von Herbert Winklehner OSFS
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Johanna Franziska von Chantals Leben war im Jahr 1601 ordentlich durcheinandergeraten. Ihr Mann Christoph war gestorben. Getötet von einem Freund während der Jagd. Eine Woche nachdem er seinen Dienst in Paris beim König von Frankreich quittiert hatte, um sich ganz seiner Familie widmen zu können.
Wie soll es weitergehen?
Nun hatte Johanna von Chantal die Verantwortung für ihre Familie alleine zu tragen. Vier kleine Kinder. Celsus, ihr ältester Sohn, war gerade fünf, Marie-Aimée drei, Françoise zwei Jahre alt, und die kleine Charlotte hatte sie erst vor einem halben Jahr geboren ... Dann das riesige Schloss Bourbilly mit den vielen Gütern und den Bediensteten. Dazu der Schwiegervater auf Schloss Monthelon, der ihr gedroht hatte, ihre Kinder zu enterben, sollte sie den Plan haben, zurück in ihr Geburtshaus nach Dijon zu ihrem Vater, den Ratspräsidenten, zurückzukehren. Der Schwiegervater wollte, dass sie sich auch um ihn und seine Besitztümer kümmere.
Eine Menge Gedanken gingen Johanna durch den Kopf, als sie endlich eine Stunde lang Zeit fand, sich von den Problemen ihres Lebens loszureißen und auszureiten.
Christoph war der erste Mensch gewesen, der ihr wirklich das Gefühl gab, liebenswert zu sein. Er war ihr Traumehemann. Sie war verliebt über beide Ohren. Als kaum einjähriges Kind hatte sie 1573 ihre Mutter verloren, als diese bei der Geburt ihres Bruders André starb. Sie wurde zunächst bei ihrer Tante aufgezogen, später musste sie mit ihrer älteren Schwester Margarete zur Familie ihres Ehemannes ziehen. Ihr Vater Benigne Fremyot hatte für seine Kinder kaum Zeit. Seine Amtsgeschäfte verlangten seine ganze Aufmerksamkeit. Außerdem war Kinderziehen immer schon die Angelegenheit der Ehefrau. Die aber war tot.
Christoph wurde ihr zugeteilt, wie eben üblich. Aber sie hatte großes Glück, 1592 mit einem Mann verheiratet zu werden, den sie liebte und der sie liebte. Endlich hatte sie die Geborgenheit gefunden, die sie immer gesucht hatte. Nun war Christoph tot.
Wie hatte sie sich gefreut, als er ihr noch vor wenigen Wochen mitteilte, dass er den Dienst am Königshof aufgeben und ab jetzt ganz für sie und die Kinder dasein wollte. Endlich eine wirkliche Familie zu sein, mit Vater, Mutter, Kindern, Heim! Der Traum zerplatzte mit der Kugel, die sich unglücklicherweise aus der Flinte des Freundes löste, als beide eine Woche nach der Rückkehr aus Paris auf die Jagd gingen.
Sie schrie in den Himmel: Warum Gott musste das alles sein? Wo ist meine Schuld für diese Strafe? Wie soll das jetzt weitergehen?
Die Mühle
Johanna ritt am Wald entlang, in die Nähe der Mühle, zu der sie und Christoph immer am Abend ritten, bevor er sie nach Paris verlassen musste. Es waren schöne Stunden gewesen, Stunden des Abschieds zwar, aber doch glückliche Stunden der Zweisamkeit. Da sah sie einen Mann bei der Mühle auf einem Pferd sitzen. Und plötzlich hatte Sie das Gefühl, dass dieser Mann es sein wird, der ihr aus all den Tragödien heraushelfen wird. Dieser da wird dir helfen, meinte Sie eine Stimme zu hören. Sie wollte losreiten, um diesen Mann einzuholen, zu fragen, wer er sei, woher er komme. Doch der Mann war nicht mehr da.
Drei Frauen
In Annecy dachte Franz von Sales, Dompropst und Koadjutor des Bischofs mit Nachfolgerecht, über seine Zukunft nach. Er hatte viele Pläne. Seine Reise nach Rom 1598 kam ihm ständig in den Sinn. Jene Gemeinschaft, die er dort kennenlernte und die von der hl. Franziska von Rom gegründet wurde, faszinierte ihn. Eine ganz neue Gemeinschaft von Frauen, ohne die Strenge der Klausur der üblichen Klöster, zum Dienst an den Menschen beauftragt, besonders für die Armen und Kranken, und dennoch aus einer tiefen Frömmigkeit und Gottesbeziehung heraus lebend und arbeitend. Die heiligen Marta und Maria in einer Gemeinschaft vereint: die auf das Wort Gottes hörende und die aktive, tätige. So eine Gemeinschaft müsste man doch auch hier gründen können.
Als Franz von Sales in Gedanken durchs Fenster hinaus auf die Straße seiner Stadt Annecy blickte, der er irgendwann als Bischof dienen sollte, meinte er eine Gruppe von drei Frauen zu sehen, die durch diese Straße geht, von Tür zu Tür. Sie pflegen Kranke, geben Armen Almosen, dienen Gott in den Menschen, die besonders seiner Hilfe bedürfen. Die erste Frau der Dreiergruppe zog ihn besonders in den Bann, nicht nur wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit, sondern vor allem wegen ihrer Anmut, Stärke und Ausstrahlungskraft. Dieser Frau, so war ihm, wird mir helfen, meine Idee zu verwirklichen.
Kaum hatte Franz von Sales begriffen, was ihm da in den Sinn gekommen war, verschwand seine Vision.
