Die Liebe –
Tugend aller Tugenden
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1. Der glücklichste Mensch
Am 5. September 1997 starb Mutter Teresa, die Gründerin der Missionarinnen der Nächstenliebe. Ihre Seligsprechung erfolgte am 19. Oktober 2003. Wir alle kennen das großartige Werk, das diese unscheinbare Frau aus Albanien im letzten Jahrhundert für die Armen in Indien und der ganzen Welt geleistet hat. Ein Journalist wollte einmal über die Arbeit von Mutter Teresa bei den Ärmsten der Armen ausführlich berichten. Er besuchte sie und beobachtete ihr Tageswerk Schritt für Schritt. Am Abend setzte sich der Journalist mit Mutter Teresa für ein Interview zusammen. Und das erste, was der Journalist sagte, war: „Also, das, was sie hier machen, das könnte ich nicht für eine Million Dollar tun!“ Worauf Mutter Teresa antwortete: „Ich auch nicht!“ Der Journalist fragte daraufhin: „Ja, warum nehmen Sie dann diese schwere und oft ekelerregende Arbeit auf sich?“ Mutter Teresa erwiderte: „Ich tue es aus Liebe!“ Der Journalist wollte nun wissen, was für sie dieses Wort bedeute. Sie sagte: „Wer geliebt wird und Liebe erwidern kann, ist der glücklichste Mensch auf der Welt. Wir Christen haben in Jesus Christus das unendliche Geschenk der Liebe erhalten, worauf es nur eine Antwort gibt: ebenso zu lieben, und zwar auch oder gerade dann, wenn es weh tut.“
2. Lehrer der Liebe
1877 wurde ein ganz großer Heiliger unserer Kirchengeschichte zum Kirchenlehrer ernannt: Franz von Sales (1567-1622), Bischof von Genf und Gründer der Schwestern der Heimsuchung Mariens.
Den „Titel“, den er bei dieser Ernennung zugesprochen bekam, war „Doctor amoris“ – „Lehrer der Liebe“. Der Grund dafür ist einfach. Wollte man nämlich in aller Kürze beschreiben, was Leben, Lehre und Werk des hl. Franz von Sales ausmacht, dann bräuchte man als Antwort nur dieses eine Wort zu sagen: Liebe. Die Liebe bestimmte all sein Denken, Reden und Handeln. Seine beiden Hauptwerke - die Philothea und der Theotimus -, seine Briefe, Predigten und sonstigen Schriften haben letztlich nichts anderes als die Liebe zum Thema. Die Liebe als Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe hatte für ihn in allem den Vorrang und die tragende Bedeutung. Daher konnte er auch schreiben: „Für die Liebe gibt es keine Grenze und kein Maß. Welch ein Glück, lieben zu dürfen, ohne ein Übermaß zu fürchten.“
Franz von Sales war davon überzeugt, dass alles, was aus Liebe geschieht, von Gott stammt, weil Gott selbst die Liebe ist. Alles, was aus Liebe geschieht, ist daher auch gut. Gott ist Liebe, die Liebe ist Gott. Dies war die grundlegende Gleichung seines Lebens.
3. Qualität der Liebe
Vor gut 400 Jahren, am 8. Dezember 1602, wurde Franz von Sales zum Bischof der Diözese Genf geweiht. Das, was er selbst von dieser Weihe berichtete, dokumentiert eindrucksvoll, die Qualität der Liebe, die er leben wollte. Er schrieb: „Gott hat mich [bei meiner Bischofsweihe] mir selbst weggenommen, um mich für sich zu nehmen und dann dem Volk zu schenken; das heißt er hat mich an diesem Tag verwandelt von einem, der für sich lebt, zu einem, der für die anderen da ist.“ Mutter Teresa formulierte diese Verwandlung der Liebe, wie anfangs erwähnt, so: „Wer geliebt wird und Liebe erwidern kann, ist der glücklichste Mensch auf der Welt.“
Franz von Sales war am Tag seiner Bischofsweihe sicher ein sehr glücklicher Mensch. Er hat die Liebe Gottes erfahren und war bereit, diese zu erwidern und an die Menschen seiner Diözese und der ganzen Welt weiterzugeben.Was Franz von Sales für sich persönlich erkannte, versuchte er in seinen Lehren allen Menschen zu vermitteln: Jeder Christ, der Jesus nachfolgt, ist vor allem und zuallererst ein Liebender. Die alles entscheidende Frage für den Christen bei all seinem Tun lautet demnach: Wen oder was liebe ich mit ganzem Herzen, ganzer Kraft und ganzer Seele? Das Fundament seines Redens und Handelns, seine Grundtugend, seine Grundfähigkeit sollte die Liebe sein, wie es ja auch Jesus selbst auf die Frage formulierte, welches Gebot das wichtigste sei: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten“ (Mt 22,37-40).
