23. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr A

Verzeihen ist besser als Rache (Mt 18,15-20)

Liebe Schwestern und Brüder

Wie gehen die Menschen, wie gehen die Gemeinden, wie gehe ich mit Fehlern und Schuld der Mitmenschen um? Man vertraut sich einem dritten an, spricht über statt mit jemandem: „Sag, wie findest Du das Verhalten von Herrn Müller?“ Man freut sich gar an der Verfehlung des anderen und kennt kaum spannendere Themen: „Hast Du schon gehört…?“ Man schluckt hinunter und spricht die Dinge gar nicht aus, lässt „Gras darüber wachsen“ und merkt oft zu spät, dass nicht frisches Gras, sondern stinkender Moder sich auf das Unausgesprochene gelegt hat. Man sammelt den Ärger, und irgendwann knallt man dem anderen die angestauten Vorwürfe an den Kopf/vor die Füße. – So reagiert man, und man sagt, man wolle sich nicht in anderer Leute Angelegenheit einmischen, man wolle sich nicht die Finger verbrennen, sich nicht unbeliebt machen… und was auch immer die gängigen Entschuldigungen sein mögen. Es sei dahingestellt, warum „man“ so reagiert, ob es Angst, Unsicherheit, schlechte Erfahrung ist, es lässt sich auf keinen Fall bestreiten, dass es dem heutigen Evangelium nicht entspricht – und eigentlich auch nicht einem tiefsten menschlichen Empfinden.

Schauen wir an dieser Stelle einmal in die heutige Bibelstelle hinein. Das Evangelium spricht eine unmissverständliche Einladung aus: Vergebung muss in der Gemeinde erfahrbar werden. Sie kann zu einem neuen Miteinander führen, zur Versöhnung trotz aller Schuld, zur Versöhnung, die die Gräben zwischen den Menschen wieder überwindet. „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Diese Verheißung Jesu gilt nicht nur für den Gottesdienst, sondern da, wo Menschen in seinem Geist zusammenkommen und leben wird neues Leben möglich, in der Familie, in der Nachbarschaft, in den Gruppen der Gemeinde oder am Arbeitsplatz. Die Frage ist nur: Habe ich wirkliches Interesse am Anderen? Spüre ich, wenn neben mir einer in Not ist?

Eine wahre Geschichte aus Peru mag deutlich machen was gemeint ist. Zwei Frauen, Berna und Christy leiten in Peru im Hochland eine Gemeinde. Der Küster war Alkoholiker. Er kam oft betrunken oder zu spät zum Dienst. Die Leute verlangten seine Entlassung. Bei einem großen Gottesdienst war die ganze Gemeinde eingeladen. Es kostete viel Vorbereitung. Aber außer den beiden Frauen war nur der Küster anwesend. Eine große Enttäuschung: „Sollen wir den Gottesdienst überhaupt halten?“ Da sagte der Küster zu den beiden Frauen: „Habt ihr denn nicht im Evangelium gelesen: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Wir sind doch drei.“ Die beiden Frauen waren ganz betroffen und sagten sich: Können wir dem kündigen, von dem wir das Evangelium lernen? - Das Ergebnis dieser Begebenheit kann man in einem Satz zusammenfassen: Wenn wir so miteinander umgehen, dann geschieht Vergebung, dann ist er mitten unter uns.

Auch eine andere Geschichte kann uns helfen, die heutige Frohe Botschaft zu verstehen und sie auf unseren Alltag herunter zu brechen. Von Bischof Ammonas wird folgendes erzählt: Eines Tages kommt er in ein Dorf, in dem die Leute schwer aufgebracht sind, weil der Mönch, der am Berg wohnt, eine Frau zu sich hereinlässt. Dieser Mönch hat schon lange einen schlechten Ruf. Die Leute bestürmen den Bischof: „Jetzt bist du da, jetzt musst du der Sache ein Ende bereiten. Das ist ja ungeheuerlich, was sich auf dem Berg da oben abspielt.“ Also stapft der Bischof den Berg hinauf, die gesamte Dorfbevölkerung hinter ihm her. Ammonas ist als erster oben an der Hütte. Als der Mönch die Leute kommen sieht, packt ihn die Panik, und er steckt die Frau kurzerhand in ein Fass. Ammonas ist als erster oben, und als er in die Hütte kommt, durchschaut er blitzschnell die Situation. Er setzt sich sofort auf das Fass, winkt die Leute herein und sagt: „Jetzt sucht die Hütte ab, sucht die Frau!“ – Als sie sie nicht finden, sagt er: „So, jetzt kniet nieder und bittet Gott um Verzeihung, dass ihr dem Bruder so übel nachgeredet habt.“ Als sie weg sind, geht er zu dem Mönch, nimmt ihn bei der Hand und sagt: „Bruder, gib auf dich acht“!