Es sollte noch zweieinhalb Jahre dauern, bis sich Johanna Franziska von Chantal und Franz von Sales tatsächlich von Angesicht zu Angesicht begegnen werden. Sie wussten aber sofort, dass sie sich beide schon einmal gesehen hatten.
5. März 1604. Der Erzbischof von Bourges, André Frémyot, hatte Franz von Sales zu den Fastenpredigten nach Dijon eingeladen. Die Politik war es, die den Fürstbischof der Diözese Genf diese Einladung annehmen ließ. Es ging um die Grafschaft Gex, die zwar zur Diözese Genf gehörte, aber unter dem Einfluss des französischen Königs Heinrich IV. stand. Aus einer diplomatischen Laune heraus schenkte der König die Einkünfte einer der drei Pfarrgemeinden von Gex dem Erzbischof Frémyot zu dessen Ernennung, ohne dies jedoch mit Franz von Sales abzusprechen, dem er kurz vorher diese Gemeinden anvertraute. Franz war über diese Vorgehensweise mehr als erstaunt und wollte die Fastenpredigten dazu nutzen, mit dem Erzbischof in dieser Angelegenheit unter vier Augen zu sprechen. Er konnte nicht ahnen, dass seine Wochen in Dijon ganz anders verlaufen sollten.
5. März 1604. Johanna Franziska, Baronin von Chantal, geborene Frémyot, war von den Strapazen der letzten drei Jahre ausgelaugt. Ihr Kummer um den verstorbenen Ehemann und die Sorge um ihre vier kleinen Kinder zehrten an ihren Kräften, dazu die ständigen Auseinandersetzungen mit ihrem Schwiergervater und dessen Mätresse, sowie die anstrengende Verwaltung der Schlösser in Bourbilly und Monthelon. Ihr Vater Benigne Frémyot, Ratspräsident von Dijon, machte sich um seine Tochter ernsthafte Sorgen. Am liebsten hätte er sie samt ihren Kindern zurück in sein Haus geholt, er wusste jedoch, dass der Schwiegervater gedroht hatte, seine Tochter und die Kinder zu enterben, sollte sie nach Dijon übersiedeln. So beschloss er, Johanna Franziska in diesem Jahr wenigstens für die Wochen der Fastenzeit einzuladen. Sie solle einmal fern von allen Alltagssorgen richtig ausspannen können. Während dieser Zeit könnte sie dann auch die Fastenpredigten des berühmten Genfer Fürstbischof hören und ihrer geplagten Seele Gutes tun. Johanna Franziska von Chantal nahm die Einladung gerne an. So erschien sie anfangs März in Dijon und begab sich am 5. März 1604 wie viele andere Bewohner der Stadt zur Heiligen Kapelle Sainte-Chapelle, wo die Fastenpredigten des Fürstbischofs stattfinden sollten.
5. März 1604. Als Franz von Sales die Kanzel betritt, fällt ihm sofort die Dame in den ersten Bankreihen ins Auge. Ähnlich erging es der Baronin von Chantal, als sie den Bischof zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht erblickte. Später wird sie bekennen:
„Was mich betrifft, so betrachtete ich ihn in stummem Erstaunen vom ersten Augenblick unserer Bekanntschaft an wie ein Orakel und nannte ihn im Grunde meines Herzens einen Heiligen.“
Nach dem Ende der Predigt wollte Franz von Sales vom Erzbischof Frémyot wissen: „Sagen Sie mir doch, wer ist jene Dame mit hellbraunen Haaren und in Witwenkleidern, die meiner Kanzel genau gegenübersaß und das Wort der Wahrheit mit solcher Aufmerksamkeit aufnahm?“ Der Erzbischof lächelte: „Das kann ich Ihnen genau sagen und sie werden diese Dame auch sehr bald beim Empfang, den ich vorbereitet habe, kennen lernen. Sie ist nämlich meine Schwester.“
5. März 1604. Beim Empfang machte André Frémyot den Bischof von Genf mit seiner Schwester Johanna Franziska bekannt. Beide fühlten sogleich eine innere Anziehungskraft zueinander. Johanna erinnerte sich an ihre Vision von der Mühle und erkannte in Franz von Sales den Mann, den sie dort zu sehen glaubte. Franz erblickte in Johanna jene Frau, die er durch die Gassen von Annecy gehen sah, um dort Kranke zu pflegen und Armen zu helfen. Zuerst aber herrschte noch die höfliche Gesprächsatmosphäre, die bei höfischen Empfängen üblich war. Franz von Sales fragte Johanna Franziska, ob sie denn die Absicht habe, noch einmal zu heiraten. Johanna war über diese Frage erstaunt und verneinte. „Nun gut“, entgegnete Franz von Sales, „dann sollten sie aber auch das Aushängeschild einziehen.“ Er meinte damit ihren Schmuck, den sie ihrem Stand gemäß trug. Gleich am nächsten Morgen legte Johanna ihren Schmuck ab, um ihn nie wieder zu tragen.
Einige Wochen später, am 26. April 1604, wird Franz von Sales seinen ersten Brief an Johanna Franziska von Chantal schreiben. Johanna Franziska hatte ihm mittlerweile viel von ihrem Leben erzählt. Sie hatte endlich einen Menschen gefunden, der ihr wirklich zuhörte, ihre Probleme nicht als bloße Frauenschwäche abtat, sondern Verständnis zeigte. Auch hatte sie ihn bereits gefragt, ob er nicht ihr geistlicher Begleiter werden wolle. Franz von Sales zögerte jedoch bei dieser Bitte, was eigentlich überhaupt nicht seine Art war. Dieser erste Brief, der eine in der Kirchengeschichte einzigartige Freundschaft einleitete, die in hunderten weiteren Briefen dokumentiert ist, bestand nur aus drei Zeilen:
„Gott, so scheint es mir, hat mich Ihnen gegeben; dies wird mir mit jeder Stunde mehr zur Gewissheit. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen vermag. Empfehlen Sie mich Ihrem Schutzengel.“
Die Entscheidung, ob Franz von Sales die geistliche Begleitung von Johanna Franziska von Chantal übernehmen soll oder nicht, war jedoch noch nicht gefallen. Und auch das Problem um die Einkünfte der Pfarrgemeinde von Gex sollte sich erst einige Jahre später einvernehmlich lösen.
