Die Bescheidenheit –
die Tugend des wahren Erfolges
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„Bescheidenheit ist ein Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Dieses Sprichwort hat sich in uns eingeprägt und macht deutlich, dass das Bild, das wir von der Tugend der Bescheidenheit besitzen, doppeldeutig ist: Bescheidenheit ist zwar gut und schön, aber wenn man wirklich erfolgreich sein will, dann nutzt sie einem nichts. Für den erfolgsorientierten Menschen ist es demnach besser, auf diesen Schmuck zu verzichten und mehr Aufmerksamkeit auf seine wirksame Selbstdarstellung zu legen.
1. Überlebenselexier
Dass der heilige Franz von Sales mit der Aussage dieses bekannten Sprichwortes sicher nicht übereinstimmte, sofern es damals bereits im Umlauf war, ist klar. Für ihn war Bescheidenheit eben nicht bloßes Beiwerk und schöne Zierde, sondern ganz entgegen des Sprichwortes das Um und Auf eines jeden wahrhaften Erfolges, sei es im privaten Bereich oder im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Leben.
Damit unterscheidet er sich gar nicht so sehr von so manchen modernen Äußerungen unserer Tage. In einem Interview äußerte sich zum Beispiel der erfolgreiche deutsche Rockmusiker Marius Müller Westernhagen über die Bescheidenheit, dass diese „eine der Voraussetzungen“ sei, „um in dieser Karrieresituation keinen Schaden zu nehmen.“ Bescheidenheit ist also für Westernhagen ebenso wie für Franz von Sales kein Hindernis für den Erfolg, sondern das Überlebenselexier einer jeden Art von Karriere.
Der 1961 verstorbene Schweizer Psychoanalythiker Carl Gustav Jung wies einmal auf eine der besonderen Wirkungen der Bescheidenheit hin, die ebenfalls der Sprichwort-These widerspricht. Er meinte: „Wenn Sie einsam sind, so liegt das daran, dass Sie sich isolieren; sind Sie bescheiden genug, dann bleiben Sie niemals einsam. Nichts isoliert uns mehr als Macht und Prestige. Versuchen Sie, herabzusteigen und Bescheidenheit zu lernen, und sie werden nie allein sein!“ Der Erfolg von Macht und Prestige ist also nach Jung Isolierung und Einsamkeit. Er rät daher zur Bescheidenheit, um nie mehr allein zu sein.
Ähnliches meint auch Franz von Sales, wenn er die Bescheidenheit zu den grundlegendsten Tugenden eines Menschen zählt. Wirklich wertvoll ist jeder Erfolg, jedes Können des Menschen, wenn es mit Bescheidenheit gepaart ist. In seinem Buch „Philothea“ schreibt der Kirchenlehrer und Kenner der menschlichen Seele: „Echten Wert erkennt man wie echten Balsam. Man prüft den Balsam, indem man ihn ins Wasser tropfen lässt; sinkt er unter und bleibt am Boden, so gilt er als besonders fein und kostbar. Will man erkennen, ob ein Mensch wirklich weise, gelehrt, hochherzig und edel ist, dann muss man prüfen, ob diese Eigenschaften mit Demut, Bescheidenheit und Duldsamkeit gepaart sind, denn dann sind sie echte Werte. Wenn sie aber obenauf schwimmen, wenn sie zur Schau gestellt sein wollen, dann werden sie um so weniger echte Werte sein, je mehr sie scheinen wollen“ (DASal 1,117).
Also: Bescheidenheit ist nicht nur eine Zier, sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass all unsere Erfolge, all unser Können von dauerhaftem und damit echtem Wert sind, nicht nur für mich selbst, sondern auch für die anderen. Bescheidenheit ist damit die Grundvoraussetzung jeden wirklichen Erfolges, für jedes Weiterkommen, für jede Gemeinschaft, die nicht in die Isolation geraten will, und nicht ein Hindernis zu all dem. Franz von Sales weiß auch den Grund dafür, wenn er in der „Philothea“ einige Seiten später schreibt: „In jeder Gesellschaft sind schlichte Einfachheit und bescheidene Liebenswürdigkeit stets beliebt. Es gibt Leute, die in jeder Haltung und bei jeder Bewegung gekünstelt sind; kein Mensch mag sie leiden. Wer nicht gehen wollte, ohne seine Schritte zu zählen, nicht reden, ohne zu singen, der müsste allen lästig fallen. So wirken auch jene, deren Gehaben stets geziert und abgezirkelt ist, in einer Gesellschaft nur störend; das sind auch stets eingebildete Leute“ (DASal 1,169).