Diese Geschichte bildet einerseits eine Kontrast zum Evangelium, andererseits eine Konkretisierung und Erhellung durch das Verhalten des Bischofs. Die Dorfbewohner stellen die im Evangelium vorgeschlagene Reihenfolge auf den Kopf. Bei ihnen steht nicht das geschwisterliche Gespräch unter vier Augen am Anfang, sondern die Denunziation. Es geht ihnen gar nicht darum, den Mönch wiederzugewinnen, ihn vor weiterem Unheil zu schützen. Sie wollen ihn bloßstellen und ihm wehtun. Sie verweigern ihm auch das Gespräch mit der Gemeinde und schieben im Bischof eine Amtsperson vor. Die Dorfbewohner reden nicht mit dem Mönch, sondern über ihn. Es leuchtet ein, was Jesus seinen Jüngern rät: Redet mit dem Bruder unter vier Augen, macht ihn nicht fertig, sondern versucht ihn zu überzeugen. Das wäre der richtige Weg, und gerade den Weg gehen die Dorfbewohner in ihrem Verhalten nicht.

Ist es heute viel anders? Das Evangelium hält uns einen Spiegel vor. Wie gehen wir mit anderen Menschen um? Kennen wir nicht auch solche Reaktionen wie die der Dorfbewohner? Wie gehen wir in der Gemeinde miteinander um, oder wenn ein Priester sein Amt aufgibt?

Wie wohltuend ist da das Verhalten des Bischofs in der Geschichte. Er begegnet dem Sünder nicht als Amtsinhaber, der seine Macht ausspielt, sondern kraft seiner Autorität verschafft er ihm vor der aufgebrachten Menge jenen Schutzraum, in dem es möglich wird, sich als Brüder zu begegnen. Er schützt ihn zwar vor den anderen, aber er nimmt doch die Sünde sehr ernst. Er macht ihm deutlich, dass er in Gefahr ist, sich und sein Heil zu verlieren. Das Verhalten des Bischofs ist stark vom Geist des Evangeliums durchdrungen. Jesus will, dass keiner verloren geht. Ihm geht es um den einzelnen Menschen. So geht es dem Bischof auch nicht so sehr um die Verfehlung des Bruders. Wichtig ist ihm vielmehr, den Bruder zurückzugewinnen, ihm jenen Raum zu eröffnen, in dem er aufatmend wieder von vorne beginnen darf.

Auch unser Ordensvater, der hl. Franz von Sales (1567-1622), der Bischof von Genf mit Sitz in Annecy war, war der Meinung, das Verzeihen nicht nur „keine Schande“ oder gar Schwäche, sondern Ausdruck besonderer Charakterstärke ist. Sie ist immer die bessere Lösung und auch die wirksamere Rache, denn „das Herz, das verzeiht, lässt das Unrecht des Verleumders um so deutlicher werden.“ – Das Vorbild für die Tugend des Verzeihens ist für Franz von Sales das Beispiel Jesu. Er hat noch am Kreuz dem einen Verbrecher verziehen. Praktiziertes Christsein heißt demnach nicht nur am Sonntag den Gottesdienst besuchen, sondern auch versuchen den Mitmenschen zu verzeihen. Nicht nur sieben mal oder siebenundsiebzigmal, sondern immer wieder.

Pater Hans-Werner Günther OSFS