Es war kein Zufall, dass sich Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal nach ihrer ersten Begegnung in Dijon in der Fastenzeit 1604 bereits im August des gleichen Jahres erneut trafen. Ort dieser neuerlichen Begegnung war der Wahlfahrtsort Saint Claude. Dorthin reiste Franz von Sales mit seiner Mutter und seiner jüngsten Schwester Jeanne. Johanna Franziska wurde von ihren beiden Freundinnen Marguerite Brulart und Rose Bourgeois de Crepy, der Äbtissin von Puits d’Orbe, begleitet.
Das Zögern
Franz von Sales hatte in den vergangenen Monaten bereits begonnen, Johanna Franziska von Chantal brieflich einige wesentliche Ratschläge für ihr Leben zu geben, die Entscheidung allerdings, ihr geistlicher Begleiter zu werden, zögerte er hinaus. Für diese Entscheidung wollte er sich ganz sicher sein, dass sie dem Willen Gottes entsprach. Wenn Gott es will, dann wird er auch entsprechende Zeichen setzen, die ihm dies deutlich machen.
Dass diese gemeinsame Wallfahrt so schnell zustande kam, war für Franz von Sales ein deutlicher Hinweis dafür, dass Gott diese Begleitung gut heißt. Franz von Sales hat Johanna Franziska von Chantal dieses Gefühl schon in seinem allerersten Brief mitgeteilt: „Gott, so scheint es mir, hat sie mir gegeben. Das wird mir mit jedem Tag mehr zur Gewissheit.“
In Saint Claude kam es dann zu eine langen Aussprache der beiden Heiligen, in der sich Franz von Sales alles berichten ließ, was sich im Innern der Baronin seit der Fastenzeit zugetragen hatte. Er hörte ihr aufmerksam zu, äußerte sich jedoch dazu nicht. Gleich nach dem Gespräch zog er sich zurück und versprach, dass er ihr am nächsten Morgen seine Entscheidung kund tun werde. Daraufhin verbrachte der Bischof fast die ganze Nacht im Gebet.
Die Frage ist, warum Franz von Sales bei Johanna Franziska von Chantal so lange gezögert hatte, in ihre geistliche Begleitung einzuwilligen. Seit seiner Reise nach Paris im Jahr 1602, wo er im Kreis um Madame Acarie den geistlichen Aufbruch in Frankreich kennengelernt hatte, war er zutiefst davon überzeugt, dass geistliche Begleitung in der Seelsorge eine ganz wichtige Aufgabe darstellt. Bei anderen Gelegenheiten zögerte er überhaupt nicht, einem Menschen, der ihn darum bat, diese Begleitung zu gewähren. Bei Johanna Franziska von Chantal jedoch dauerte diese Entscheidung fast ein halbes Jahr.
Die Gründe seines Zögerns kennen wir nicht mit Sicherheit. Manche sehen in der Tatsache, dass Johanna Franziska sich bereits an einen geistlichen Begleiter gebunden hatte, einen Grund dieses Zögerns. Diesem Priester gegenüber, unter dessen rigorosen und hartherzigen Ratschlägen Johanna sehr litt, hatte sie nämlich vier Gelübde abgelegt, 1. ihm gehorsam zu sein, 2. niemals einen anderen geistlichen Begleiter zu wählen, 3. keinem anderen Priester je darüber Mitteilung zu machen und 4. nur mit ihm über ihr Seelenleben zu sprechen.
Andere wiederum meinen, dass an diesem Zögern klar wird, wie sehr sich beide Heilige bewusst waren, dass diese Entscheidung ihre ganzes Leben verändern wird. Eine solche Lebensentscheidung fällt man eben nicht einfach so. Franz von Sales wollte jedenfalls ganz sicher gehen, dass diese Entscheidung ganz dem Willen Gottes entsprach und er ließ sich Zeit, darüber nachzudenken.
Ich nehme den Auftrag an
Am Morgen des 25. August 1604 meinte der Bischof dann zu Johanna Franziska von Chantal:
„Ich hab die ganze Nacht an Ihrer Angelegenheit gearbeitet. Ohne Zweifel ist es der Wille Gottes, dass ich Ihre geistliche Leitung übernehme und sie meinen Ratschlägen folgen. Diese ganzen vier Gelübde, die sie ihrem derzeitigen Seelenführer versprochen haben, taugen zu nichts anderem, als den Frieden ihres Gewissens zu zerstören.“
Daraufhin überreichte er ihr eine schriftliche Erklärung, in der er seine Entscheidung zusammenfasste: „Im Namen Gottes nehme ich den Auftrag zu ihrer geistlichen Führung an und werde mich dafür mit aller Sorge und Treue einsetzen, soweit ich es vermag und meine anderen Verpflichtungen es zulassen.“
Gleich nach Ihrer Rückkehr von Saint Claude verfasste Johanna Franziska von Chantal ihrerseits ein schriftliches Versprechen, das sie vor der Schwarzen Madonna in Notre Dame d’Etang ablegte:
„Ewiger Gott, ich, Johanna Franziska Frémyot, fühle mich unwürdig in Eurer Gegenwart, aber vertraue auf Eure Güte und verspreche hiermit dem Bischof von Genf Gehorsam. Ich hoffe, dass Ihr dieses Opfer von mir annehmen wollt. Helft mir, dass ich es gern und gut vollbringe.“
Diese Erklärung schickte sie an Franz von Sales nach Annecy.
