Dir Gottesfurcht –
die Tugend, die die Größe Gottes achtet
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Man sagt(e) oft zu Kindern: „Wenn du nicht brav bist, dann wird dich der Himmelvater bestrafen, denn er sieht alles.“ Das bekannte Symbol des von einem Dreieck eingerahmten göttlichen Auges erinnert(e) den Betrachter nicht nur an die Allgegenwart des dreifaltigen Gottes, sondern auch daran, dass Gott alles sieht, was der Mensch im Laufe seines Lebens so tut. Beim Jüngsten Gericht werden ihm die Taten dann vorgelegt. Und wehe, es sind mehr Schandtaten als Wohltaten dabei!
1. Fürchtet euch nicht
Solche Art religiöser Pädagogik führt(e) zu (dämonischen) Gottesbildern, die dazu dienten, den Menschen unter Druck setzen zu können: zum „Leistungsgott“, vor dem man nur bestehen kann, wenn man bestimmte Leistungen bringt; zum „Polizistengott“, der streng alle Untaten des Menschen ahndet und bestraft; oder zum „Richtergott“, der gemäß dem Resultat, das am Ende des Lebens errechnet wird, entscheidet, ob einer ins Fegefeuer, in den Himmel oder in die Hölle kommt.
All das hat weder mit dem Gottesbild zu tun, das Jesus Christus verkündet, noch mit der Tugend der Gottesfurcht, der siebten Gabe des Heiligen Geistes, die allen Christen geschenkt ist. Gott spielt nämlich nicht mit der Angst des Menschen. Diese Grundregel gilt immer: Alles, was Angst macht, stammt nicht von Gott, sondern kommt vom Bösen. Der heilige Franz von Sales (1567-1622) schreibt daher an die heilige Johanna Franziska von Chantal (1572-1641): „Ich bitte Sie um Gottes willen, haben Sie nicht Angst vor Gott, denn er will Ihnen nichts Böses zufügen.“ (DASal 5,130).
Die christliche Grundbotschaft Gottes an die Menschen lautet: „Fürchtet euch nicht!“ (Joh 6,20). Es ist die Botschaft der Engel, die den Hirten die Geburt Jesu verkündeten: „Fürchtet euch nicht!“ (Lk 2,10). Es ist die Botschaft Jesu an seine Jünger, als er über den See zu ihnen ins Boot kam: „Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!“ (Mk 6,50). Es ist die Botschaft Jesu an alle Menschen, da sich Gott sogar um die Spatzen auf dem Dach kümmert: „Fürchtet euch also nicht, ihr seid viel mehr wert als alle Spatzen“ (Mt 10,31). Und es ist die erste Botschaft Jesu nach seiner Auferstehung an die Frauen, die ans Grab geeilt sind: „Fürchtet euch nicht!“ (Mt 28,10).
Die Tugend der Gottesfurcht hat also ganz und gar nichts mit Angst und Schrecken zu tun, sondern ausschließlich mit Ehrfurcht, Respekt oder Achtung vor Gott. Der Mensch, der die Tugend der Gottesfurcht lebt, ehrt, achtet und respektiert Gott in seiner Größe.
„Meine Seele preist die Größe des Herrn“ (Lk 1,46). Dieser erste Satz aus dem Magnifikat, dem Lobpreis Gottes durch Maria bei ihrer Begegnung mit Elisabet, ist letztlich die Zusammenfassung all dessen, was die Tugend der Gottesfurcht tatsächlich meint. Und dieser Gott, dessen Größe ich in der Tugend der Gottesfurcht preise, „erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten“ (Lk 1,50).
Gottesfurcht – Ehrfurcht, Achtung und Respekt vor Gott – fördert nicht die Angst vor Gott, sondern das genaue Gegenteil: Gottes Erbarmen, Gottes Barmherzigkeit.