2. Die stumme Predigt
Doch was ist diese Tugend der Bescheidenheit genau? Gehen wir nach der Definition des Kirchenlehrers, dann hat Bescheidenheit etwas zu tun mit unserer inneren und äußeren Haltung. In seinem Inneren ist sich der bescheidene Mensch bewusst, dass auch seine größten Fähigkeiten, die er besitzt, Geschenke Gottes sind. Außerdem weiß er, dass er trotz allem nicht vollkommen ist, jedoch vor Gott als dessen Geschöpf so sein darf, wie er ist. Der bescheidene Mensch ist dankbar für seine Talente, protzt jedoch damit nicht, so als wären sie seine eigenen Leistungen, und er will auch nicht mehr, als ihm von Gott geschenkt ist.
Der Unbescheidene meint, er könne alles haben, die Welt liege ihm zu Füßen. Tut sie das nicht, dann liegt es nicht an ihm, sondern an der Welt, die ihn nicht entsprechend würdigt. Der Unbescheidene macht seine Umwelt ständig darauf aufmerksam, dass er eigentlich mehr verdient, als er bekommt.
Diese innere Einstellung drückt sich dann im äußeren Verhalten aus. Unbescheidenheit ist laut, schrill, aggressiv, möchte ständig im Mittelpunkt stehen und bei allen Aufmerksamkeit erlangen. „Seht nur“, ruft der Unbescheidene mit all seinen Gesten und Worten, „hier bin ich, und ihr habt mir zu applaudieren.“ Der Bescheidene bleibt auch dann gelassen und ruhig, wenn er große Erfolge feiert. Er weiß eben davon, dass auch seine größten Talente Geschenke sind, auf die er sich im Grunde nichts einbilden kann. So wie Johannes der Täufer, der größte der biblischen Propheten, zeigt auch der Bescheidene auf Gott, seinen Schöpfer, und bekennt: „Seht das Lamm Gottes ... nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war. Ich bin nicht wert. ihm die Schuhe aufzuschnüren“ (Vgl. Joh 1,29f u. Lk 3,16). Franz von Sales nennt daher die Bescheidenheit eine „stumme Predigt“, weil der Bescheidene eben durch seine Art nach Außen deutlich macht, dass der Mensch Gott alles verdankt und er ein Geschöpf Gottes ist. Franz von Sales bringt das Beispiel eines Mönchs, der durch seine Bescheidenheit mehr Menschen in einer Stadt zur Umkehr bewegte als die begabtesten Prediger. Alles, was dieser Mönch tat, war durch die Stadt zu gehen, ohne ein Wort zu sprechen. Bescheidenheit wirkt eben – so wie auch C. G. Jung meinte – anziehend wie ein Magnet. Die Menschen spüren: Hier ist jemand, der mich nicht vor den Kopf stoßen wird, sondern genauso unterwegs zu Gott ist, wie ich selbst, mit all meinen Stärken und Schwächen.
3. Übungen der Bescheidenheit
Was muss ich tun, um Bescheidenheit zu lernen? Die Tipps, die Franz von Sales gibt, können überraschen. Das erste, das er empfiehlt, ist, dass Gesicht und Blick heiter sein sollen, ohne Falten und eine frostige und melancholische Miene. Dazu kommt ein großer Respekt und Achtung gegenüber den Mitmenschen, die einem begegnen. Alles, was dem anderen gegenüber Respekt erweist, fördert die Bescheidenheit. Dann: Nicht streiten, nicht mit heftigem Eifer sprechen, noch beim Sprechen Gesten machen, nicht zu laut lachen. Gelassen antworten oder sagen, was man zu sagen hat, ohne sich furchtsam oder ängstlich zu zeigen. Seine Handlungen ruhig und ohne innere oder äußere Hast verrichten. Die Neugierde bezähmen. Da die Grundlage der Bescheidenheit das Bewusstsein ist, Geschöpf Gottes zu sein, kommt natürlich dazu, in sich den Wunsch zu fördern, in allem Gott zu gefallen.
Franz von Sales ist davon überzeugt, dass nur mit Bescheidenheit die wirklich großen Erfolge im Leben erreicht werden können. Alle anderen Erfolge mögen zwar grell leuchten wie Kometen, aber sie sind nur von sehr kurze Dauer und verpuffen in der Weite des Universums. In Bescheidenheit erreichte Ziele aber leuchten wie die Sterne Tag und Nacht und auch dann, wenn sie von anderen Menschen gar nicht gesehen werden. Sie leuchten jedoch vor allem in der Finsternis und helfen den Menschen, ihren Weg zu finden.
4. FRAGEN ZUM NACHDENKEN
- Ist Bescheidenheit für mich eine anstrebenswerte Tugend?
- Glaube ich, dass mein Leben durch Bescheidenheit wertvoller wird?
- Was kann ich tun, um bescheidener zu werden?
Herbert Winklehner OSFS