Damit begann eine in der Kirchengeschichte wahrhaft einmalige geistliche Freundschaft, in der sich zwei Menschen gegenseitig auf ihrem Weg zur Heiligkeit unterstützten.
14. Oktober 1604: Nicht lange nach seiner Entscheidung im Wallfahrtsort Saint Claude, die geistliche Begeleitung von Johanna Franziska von Chantal zu übernehmen, schrieb Franz von Sales der Baronin einen sehr ausführlichen, 20 Seiten langen Brief. Darin fasste er einige Grundsätze zusammen, wie er sich diese Begleitung vorstellt.
Eine gute Entscheidung
Als Erstes räumt er noch einmal alle Bedenken bezüglich der Entscheidung aus, ihn als geistlichen Begleiter gewählt zu haben. Johanna war eine sehr pflichtbewusste Frau. Zwei Jahre vorher hatte sie einem anderen Priester versprochen, sich seiner geistlichen Begleitung anzuvertrauen. Nun nagte in ihr die Frage, ob sie dieses Versprechen verraten hätte. Franz von Sales schreibt: „Die von Ihnen getroffene Wahl weist alle Zeichen einer guten und rechtmäßigen Entscheidung auf.“ Ein solches Zeichen ist die Liebe, die zwischen ihnen spürbar ist. Wörtlich schreibt Franz von Sales:
„Bedenken Sie, meine sehr liebe Schwester, dass mir Gott vom ersten Augenblick, da Sie mir Einblick in Ihre Seele gewährten, eine große Liebe zu ihr gab ... Als Sie sich mir noch mehr erschlossen, war dies für meine Seele wie eine wunderbare Bindung, die Ihre immer mehr zu lieben. Deshalb schrieb ich Ihnen, dass Gott mich Ihnen gegeben habe. Ich meinte damals, dass diese Zuneigung, die ich im Geiste und vor allem im Gebet für Sie empfand, nicht mehr größer werden könnte. Nun aber, meine liebe Tochter, scheint mir etwas Neues hinzugekommen zu sein, das ich nicht beschreiben kann, dessen Wirkung aber das Empfinden einer großen inneren Freude ist, Ihnen die vollkommene Gottesliebe und all die Segnungen des geistlichen Lebens zu wünschen. Nein, ich übertreibe nicht im Geringsten. Ich sage es vor dem Gott meines und Ihres Herzens: Jede Liebe hat ihre Besonderheit, wodurch sie sich von jeder anderen unterscheidet. Jene, die ich zu Ihnen hege, hat dies an sich, dass sie mich unendlich erfreut und um alles zu gestehen von größtem Nutzen für mich selbst ist. Glauben Sie mir das! Es ist die volle Wahrheit. Hegen Sie also keine Zweifel mehr. Ich wollte an sich darüber nicht so viel reden, aber ein Wort ergibt das andere. Ich denke aber, Sie werden vorsichtig damit umgehen.“
An dieser Aussage wird deutlich, dass Franz von Sales von Anfang an gespürt hat, dass Johanna auch für ihn „von größtem Nutzen“ sein wird, dass also ihre Beziehung nicht einseitig, sondern gegenseitig sein wird.
Geist der Freiheit
Nach diesen Klarstellungen geht Franz von Sales auf die Versuchungen ein, die Johanna bezüglich ihres Glaubens empfindet und bis an ihr Lebensende empfinden wird. Sie hatte noch am Sterbebett Glaubenszweifel, vor allem was die Gegenwart Jesu in der Eucharistie betraf. Franz von Sales rät ihr, in solchen Situationen einfach Ruhe zu bewahren und sich nicht lange damit aufzuhalten, sondern einfach mutig ihren Glauben zu bekennen: „Man muss eben Geduld haben,“ schreibt er, „nach dem Sturm wird Gott die Stille senden.“ Diese Glaubenszweifel sind nichts anderes als das Gepolter des Teufels, der unzufrieden darüber ist, dass er ihrer Seele nicht habhaft werden kann.
Das eigentliche Thema dieses Briefes aber ist der Geist der Freiheit. Franz von Sales möchte seiner Seelenfreundin von Anfang an klar machen, dass zwischen Ihnen der Geist der Freiheit herrschen soll. Das heißt: Jede Empfehlung, die er ihr gibt, ist kein absoluter Befehl, den sie sofort und widerspruchslos auszuführen hat, sondern:
„Dies soll die Grundregel unseres Gehorsams sein: Ich schreibe sie in großen Buchstaben: ALLES AUS LIEBE TUN UND NICHTS AUS ZWANG! MEHR DEN GEHORSAM LIEBEN, ALS DEN UNGEHORSAM FÜRCHTEN! Ich lasse Ihnen den Geist der Freiheit; nicht jenen, der den Gehorsam verneint, denn dies ist die Freiheit des Fleisches, sondern jenen, der Zwang, Skrupel und Hast ausschließt.“
Eine große Freundschaft
In der zweiten Hälfte des Briefes befasst sich Franz von Sales ausführlich mit der Familie Johannas, ihre vier Kinder, ihren Vater, Bruder und Schwiegervater. Diese Abschnitte machen deutlich, dass sich Franz von Sales nicht mehr als Außenstehender betrachtet, sondern dass die Beziehung zu Johanna ihre ganze Familie mit einschließt, dass ihre alltäglichen Sorgen auch seine Sorgen sind. Diese familiäre Bindung wird 1608 durch die Hochzeit seines Bruders Bernhard mit Marie Aimée, der zweitältesten Tochter Johannas, konkret verwirklicht.
