Die Schweigsamkeit –

die Tugend für das rechte Wort zur rechten Zeit

„Es gibt schweigsame Menschen, die interessanter sind als die besten Redner.“ So meinte einmal der zweifache britische Premierminister Benjamin Disraeli (1804-1881). Seine Aussage beruht wahrscheinlich auf seiner langjährigen Erfahrung, dass in der Politik Vieles einfach nur geredet und oftmals auch zerredet wird. Disraeli macht uns jedenfalls darauf aufmerksam, dass Schweigsamkeit eine Fähigkeit ist, die beizeiten besser und wichtiger ist als das Wort. Schweigsamkeit wird zu einer Tugend, die zum Glück des Menschen beiträgt, wenn ich damit lerne, das rechte Wort zur rechten Zeit zu sagen, wenn sie mir hilft, meinen Wortschwall und Redefluss so zu regulieren, dass meine Worte nicht zerreden oder gar zerstören, sondern zur Bereicherung und zum Wohl meiner Mitmenschen beitragen.

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1.  Schweigen ist Gold

Es gibt eine ganze Reihe anderer Sprichwörter, die uns auf die Tugend der Schweigsamkeit hinweisen. Das bekannteste ist wohl: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.“ Eine andere Aussage stammt vom Philosophen Boethius (475-525): „Hättest du geschwiegen, so wärest du ein Philosoph geblieben.“ Und im Alten Testament sagt uns der Prediger Kohelet: „Es gibt eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden“ (Koh 3,7). Der Weisheitslehrer Jesus Sirach findet die höchst bedenkenswerten Worte: „Mancher schweigt und gilt als weise, mancher wird trotz vielen Redens verachtet. Mancher schweigt, weil er keine Antwort weiß, mancher schweigt, weil er die rechte Zeit beachtet. Der Weise schweigt bis zur rechten Zeit, der Tor aber achtet nicht auf die rechte Zeit“ (Sir 20,5-7).
Aus all diesen Sätzen wird deutlich, dass Schweigsamkeit nicht von vorneherein und in jedem Fall die bessere Tugend ist. Es gibt eben auch eine „schlechte“ Schweigsamkeit, die eben gerade dann schweigt, wenn es eigentlich Zeit zum Reden ist. Dass es manchmal notwendig ist, sein Wort zu erheben, vor allem dann, wenn ich damit Unrecht abwenden kann, oder wenn ich Stellung zu beziehen habe, darauf macht uns ebenso ein Sprichwort aufmerksam: „Wer schweigt, stimmt zu.“ Und in 2 Kön 7,9 heißt es: „Wenn wir schweigen und bis zum Morgengrauen warten, trifft uns Schuld.“

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2.  Schweigen zur rechten Zeit

Es kommt also auf das Wissen oder die Weisheit an, wann es besser ist zu reden und wann es besser ist zu schweigen. Der heilige Kirchenlehrer Franz von Sales (1567-1622) schreibt daher in seinem Buch „Abhandlung über die Gottesliebe“: „Es ist keine Tugend, aus bloßer Neigung schweigsam zu sein, wohl aber, aus Vernunft zu schweigen.“ (DASal 4,245) Nur weil’s mir Spaß macht, nichts zu sagen, genügt also nicht, damit aus der Schweigsamkeit eine Tugend wird, es braucht dazu die Vernunft oder die Weisheit, die mir sagt: Jetzt ist es Zeit zum Reden und jetzt ist es Zeit zum Schweigen.
Der Alltag zeigt uns, dass diese Unterscheidung oft genug nicht stattfindet. Davon erzählt auch eine Anekdote aus dem Leben des hl. Franz von Sales. Jean Pierre Camus (1584-1652), Bischof von Belley und bester Freund des Heiligen, beklagte sich einmal beim hl. Franz von Sales wortreich über eine schwere Beleidigung, die ihm zugefügt wurde. Daraufhin antwortete Franz von Sales: „Es ist nicht zu leugnen, dass man Ihnen in jeder Hinsicht sehr Unrecht tat. Bei der ganzen Sache ist nur ein einziger Punkt, der zu ihrem Nachteil ausfällt.“ „Und der wäre?“ fragte Camus verdutzt. Franz von Sales antwortete: „Dass es eigentlich nur von ihnen abhing, der Weiseste zu sein und zu schweigen.“