2. Sein wie Gott
Ich preise die Größe des Herrn. Ich anerkenne, dass Gott Gott ist und der Mensch Mensch. Der evangelische Theologie Wolfhart Pannenberg (* 1928) formuliert: „Gott fürchten - das heißt, Gott als Schöpfer anzuerkennen in seiner Erhabenheit und Macht, als den Schöpfer, von dem unser Leben in jedem Augenblick abhängt.“ Die Tugend der Gottesfurcht bewahrt den Menschen davor, sich selbst zu Gott zu machen und damit der Ursünde zu erliegen, aus der alle anderen Sünden hervorgehen. Diese Ursünde lautet: So sein wollen wie Gott. Es ist die Sünde, die im ersten Buch der Bibel, der Genesis, die Vertreibung aus dem Paradies zur Folge hatte. Die Schlange Satan gaukelt Adam und Eva vor, dass sie wie Gott sein werden, wenn sie vom Baum der Erkenntnis essen: „Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5). Die Menschen unterliegen leider dieser Versuchung, aber sie werden dadurch nicht wie Gott, sondern werden Opfer weiterer Sünden und des Todes.
Jesus Christus, der „neue Adam“, hat den Tod und das Böse besiegt, nicht in dem er wie Gott sein wollte, sondern durch das genaue Gegenteil: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr - zur Ehre Gottes, des Vaters“ (Phil 2,6-11).
3. Übung der Gottesfurcht
Die Tugend der Gottesfurcht schützt also den Menschen davor, sich selbst zu Gott zu machen und damit sich selbst und andere zu zerstören. Daher schreibt der heilige Franz von Sales: „Selig jene, die die Kinder erziehen zur Gottesliebe, zur Gottesfurcht und zum Dienste Gottes.“ (DASal 6,203). Und „Man gelangt auf vielerlei Wegen in den Himmel. Wenn man nur die Gottesfurcht als Führerin hat, ist es gleich, welchen Weg man einschlägt.“ (DASal 6,123). Wer die Gottesfurcht lebt, anerkennt die Größe Gottes und wird nie Gefahr laufen, einen anderen Weg als den Weg zum Himmel einzuschlagen.
„Deshalb müssen wir unter allen Tugenden vor allem die … der Ehrfurcht vor den göttlichen Dingen … und der hochheiligen Gottesfurcht mit besonderer Sorgsamkeit pflegen, indem wir oft von göttlichen Dingen reden, oft an die Ewigkeit denken und uns nach ihr sehnen, indem wir eifrig sind im Besuch der Kirchen und der gottesdienstlichen Handlungen, geistliche Lektüre pflegen und die Zeremonien der christlichen Religion beobachten.“ (DASal 4,231).
Alles, was die Größe Gottes achtet, fördert also auch die Tugend der Gottesfurcht.
4. Die Liebe vertreibt die Furcht
Die Pädagogik der Gottesfurcht erzieht also nicht zum Bild des Leistungs-, Polizisten- oder Richtergottes, sondern achtet Gott, der die Liebe ist. Das göttliche Auge blickt uns nicht von oben herab streng an und ahndet alle unsere Taten, sondern dieses Auge wacht über uns, sorgt sich um uns und macht deutlich: In allem, was der Mensch tut, lebt er in der Gegenwart des liebenden Gottes – und diese Liebe vertreibt alle Angst, wie der Evangelist Johannes schreibt:
„Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm. Darin ist unter uns die Liebe vollendet, dass wir am Tag des Gerichts Zuversicht haben ... Furcht gibt es in der Liebe nicht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe, und wer sich fürchtet, dessen Liebe ist nicht vollendet. Wir wollen lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ (1 Joh 4,16b-19)
So kann Franz von Sales in einer Predigt verkünden: Die recht verstandene Gottesfurcht „macht die Seele für die Liebe bereit, und wie Augustinus sagt, ist die (Gottes-)Furcht die Dienerin der Liebe, die ihr die Wohnung bereitet.“ (DASal 9,142). Und Johanna Franziska von Chantal kann er schreiben: „Fürchten wir nichts, außer Gott, und ihn mit einer Furcht voll Liebe.“ (DASal 5,148).
5. FRAGEN ZUM NACHDENKEN
- Habe ich Angst vor Gott?
- Achte ich Gott in seiner Größe?
- Wie stelle ich mir Gott vor?
Herbert Winklehner OSFS