Gut ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung zwischen den beiden Heiligen ist also klar, dass hier eine große Freundschaft begonnen hat, die auf Freiheit und auf gegenseitigem Miteinander beruhte und deren Ziel der gemeinsame Weg zur Heiligkeit ist.
Die Schlussworte seines nächsten Briefes, den Franz von Sales schon zwei Wochen später, an Allerheiligen 1604, schreiben wird, verdeutlichen dies noch einmal ganz klar: „Mein Wunsch, Sie zu lieben und von Ihnen geliebt zu werden, hat kein geringeres Maß als die Ewigkeit. Diese möge Jesus in seiner Liebe und Güte uns geben. Amen.“
Von 1604 bis 1610 schrieben sich Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal mindestens alle drei Wochen gegenseitig einen Brief. Ihre Freundschaft wurde tiefer und fester. Franz begann inmitten seiner geistlichen Empfehlungen für Johanna auch von seinen persönlichen Sorgen und Nöten zu schreiben, von kleinen Anekdoten und lustigen Erfahrungen, die er als Bischof erlebte. Auf diese Weise wissen wir heute Vieles aus dem Leben des hl. Franz von Sales, das er in anderen Briefen gegenüber Adressaten, die ihm nicht so vertraut waren, nie erzählt hätte. Franz von Sales öffnete Johanna Franziska sein Herz und Johanna ihm das Ihrige.
Persönliche Begegnungen
Die Briefe konnten natürlich nur teilweise ein ausreichendes Instrument in dieser wachsenden Freundschaft sein. Beide fühlten in sich den Wunsch, sich wenigstens für kurze Zeit immer wieder auch persönlich zu begegnen. Und genau in diesen Treffen reifte die Idee zur Gründung einer gemeinsamen religiösen Gemeinschaft.
Zunächst jedoch blieb Franz von Sales vorsichtig. Als Johanna Franziska von Chantal im Mai 1605 nach Schloss Sales kam, um dort eine Woche zu verbringen, wollte Franz von Sales von der Sehnsucht Johannas, in ein Kloster einzutreten, noch nicht viel wissen.
In der Nähe ihres Schlosses Monthelon wurde damals ein neues Kloster der Klarissinnen gegründet. Johanna fühlte sich zu dieser Gemeinschaft hingezogen. Franz von Sales jedoch betonte, dass sie sich auf ihre Aufgaben und Pflichten als Witwe konzentrieren und nicht ihre Gedanken mit Dingen verschwenden solle, die sie ohnehin nicht erreichen kann. Wir wünschen manchmal so sehr Engel zu sein, dass wir dabei vergessen gute Menschen zu werden, meinte der Bischof. Träumen sie nicht von einem Eintritt in ein Kloster, wenn Gott will, dass sie Witwe, Mutter von vier Kindern und Verwalterin von zwei Schlössern sein sollen.
1606 blieb das jährliche Treffen der beiden Heiligen aus, da Franz von Sales fast alle reisetauglichen Monate zur Visitation seiner Diözese nutzte. Erst 1607 sollte es wieder zu einer persönlichen Begegnung in Annecy kommen. Dabei fand jenes Gespräch statt, das den Weg zur Ordensgründung einleitete.
Nach der Messe am zweiten Pfingsttag, dem 4. Juni 1607, wollte Franz von Sales mit Johanna über deren Zukunft sprechen. Franz sagte: „Die Zeit ist gekommen, dass Sie Klarissin werden.“ Johanna erwiderte: „Ich bin bereit.“ Darauf Franz: „Nein, das ist für Sie vielleicht doch zu streng, es ist besser, wenn Sie Schwester im Krankenhaus von Beaune werden.“ Johanna: „Ich bin bereit zu gehorchen.“ Als Franz von Sales deren große Bereitschaft sah, alle Wege mitzugehen, eröffnete er ihr den Plan, eine ganz neue Ordensgemeinschaft von Frauen ins Leben zu rufen, von der Johanna die Leiterin sein soll. Johanna sagte auch zu diesem Plan Ja.
Damit hatten beide Heilige ein neues und besonderes Ziel ihrer Freundschaft gefunden. Eine Gemeinschaft von Frauen sollte gegründet werden, die sich nicht nur innerhalb der Klausur dem Gebet widmen, sondern auch aus dem Kloster hinausgehen, um Arme und Kranke zu betreuen. So wie die Schwestern des Lazarus, Marta und Maria, sollen diese Schwestern den Menschen dienen und im Gebet zu Füßen Jesu liegen und seinen Worten lauschen.
Der Weg zum Ziel
Bis zur Verwirklichung ihres Planes mussten allerdings noch eine ganze Menge praktische Dinge geklärt werden, vor allem die Frage, wie ein solcher Schritt für Johanna möglich ist, die ja vier Kinder zu versorgen hatte. Außerdem hatte sie immer noch große Probleme mit ihrem Schwiegervater und dessen Mätresse. Mit Hilfe der Begleitung des hl. Franz von Sales konnte Sie wenigstens mit Herrn von Anzeley Frieden schließen, jenem Mann, der 1601 ihren Ehemann Christoph bei der Jagd versehentlich erschossen hatte. Sie tat es nach langem inneren Ringen, in dem sie die Taufpatin seines Kindes wurde, ein Schritt, der Herrn Anzeley von seiner großen Gewissensschuld befreite, für das große Unglück verantwortlich zu sein.
