PREDIGT zum Fest Kreuzerhöhung
"Kreuz - Die Kraft zum Weiterleben" (Mk 9,30-37)
Liebe Schwestern und Brüder,
was ist das Besondere an unserem christlichen Glauben? Was ist unser großes Geheimnis? Worauf kommt es im Christentum an? Carlo Caretto, einer der großen christlichen Gestalten unseres Jahrhunderts, hat sich diese Frage gestellt und folgende Antwort gegeben:
„Dass es einen Gott gibt,“ sagt er, „ist kein Geheimnis. Das sieht man doch. Dass Gott gut ist, ist kein Geheimnis: alle rechtschaffenen Herzen haben das schon erfahren. Dass Gott schön ist, ist kein Geheimnis: Es ist die Inschrift, die alle Blumen, das Meer und die Berge ziert. Dass Gott unendlich groß ist, ist kein Geheimnis: man braucht nur das All zu betrachten, mit all den Millionen und Abermillionen Sternen. Dass Gott uns nahe ist, ist kein Geheimnis: man braucht nur ein junges Hochzeitspaar, Freunde im Gespräch oder eine sorgende Mutter zu beobachten.“ All das ist also kein Geheimnis und auch nicht das Wesentliche unseres Glaubens, das gibt es auch im Buddhismus, im Islam oder in anderen Religionen. Worauf aber kommt es bei uns Christen an?
Caretto meint: „Das wirklich große Geheimnis des Christentums besteht darin, dass unser Gott ein gekreuzigter Gott ist. Unser Gott ist ein Gott, der sich entmachten lässt, der sich in den Armen und Kleinen offenbart. Unser Gott ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth.“
Der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini, der gute Chancen hat, unser nächster Papst zu werden, sagt das gleiche. Er meint: „Das Entscheidende und Wichtigste am christlichen Glauben ist das Hinblicken auf den Gekreuzigten. Sein Tod ist Leben für alle Menschen.“
Was solche Aussagen für uns Christen bedeuten, mag folgende kleine Geschichte verdeutlichen. In dieser Geschichte fällt ein Mann in einer Grube, aus der er von selbst nicht mehr heraus kann. Wenn er keine Hilfe bekommt, wird er in dieser Grube zugrunde gehen. Der Mann beginnt um Hilfe zu rufen, in der Hoffnung, dass ihn jemand hört. Und tatsächlich, etwas später kommt jemand. Er schaut herum, ob er irgendwo ein Seil, einen Stock oder irgendeine Leiter findet, an dem sich der Mann aus der Grube retten könnte. Doch er kann nichts dergleichen finden. Hilflos breitet der Helfer die Arme aus und meint: „Es tut mir leid, ich kann dir nicht helfen. Ich glaube, du musst dich deinem Schicksal fügen.“ Im Laufe des Tages kommen immer wieder Menschen vorbei, aber bei allen kommt es zum selben Ergebnis: Ohne Seil, ohne Stock, ohne Leiter gibt es leider keine Hilfe. Schließlich bleibt ein Mann an der Grube stehen. Als er merkt, dass es nichts gibt, womit er den Mann aus der Grube ziehen könnte, springt er kurzerhand in die Grube hinein und sagt: „Komm, stell Dich auf meine Schultern und klettere hinaus.“ Völlig überrascht fragt der Mann, warum er das für ihn tut. Und da antwortet der andere: „Jesus hat sich für mich am Kreuz geopfert, damit ich Leben kann. Es ist nur recht und billig, dass ich genauso handle wie er.“
Ist das nur eine schöne Geschichte, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat? Dass ein solches Verhalten gar nicht so unrealistisch ist, zeigt uns gerade in diesen Tagen eine Person, die vor einer Woche gestorben und gestern beerdigt wurde: Mutter Teresa, die Gründerin der Missionarinnen der Nächstenliebe. Vor einigen Jahren wollte ein Journalist einmal eine Reportage über ihre Arbeit machen. Dieser Journalist begleitete die unscheinbare Frau aus Albanien einen Tag lang bei ihrem oft Ekel erregenden Dienst an den Ärmsten der Armen von Kalkutta. Am Abend meinte dieser Journalist zu ihr: „Also, was sie da machen, das könnte ich nicht für eine Million Dollar tun!“ Worauf Mutter Teresa nur antwortete: „Ich auch nicht!“ Darauf fragte der Journalist, aus welchem Grund sie es dann mache? Und dann gab Mutter Teresa zur Antwort: „Ein großes Übel der heutigen Zeit ist der Mangel an Liebe und Erbarmen, noch schrecklicher aber ist die Gleichgültigkeit, die Menschen gegenüber ihren Nächsten haben, die am Wegrand leben, und an Ausbeutung, Missachtung, Armut und Krankheit leiden. Am schlimmsten dabei ist, dass auch Christen diesem Elend gleichgültig gegenüber stehen. Jesus bewies uns doch seine Liebe durch seinen Tod am Kreuz. Da kann ich als Christ doch nicht anders als auf diese Liebe durch mein Leben Antwort zu geben, indem ich genauso liebe wie Jesus. Und das ist eine lebendige Liebe, die auch wehtun kann. Denn wahre Liebe verlangt auch Opfer.“ Nach dieser Antwort fragt der Journalist, ob sie mit diesem Leben zufrieden und glücklich ist, und Mutter Teresa sagt darauf: „Wer geliebt wird und Liebe erwidern kann, ist der glücklichste Mensch auf der Welt.“
Das sind die Worte eine ganz großen Frau unseres Jahrhunderts. Ihr Verhalten und ihr Leben zeigt uns das Wesentliche des Christentums. Es ist aber nur zu verstehen, wenn wir dabei das Kreuz nicht ausklammern. Der Christ nämlich, der das Kreuz aus seinem Leben und seinem Glauben streicht, der löscht damit die Einzigartigkeit und das Besondere seines Glaubens aus.