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3.  Die Kraft der Stille

Die Tugend der Schweigsamkeit hilft mir, diese Unterscheidung zwischen der Zeit, in der es notwendig ist zu reden, und der Zeit, in der es weise ist zu schweigen, richtig treffen zu können. Grundsätzlich weist sie mich darauf hin, dass Schweigen und Stille etwas sehr Wichtiges und Kraftvolles ist, dass nur der das richtige Wort zur richtigen Zeit sagen wird, der aus dieser Kraft der Stille lebt. Jesus Christus hat dreißig Jahre lang geschwiegen – und drei Jahre lang gepredigt. Allein das mag zeigen, dass Zeiten der Stille mindestens genauso notwendig sind, wie Zeiten des Redens.
In den klassischen monastischen Klöstern spielt das Schweigen im Tagesablauf daher auch eine zentrale Rolle. Zeiten des Schweigens und der Stille kommen im Rhythmus des Tages viel häufiger vor als die Zeiten des Redens. Jede Nonne oder jeder Mönch wird darin gelehrt, wie diese Zeiten des Stillschweigens genutzt werden sollen. In diesen Zeiten soll man lernen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, das in einem Kloster klarerweise Gott ist. In der „Kontemplation“, im schweigenden Betrachten und Anschauen des großen Geheimnisses, das wir Gott nennen, wird das rechte Maß und Verhalten für die „Aktion“, das Handeln in der Gegenwart Gottes, gelernt. Die Zeiten des Schweigens lehren mich die rechten Zeiten und das rechte Maß des Redens.
Franz von Sales spricht vom „Schweigen der Herzen“ als Hauptübung mystischer Theologie: Diese „besteht darin, im Grunde des Herzens mit Gott zu reden und Gott reden zu hören. Und weil diese vertrauliche Unterredung durch sehr heimliche Regungen und Eingebungen vor sich geht, nennen wir sie das Zwiegespräch des Schweigens; das Auge spricht zum Auge, das Herz zum Herzen und niemand versteht, was gesprochen wird, außer die heiligen Liebenden, die miteinander reden“ (DASal 3,274).
Wenn Sie also die Tugend der Schweigsamkeit erlernen wollen, dann braucht es dazu tägliche Zeiten der Stille und des Schweigens, die am besten damit verbracht werden, das „Zwiegespräch des Schweigens“ einzuüben, also „im Grunde des Herzens mit Gott zu reden“. Jesus Christus hat es ebenso gemacht: Er hat sich immer wieder zurückgezogen in die Stille, um zu beten, vor allem, wenn es um wichtige Entscheidungen gegangen ist und sogar dann, als viele Menschen zu ihm kamen und seinen Rat oder Heilung wollten. Jesus wusste, dass er nun eine Zeit des Schweigens braucht, um dann wieder zur rechten Zeit handeln und predigen zu können.

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4.  Die Pflicht zu schweigen

In der Gesellschaft und natürlich auch im Christentum gibt es die Schweigepflicht. Das heißt: es gibt Situationen, in denen es Unrecht ist, etwas zu sagen, das mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut wurde. Vor Gericht gibt es das Zeugnisverweigerungsrecht, das bestimmte Personen für sich in Anspruch nehmen dürfen, um den Angeklagten nicht zu belasten. Ein besonders gewichtiges Beispiel dieser Schweigepflicht stellt das Beichtgeheimnis dar, zu dem Priester und Bischöfe verpflichtet sind und deren Einhaltung so manchem von ihnen – wie etwa dem heiligen Johannes Nepomuk (1350-1393), dem Schutzpatron des Beichtgeheimnisses – schon das Leben gekostet hat. Um solche Situationen meine gebotene Pflicht zum Schweigen einhalten zu können, braucht es ebenso die alltägliche Tugend der Schweigsamkeit, die man am besten dadurch übt, dass man sich täglich ein wenig Schweigen und Stille verordnet, oder wie der heilige Franz von Sales rät: „Bereiten Sie Ihre Seele gleich am Morgen zur Stille vor; und tragen Sie während des Tages Sorge, sie oft zu dieser Stille zu rufen und sie wieder in Ihre Hand zu bekommen.“ (DASal 6,135)

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5.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Fällt mir das Schweigen schwer?
  • Neige ich dazu, mir Anvertrautes leichtfertig weiterzusaen?
  • Wie kann ich in meinem Alltag Zeiten der Stille einbauen?

Herbert Winklehner OSFS


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