1608 kam Franz von Sales selbst nach Burgund, um den Heiratsvertrag zwischen seinem Bruder Bernhard und Marie-Aimee, einer der drei Töchter Johannas, abzuschließen. Die Beziehungen der Familien Sales und Chantal sollten dadurch noch enger miteinander verbunden werden.
Während der Fastenzeit 1609 kam Johanna mit ihren drei Töchtern nach Annecy. In diesen Wochen wurden weitere konkrete Überlegungen angestellt, um den Weg zur Ordensgründung frei zu machen. Celsus-Benignus, Johannas Sohn, soll in der Obhut seines Großvaters eine gediegenen Ausbildung am Hof von Paris erhalten. Marie-Aimee wird Bernhard von Sales heiraten und die beiden jüngsten Töchter könnten wenigstens für die ersten Jahre bis zu deren Verheiratung bei ihrer Mutter im neuen Kloster von Annecy bleiben.
Nun war der Plan so weit vorangeschritten, dass Johanna Franziska von Chantal ihre Familie davon unterrichten konnte. Bei der kirchlichen Trauung zwischen Bernhard und Marie-Aimee im Oktober 1609 kam es schließlich zum Gespräch zwischen Johannas Vater, deren Bruder André, dem Erzbischof von Bourges, und Franz von Sales, bei dem sich die beiden einverstanden erklärten, Johanna nach Annecy ziehen zu lassen, um dort die Gründung der Gemeinschaft der Heimsuchungsschwestern vorzunehmen.
Mit dem Jahr 1610 sollte für Johanna Franziska von Chantal ein ganz neues Leben beginnen. Franz von Sales und sie hatten vereinbart, dass Johanna Franziska nach Ostern mit ihren beiden jüngsten Töchtern Franziska und Charlotte nach Annecy umziehen soll. Am hohen Pfingstfest, so der Plan, wird sie dann gemeinsam mit drei weiteren Frauen das Leben als Schwester der Heimsuchung Mariens beginnen.
Todesbegegnungen
Anfang 1610 überschlugen sich dann die Ereignisse. Ende Januar erkrankte plötzlich und unerwartet das jüngste Kind Johannas, die kaum 9-jährige Charlotte, schwer. Wenige Tage später war sie tot. Wieder einmal musste Johanna Franziska damit fertig werden, dass der Tod ihr einen lieben Menschen genommen hat.
Gut ein Monat später wurde sie noch einmal mit dem Tod konfrontiert. Anfang März erreichte sie ein Brief von Franz von Sales, in der er ihr die Nachricht vom Tod seiner Mutter überbrachte. Dieser Tod am 1. März 1610 war für ihn „ein großer Schmerz“. „Ich muss Ihnen sagen,“ schrieb er, „dass ich noch die Kraft hatte, ihr den letzten Segen zu erteilen, ihr Augen und Mund zu schließen und ihr den letzten Friedenskuss im Augenblick ihres Hinscheidens zu geben. Nachher aber krampfte sich mein Herz zusammen und ich weinte um diese gute Mutter mehr, als ich je geweint habe, seit ich Priester bin.“
Trotz dieser beiden Todesbegegnungen sollte die Gründung der Heimsuchung wie geplant erfolgen. Am ersten Fastensonntag verließ die Baronin von Chantal ihr Schloss Monthelon. Es war ein Abschied nicht nur von der Familie, sondern vor allem von den Menschen der Umgebung, die ihre „edle Frau“ ins Herz geschlossen hatten. Besonders die Armen der Umgebung, die bei Johanna Franziska immer gute Aufnahme gefunden hatten, versammelten sich in großer Zahl, um sich zu verabschieden. Selbst der Schwiegervater Johannas, der ihr das Leben wahrlich nicht leicht gemacht hatte, konnte seine Tränen nicht zurückhalten.
Abschied von der Familie
Johanna Franziska von Chantal verließ Monthelon und begab sich nach Dijon, ihrer Heimatstadt, wo sie sich von ihrem Vater, ihrem Bruder André und vor allem von ihrem Sohn Celsus-Benignus verabschieden musste. Kein anderer Abschied viel ihr schwerer, als die Trennung von ihrem Sohn. Er sollte in der Obhut des Großvaters und Onkels eine solide adelige Ausbildung am französischen Königshof erhalten. Seine Zukunft war also bestens gesichert, die Trennung von der Mutter blieb dem 14-jährigen jedoch nicht erspart. Als er begriff, dass diese Trennung endgültig ist, warf er sich der Mutter vor die Füße, um sie am Weggehen zu hindern. Johanna Franziska von Chantal musste über ihren Sohn hinwegsteigen, um in die Kutsche zu gelangen, die sie nach Annecy bringen sollte.
Am 4. April 1610, dem Palmsonntag, kam Johanna Franziska von Chantal begleitet von ihrem Schwiegersohn Bernhard von Sales in Annecy an. Franz von Sales selbst war ihnen entgegengeritten, um sie zu empfangen.
Bis Pfingsten soll Johanna Franziska im Schloss Sales bei ihrer Tochter Marie-Aimee und dem Schwiegersohn Bernhard bleiben, um der jungen Ehefrau zur Seite zu stehen und die letzen Angelegenheiten der Ordensgründung zu regeln.
Vor allem mit dem Haus, in dem die Schwestern wohnen sollten, gab es noch einige Probleme zu lösen.
