben können … Aber jetzt bin ich allein und hab nur noch das Sterben vor mir …“ Sie denkt traurig an das Gestern und angstvoll an das Morgen. Mit derartigen Gedanken schließt sie die Augen und fällt in einen unruhigen Schlaf.

Auf das Heute blicken
Doch ganz allein ist sie gar nicht, sie weiß nur nichts von ihrer Gesellschaft – und wenn sie’s gewusst hätte, wer weiß, ob sie so glücklich darüber gewesen wäre?
In der Wand zwischen Wohnzimmer und Küche wohnt die Mäusedame Frida. Frida ist umgerechnet ungefähr genauso alt wie Frau Müller und auch sonst gleichen sich ihre Leben. Auch Frida wohnt allein hier, ihr Mann ist vor einiger Zeit gestorben und auch ihr schmerzen beim Aufstehen die Glieder.
Und doch unterscheidet sich unser Mäuschen deutlich von unserer Frau Müller. Trotz steifer Gelenke steht Frida morgens voller Tatendrang auf, futtert zufrieden das, was es gibt, und verlässt dann ihr Versteck, um ihr Mittag- und Abendessen zu suchen. Sie weiß, dass draußen viele Gefahren lauern, aber sie macht sich keine Sorgen. An der Mausefalle, die schon ihrem lieben Klaus das Leben gekostet hat, huscht sie furchtlos vorbei und schnappt sich alles Brauch- und Essbare ohne wählerisch zu sein. In seiner kleinen Höhle verstaut unser Mäuschen gewissenhaft seine Vorräte und legt sich dann zu einem Nickerchen hin. Was gestern war, das hat es schon lange vergessen, und was morgen kommt, das kümmert es jetzt noch nicht. Frida lebt gerade im Moment – und nun schnarcht sie zufrieden vor sich hin. n

Carolin Rixner lebt in Landershofen und besucht die Euro-Sprachenschule in
Ingolstadt, Bayern

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