Und dieses Weglassen und Vergessen des Kreuzes geschieht viel öfter als wir jetzt vielleicht denken. Auch das sollten wir uns vor Augen halten, wenn wir heute das Fest Kreuzerhöhung feiern. Das Verschwinden des Kreuzes geschieht nämlich sehr oft versteckt und verborgen, man merkt es oft gar nicht sofort. Genau betrachtet begegnen uns in unserem Leben eine ganze Menge Kreuze. Das Kreuz ist sichtbar in unseren Kirchen, an den Wegen und Straßen, in unseren Häusern und Wohnungen. Überall begegnen uns Kreuze, aber diese Kreuze haben nur allzu oft ihren wahren Stachel und ihre Kraft verloren. Sie sind im Grunde nicht viel anderes als Schmuckgegenstände. Sie sind dazu da, die Landschaft, die Kirche oder die Wohnung zu verschönern. Viel zu selten erinnern sie uns an die radikalen Konsequenzen für unser Leben und unseren Glauben. In einem modernen Gebet wird das sehr schön zum Ausdruck gebracht, in dem es heißt: „Bruder Jesus an der Wand, ich schau dich an, und du hast es satt, dass man dein Kreuz vergoldet hat!“
Das Problem, dass wir Christen das Wesentliche aus unserem Glauben streichen, hatte Jesus schon zu seinen Lebzeiten erfahren, wie es uns das heutige Evangelium geschildert hat. Jesus erzählt seinen Jüngern von seinem bevorstehenden Leiden und seinem Tod am Kreuz. Und wie reagieren seine Jünger darauf? Sie streiten sich darüber, wer von ihnen wohl der Größte ist. Heute sehen wir überall das Kreuz und wovon reden wir? Wir unterhalten uns darüber, ob es ein schönes Kreuz ist, ob sein Stil in den Kirchenraum, in die Landschaft oder das Zimmer passt, wie wertvoll dieses Kreuz wohl sein mag, aus welcher Kunstepoche es stammt. Wir vergessen dabei völlig, dass hier ein qualvoll leidender Mensch an einem grausamen Folterwerkzeug hängt und dass dieser Mensch Jesus Gott selbst ist, der dieses Leid auf sich nimmt, damit wir Menschen gerettet werden.
Damit verliert das Kreuz nicht nur seine Brutalität, seinen schmerzvollen Stachel, sondern auch seine wahre Bedeutung für uns Christen und seine Kraft. Wenn wir nämlich das Kreuz richtig verehren, und das wäre auch der einzige Grund, warum wir es tun sollen, dann verehren wir damit weder den Künstler, der das Kreuz geschnitzt oder gemalt hat, wir verehren auch nicht bestimmte Foltermethoden oder Arten der Todesstrafe - das wäre ja abartig und reine Gotteslästerung, nein: Wir verehren das Kreuz als Zeichen der Hoffnung gegen alle Hoffnung, als unser großes Gottesgeheimnis, als Zeichen seiner unvorstellbar großen Liebe zu uns Menschen, eine Liebe, die so groß ist, dass sie sogar auf das eigene Leben und das eigene Glück verzichtet. Wir verehren damit den größten Liebesbeweis, den Gott je für uns erbracht hat. Oder wie der hl. Franz von Sales kurz und prägnant sagt: „Jesus Christus ist für uns gestorben. Er hat uns durch seinen Tod das Leben geschenkt. Wir leben nur weil er gestorben ist. Er ist für uns.“
Wenn uns jemand fragt, woran wir denn in dieser Welt noch merken, dass Gott uns wirklich liebt, dann sollten wir also einfach auf das Kreuz zeigen und sagen: Da schau her, so ist Gott zu uns. Er lässt sich umbringen, damit wir leben können. So gern hat er uns. Durch das Kreuz liefert uns Gott den unüberbietbaren Beweis dafür, dass wir ihm nicht egal sind, sondern dass er auf unserer Seite steht und uns liebt. Er sagt uns: Wenn es dir auch noch so dreckig geht, schau auf das Kreuz, es gibt einen Weg. Wenn du dich in deinem Leben mit deinen Problemen, Sorgen, Leiden nicht mehr zu Recht findest, dann schau auf das Kreuz und es sagt dir: Gott ist für dich da, er holt dich aus der finsteren Grube, aus der du allein nicht mehr herauskommst, auch dann, wenn es sein eigenes Leben kostet. Er selbst ist für dich in die finstere Grube hinabgestiegen.
