PREDIGT in der Heiligen Nacht - LJA

„Geisterstunde“ (Lk 2,1-14))

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist die Stunde der Mitternacht. Draußen herrscht Finsternis, wir befinden uns in einer hell erleuchteten Kapelle, die Kerzen flackern. Weihrauch umhüllt den Altar. Ich denke, es ist Zeit für eine Geistergeschichte.

Vor gar nicht allzu vielen Jahren, in genau der gleichen Heiligen Nacht, doch ungleich kälter und frostiger, schleppte sich ein Mann durch die Finsternis. Den ganzen Tag hatte er versucht, von irgendwoher etwas Essbares zu bekommen. Doch an diesem Tag hatte jeder bei Gott etwas anderes zu tun, als sich um herumstreunende Bettler zu kümmern. Die Kälte kroch dem Mann unter die Haut bis tief in die Knochen hinein und ließ seine Muskeln erstarren. Der Hunger bohrte in seinem Magen. Schon längst hat der Mann zu reden aufgehört. In seiner Einsamkeit sprach er nämlich oft mit sich selbst. Nun war ihm nicht mehr nach Worten zumute, nun dachte er nur noch an etwas Essbares. Worte kann man nicht essen, sie sind Windhauch, ohne Fleisch. Stumm taumelte der Mann den Weg entlang. Der Schnee war aus Glas. Die Luft war tot. Der Himmel schwarz. Die Sterne gestorben. Der Mond zu Grabe getragen. Da erblickte der Mann auf dem Schnee am Wegrand einen Körper, klein und zierlich wie eine Puppe. Der Mann erschrak. Er hielt den Körper tatsächlich für die Leiche eines Kindes, weggelegt und erfroren in dieser eisigen Nacht. Als er jedoch genauer hinblickte, erkannte er, dass es wirklich nur eine Puppe war, eine Jesus-Puppe, ein Jesus-Kind, so wie es heute in allen Kirchen zur Schau gestellt wird: ein lachendes Baby, mit gelocktem Haar, versehen mit einem Heiligenschein. Doch etwas war an dieser Jesus-Puppe trotzdem anders. In dieser Dunkelheit konnte er es nicht sofort erkennen. Die Puppe sah jedenfalls ganz anders aus. Sie war nicht aus Holz geschnitzt, auch nicht aus Ton modelliert, oder aus Plastik, eher wie Wachs. Der Mann befühlte das Kind genauer. Er brach ein Stück vom Heiligenschein ab und kostete. Es war Lebkuchen. Der Mann hatte einen Jesus aus Lebkuchen gefunden, verziert mit Gummibärchen und bunten Smarties. Und der Mann hatte Hunger, bohrenden Hunger. Er konnte sich nicht mehr beherrschen. Zunächst aß er den Heiligenschein, dann den ganzen Lebkuchen-Jesus. Schließlich ging er weiter in die Nacht hinein...

Diese Geistergeschichte zu mitternächtlicher Stunde, frei nach einer Erzählung von Friedrich Dürrenmatt, entspricht vielleicht nicht ganz den gängigen Geschichten, die in dieser Nacht erzählt werden. Aber sie entspricht - so komisch das klingen mag - der frohen Botschaft der heutigen Nacht wahrscheinlich mehr als die anderen Geschichten. Die Botschaft der heutigen Nacht besagt doch: Gott wird Mensch, in einem Stall, weil in der Herberge kein Platz war, um dem Menschen die Erlösung zu Bringen. Das Wort wird Fleisch, um den Hunger des Menschen zu stillen, den Hunger, der im Magen bohrt, und den Hunger, der die Seele auszehrt. Gott setzt in die Tat um, wovon Menschen oft nur leere Worte sprechen. Gott wird den Hungrigen zum Brot, nicht in dem er Almosen verteilt, oder vom Überfluss gibt, sondern in dem er sich selbst verschenkt.

2000 Jahre ist das nun schon her, aber es ist immer noch nicht zu begreifen. Der heilige Franz von Sales hat recht, wenn er von diesem Ereignis sagt: „Christus wird heute Nacht geboren, unsichtbar, auf eine Weise, die dem menschlichen Geist unbegreiflich ist.“

Ja, es ist unbegreiflich. Für die einen ist es eine mitternächtliche Gruselgeschichte, das Phantom der Nacht, der Lebkuchen-Jesus, schneebedeckt und tief gefroren am Wegesrand, für die anderen ist er der Beginn ganz neuer Kraft und Hoffnung, weil ihr Hunger gestillt wurde.

Welche Bedeutung hat diese Nacht für uns? Haben wir darüber schon einmal nachgedacht, und wenn, war es lange genug? Ein Wort, ein Gedanke zum Schluss, zum Ausklang dieser Erzählung, ein Wort von Carlo Caretto, der sich in die Wüste zurückzog, um dort Zeit zum Nachdenken zu haben und um Gott zu finden. Er sagte: „Jetzt habe ich keine Angst mehr! Wenn Gott dieses kleine Kind ist, auf Stroh gebetet im Stall, dann macht mir Gott keine Angst mehr.“ Amen.

Herbert Winklehner OSFS


nach oben | Übersicht Salesianische Predigten | Übersicht Franz von Sales-Predigten