Probleme mit dem Haus
Eigentlich war alles schon geklärt. Die Baronin von Cusy und ihr Ehemann hatten dem Bischof zugesichert, ihr „Haus der Galerie“ für die Heimsuchung zur Verfügung zu stellen. Doch genau am Tag vor Pfingsten zogen die beiden ihr Versprechen zurück. Franz von Sales war dadurch in großer Verlegenheit, weil er damit das Gründungshaus verloren hatte und den Plan, am Pfingstsonntag mit dem Kloster zu beginnen, aufgeben musste. Durch sein Verhandlungsgeschick gelang es ihm jedoch in der Woche nach Pfingsten, die Cusys doch noch umzustimmen und die „Galerie“ zu kaufen.
Während dieser Wochen vor der Gründung lief bei Johanna Franziska ebenso einiges in ihrer Seele nicht nach Plan. In ihr begann sich große Unsicherheit auszubreiten, ob ihre Entscheidung, die Familie zu verlassen und in ein Kloster einzutreten, tatsächlich richtig war. „Was mich am meisten schmerzte“, so gestand sie später, „war der Vorwurf, man würde mich als Treulose halten, weil ich meine Kinder im Stich gelassen hatte.“ Diese inneren Kämpfe überwand sie, in dem sie ihr ganzes Leben und ihre Familie dem heiligen Willen Gottes übergab. Sein Wille möge geschehen, betete sie, und plötzlich fand sie in ihrem Herzen Ruhe, ein Hochgefühl der Freude und neue Kraft, zu ihrer Entscheidung zu stehen.
Die Gründung
Am 6. Juni 1610 waren alle inneren und äußeren Hürden überwunden. Gegen 7.00 Uhr abends begaben sich die vier ersten Heimsuchungsschwestern, Johanna Franziska von Chantal, Charlotte de Bréchard, Jacqueline Favre und Jacqueline Coste zum Bischof, um seinen Segen für das Leben als Ordensschwestern zu erbitten. Franz von Sales übergab Johanna Franziska einen ersten Entwurf der Ordensregeln für die Gemeinschaft mit den Worten: „Folgen Sie diesem Weg, meine teuerste Tochter, und führen Sie auf ihn alle jene, die er erwählt hat, um in Ihre Fußstapfen zu treten.“
Daraufhin brachen sie auf zum kleinen Haus der Galerie, dem erste Kloster des Ordens der Heimsuchung Mariens.
Sooft es Franz von Sales möglich war, verließ er für ein zwei Stunden sein Bischofshaus, um in das Haus der Galerie zu gehen, in der die Schwestern der Heimsuchung Mariens am 6. Juni 1610 ihr erstes Kloster bezogen hatten.
Die ersten Schwestern
Neben Johanna Franziska von Chantal war dies Jeanne-Charlotte de Brechard, eine Freundin Johannas und Nachbarin ihres Schlosses in Monthelon. Außerdem Jacqueline Favre, die Tochter von Senatspräsident Antoine Favre, dem besten Freund des hl. Franz von Sales. Die vierte Schwester schließlich war Anne Jaqueline Coste, eine einfache Frau aus Genf, die Franz von Sales schon vierzehn Jahre lang geistlich begleitete.
Im Laufe dieses ersten Jahres kamen noch weitere vier Schwestern hinzu: Claudia Franziska Roget, Peronne Maria von Chatel, Margarete Milletot und Adriana Fichet. Diese acht Schwestern wurden zu den Grundsäulen der jungen Ordensgemeinschaft. Eine jede trug mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten dazu bei, dass der Orden der Heimsuchung sehr bald aufblühte und zu wachsen begann.
Geistliche Gespräche
Franz von Sales genoss seine Besuche bei der jungen Ordensgemeinschaft sehr. Wenn es das Wetter zuließ, setzten sie sich gemeinsam in den Garten der Galerie. Ansonsten versammelten sie sich im einzigen größeren Raum des Klosters, dem Zimmer von Johanna Franziska von Chantal, die jetzt als Oberin der Gemeinschaft von allen „Mutter Chantal“ genannt wurde.
Franz von Sales beantwortete in diesen Stunden der „geistlichen Gespräche“ alle möglichen kleinen und großen Fragen, die den Schwestern auf dem Herzen lagen. Es war ja noch nichts geregelt. Der genaue Tagesablauf, die Einteilung von Gebet, Arbeit, Essen und Erholung musste erst gefunden werden. Ebenso galt es, den Schwestern die Grundsätze der neuen Ordensgemeinschaft zu verdeutlichen, den Geist der Heimsuchung, der Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal zu dieser Ordensgründung veranlassten.
Dieser Geist bestand im Wesentlichen darin, dass sich die Schwestern bei allem, was sie tun, ob im Gebet, in der Arbeit oder bei der Erholung, in der Gegenwart Gottes wissen. Gott ist immer unter uns. Er ist der Gott der Liebe und daher sollen sich alle gerade in den Kleinigkeiten des Alltags bemühen, diese Liebe auch untereinander lebendig werden zu lassen.