Solange wir nur an der Oberfläche bleiben und uns wie die Jünger im heutigen Evangelium nur auf Belangloses und nicht auf das Wesentliche konzentrieren, werden wir das Kreuz nicht wirklich verstehen. Wir müssen schon etwas tiefer gehen, die Goldschicht vom Kreuz wieder abkratzen, das peinigende Marterwerkzeug sehen und erkennen: Gott selbst hat sich hier annageln lassen, um uns Menschen Hoffnung zu geben, um uns Menschen zu retten und uns den Weg zum Leben in Fülle zu öffnen.
Die tragische und leider nur allzu wahre Lebensgeschichte einer Frau mag dies noch einmal verdeutlichen. Diese Frau lebte allein in ihrer Wohnung, an deren Wand eine Menge Fotos hingen. Als ein Gast einmal nach der Bedeutung dieser Fotos fragte, begann sie zu erzählen: Das ist mein Mann, er wurde beim Holzfällen von einem Baum erschlagen. Das sind meine beiden Söhne, die sind aus dem Krieg nicht mehr zurückgekommen. Und hier meine Tochter, sie starb an Krebs. „Wie kann man mit soviel Unglück fertig werden?“ fragt der Gast. Da hilft kein Trost von unten, meinte da die Frau. Beim ersten Todesfall kann man noch trauern. Aber wenn es weiterhin so dicht kommt, wird man stumm. Aber auch das taugt nichts. Zuerst habe ich es Gott sehr übel genommen, mir einfach meine ganze Familie wegzunehmen. Ich habe gehadert und geschimpft. Ich ging dann auch gar nicht mehr zur Kirche. Bis mir dann irgendjemand diesen Christus am Kreuz geschenkt hat.“ Und die Frau zeigte auf die gegenüberliegende Wand. „Ich bin lange davor gesessen“, erzählte sie dann weiter, „in den langen Wintermonaten, wo ich Zeit zum Nachdenken hatte. Und dann habe ich begriffen: Ja, Christus hat ebenso gelitten wie ich. Gott ist kein Sadist, sondern steht mir in meinem Leiden bei. Und da habe ich Kraft gefunden, weiterzuleben.“ Bei dieser Frau bewahrheitete sich, was der hl. Franz von Sales über die richtige Kreuzverehrung sagte: „Der bloß Anblick unseres teueren Gekreuzigten kann sogleich all unsere Schmerzen lindern.“
Genau das ist das tiefe Geheimnis des Kreuzes, darum verehren wir es, und darum gehört es zum Wesentlichen unseres Glaubens: Der bloße Anblick kann unsere Schmerzen lindern. Das Kreuz gibt uns Kraft zum Weiterleben. Das Kreuz, das wir verehren macht uns deutlich: Der Gott des Christentums ist nicht ein Gott, der irgendwo im Himmel über dem Tränental dieser Welt thront und gleich einem Sadisten auf den leidenden Menschen hinabschaut. In der Mitte des christlichen Glaubens steht vielmehr das Kreuz und der gekreuzigte Gott, ein Gott, der sich selbst vom Leid des Menschen treffen und betreffen lässt. Gott selbst ist in seinem Sohn in die dunklen Abgründe der Menschheit eingegangen und hat sie auf sich genommen, um die Ausweglosigkeit, Dumpfheit und Sinnlosigkeit des Leidens, wie immer es auch erscheint, unter das befreiende Licht der Hoffnung zu stellen, damit wir Kraft bekommen um weiterzuleben. Genau deshalb hat Kreuzverehrung seinen Sinn. Die Konsequenz daraus ist, dass wir es Christus gleich tun, so gut wir können. Wir müssen nicht gleich so vollkommen werden wie Mutter Teresa, die aufgrund des Kreuzes zu den Ärmsten der Armen ging und ihr ganzes Leben für diese Menschen aufopferte, es gibt auch im alltäglichen Leben eines jeden von uns Gelegenheiten genug, wo unsere Hilfe gebraucht wird. Genau davor nicht die Augen zu verschließen sondern helfen, auch wenn es uns Mühe bereitet, wäre eine Konsequenz aus unserer Kreuzverehrung. Denken wir gerade am heutigen Fest der Kreuzerhöhung darüber nach. Amen.
Herbert Winklehner OSFS
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