4. Das tragende Fundament
Wir alle wissen, dass das Wort Liebe sehr oft missverstanden wird. Wie viele verkehrte Formen von Liebe gibt es in unserer Welt? Was Liebe wirklich bedeutet, können wir eigentlich nur aus der Bibel herauslesen, vom Beispiel Jesu oder zum Beispiel im Text aus dem 1. Korintherbrief 13,1-14,1, dem Hohelied der Liebe des Apostels Paulus. Er beschreibt uns in diesem Text den Weg der Liebe und er meint, dass dies ein Weg sei, „der alles übersteigt“. Wörtlich formuliert er: „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
Prophetisches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk. ... Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe. Jagt der Liebe nach!“
Dieser Text sagt uns eindeutig: Die Liebe ist das tragende Fundament unseres Lebens und sie ist das Ziel des Lebens, das einzige Ziel, das niemals aufhören wird. Ohne Liebe sind wir nichts. Dafür ist auch die beste theologische Ausbildung kein Ersatz, auch nicht die frömmsten Reden oder innigsten Gebete. Der Liebe allein sollen wir nachjagen, und zwar ein Leben lang. Das ist es auch, was uns der hl. Franz von Sales in all seinen Lehren vermitteln will. Für ihn ist die Liebe nicht nur Anfang und Ziel des christlichen Lebens, es ist auch der Weg zu diesem Ziel. „Die Liebe“, so sagt er, „ist eine wunderbare Tugend. Sie ist Mittel und Zweck in einem, Bewegung und Ziel, der Weg, der zu ihr selbst führt. Was muss man also tun, um zu lieben? Dazu bedarf es keiner anderen Kunstgriffe, als einfach zu lieben; so wie man Laute spielen lernt, indem man Laute spielt, und tanzen lernt, indem man tanzt.“
5. Gott hat uns zuerst geliebt
Wie kommt Franz von Sales zu dieser wirklich alles umfassenden Theologie der Liebe? Seine Grundannahme ist, dass Gott seinem Wesen nach Liebe ist. Und daraus folgert er, dass der Mensch als Ebenbild Gottes ebenso seinem Wesen nach Liebe sein muss. Gott ist also das Entscheidende Kriterium für den großen Stellenwert der Liebe. „Gott hat uns zuerst geliebt“ - Franz von Sales wird nicht müde, uns immer wieder darauf hinzuweisen. Diese Liebe Gottes zu uns Menschen ist dann auch der wichtigste Grund, warum wir Menschen einander und uns selbst lieben sollen.
Gott hat uns zuerst geliebt. Noch bevor wir überhaupt von uns selber wussten, wusste Gott von uns und liebte uns mit einer unendlichen Liebe, so als wären wir die einzigen Wesen auf der ganzen Welt. Jeder einzelne Mensch wird von Gott einzigartig geliebt. Diese einzigartige Liebe Gottes zu uns Menschen erhält seinen größten Beweis durch die Menschwerdung Gottes und den Tod Jesu am Kreuz. Jesus selbst sagt seinen Jüngern: „Es gibt keine größere Liebe als die, wenn einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (Joh 15,13). Genau das hat Jesus getan. Er gab sein Leben hin für uns Menschen, damit wir Menschen gerettet werden.
Ein Mensch, der dieses Wunder übergroßer Liebe ernsthaft betrachtet, kann darauf wirklich nur mit Liebe antworten: mit Liebe zu Gott, zu seinen Nächsten und zu sich selbst.
Der Mensch kann dann einfach nicht anders als mit Freude das verwirklichen, was Jesus seinen Jüngern sagte: „Dies trage ich euch auf, liebt einander, so wie ich euch geliebt habe!“ (Joh 15,12).
6. FRAGEN ZUM NACHDENKEN
- Was bedeutet für mich die Aussage: Der Christ ist ein liebender Mensch?
- Was verbinde ich persönlich mit dem Wort „Liebe“?
- Wo erlebe ich mich im Umgang mit Gott, mit den Mitmenschen und mit mir selbst lieblos?
Herbert Winklehner OSFS