Mutter Chantal schrieb über diese Zeit: „Seit dem ersten Tage, da wir uns ins Kloster zurückgezogen hatten, befolgten wir genau, was man uns vorgeschrieben hatte. Der Heilige prägte uns eine solche Liebe zur vollkommenen Genauigkeit und Einfachheit ein, dass wir beim geringsten Fehler Gewissensbisse empfanden. Es kann nicht mehr Offenherzigkeit, Unschuld und heilige Freude geben, als sie unter diesen lieben Seelen herrschte. Es lässt sich gar nicht sagen, wie viel Gnaden Gott diesen lieben Seelen schenkte; man sah in dieser kleinen Gemeinde einen Eifer für die genaue Beobachtung der Regel, einen Gebetsgeist, eine kindliche Geradheit und Unschuld, eine Liebenswürdigkeit, Sanftmut und heilige Freude in den Gesprächen und eine herzliche Einigkeit unter ihnen, dass es eine paradiesische Wonne war, in diesem Hause zu weilen. Unser heiliger Stifter besuchte uns oft, hörte unsere Beichten und hielt uns geistliche Vorträge, um uns die wahre Vollkommenheit zu lehren.“
Dem ausgezeichneten Gedächtnis von Schwester Adriane Fichet verdanken wir es, dass uns diese „Geistlichen Gespräche“, die Franz von Sales mit den Schwestern führte, noch heute erhalten sind. Sie hat akribisch genau aufgeschrieben, was Franz von Sales vorgetragen hatte und wie er welche er unzähligen Fragen der Schwestern beantwortete.
Wer die „Geistlichen Gespräche“ heute liest, erkennt sehr bald, wie wohl sich Franz von Sales in diesen Stunden gefühlt haben musste. Wir erleben auf diesen Seiten den Heiligen trotz der teils sehr ernsten Themen in seiner humorvollsten Art.
Nur ein Beispiel unter unzähligen. Franz von Sales hat offenbar herausgefunden, dass die Schwestern jedes Wort, das er ihnen sagte, gleich als großes Dogma auffassten. Deshalb sagte er ihnen einmal:
„Zu guter Letzt möchte ich noch bemerken, dass alles, was ich nun gesagt habe, nicht als Verpflichtung, sondern nur als Anregung aufzufassen ist. Wir sprachen z.B. neulich davon, dass man Gerichte in der Reihenfolge essen solle, wie sie verabreicht werden. Das ist nun nicht so streng zu nehmen. Wird als erster Gang Milchbrei gegeben, eine Schwester aber isst ihn nicht gern so heiß, dann darf sie ruhig warten, bis er abgekühlt ist. Und wer ihn nicht lauwarm mag, weil er dann an Kleister erinnert, der soll ihn ruhig heiß essen. Beklagen wir uns nur nicht über den Vater [Franz von Sales], dass er dies und das haben will, denn der arme Vater will durchaus nicht haben, dass wir uns die Zunge verbrennen.“
Neubau
Der Andrang auf das Kloster der Galerie war so groß, dass es für die Schwestern bald zu klein wurde. Es musste also schon 1612 in eine größeres Haus umgezogen werden. Die beiden Gründer dachten jedoch bereits an den Bau eines ganz neuen Klostergebäudes. 1615, als dieses neu errichtete Kloster schließlich bezogen werden konnten, war die Zahl der Schwestern auf 26 angewachsen und sehr bald sollte auch außerhalb von Annecy ein weiteres Kloster gegründet werden.
Johanna Franziska von Chantal lag plötzlich im Sterben. Das bestätigten die Ärzte, die in diesen Tagen im Februar 1612 ihr Krankenlager aufsuchten. Blass und elend lag sie in ihrem Zimmer im Haus der Galerie, kaum ein Jahr nach der Gründung des ersten Heimsuchungsklosters.
Die Arbeit beginnt
Noch am letzten Tag des Jahres 1611 hatte sie in einer Hausversammlung allen Mitschwestern voller Energie verkündet, dass die Zeit der geistlichen Ausbildung innerhalb der Klostermauern vorbei und die Arbeit für die Armen und Kranken der Stadt Annecy beginnen werde.
Schon am nächsten Tag, dem 1. Januar 1612, machten sich die Schwestern jeweils zu zweit oder zu dritt auf den Weg, um ihren Dienst an den Menschen zu tun. Es war ein gutes Gefühl, für andere da sein zu können, aber auch anstrengend. Das Elend in der Stadt war größer als erwartet, vor allem, wenn man die Augen vor dieser Armut nicht verschloss.
Die Küche des Klosters wurde geöffnet und die Schwestern hatten jede Menge zu tun, um den zahlreichen Bettlern wenigstens einmal am Tag eine warme Mahlzeit anbieten zu können.
Noch schwieriger gestaltete sich der Krankendienst in den Wohnungen selbst. Die Pflege der Dahinsiechenden war oft genug mit üblen Gerüchen verbunden, die sich nicht nur durch die eitrigen Wunden verbreiteten. Für Sauberkeit in den Häusern musste ebenso gesorgt werden wie für einen ordentlichen Verband.
Die Menschen erfüllte eine große Dankbarkeit für das, was die neuen Schwestern des Bischofs Franz von Sales taten. Die Schwestern erfüllte die Gewissheit, dass sie in allen Armen und Kranken dem Herrn Jesus Christus selbst begegneten, den sie im Gebet und vor allem in der Heiligen Messe täglich anbeteten.
Eine besondere Herausforderung
Nun lag die Oberin und Gründerin des Klosters so da, wie die unzähligen Kranken, die von den Schwestern täglich besucht wurden. Ihre Erfahrung sagte ihnen dasselbe wie die Einschätzung des calvinischen Arztes, den der Bischof Franz von Sales direkt aus Genf hatte holen lassen, weil dessen Heilkunst einen hervorragenden Ruf genoss. Für Mutter Chantal kann nicht mehr viel getan werden. Jetzt war es wichtig, ihr das Sterben so angenehm wie möglich zu gestalten.
Franz von Sales erlebte diese Tage der Krankheit von Mutter Chantal als besondere Herausforderung an seinen Glauben an den Willen des liebenden Gottes. Was bezweckt dieser Gott der Liebe, wenn er zulässt, dass sie gemeinsam eine ganz neue Ordensgemeinschaft ins Leben rufen und jetzt, nachdem alles erst begonnen hat, die Gründerin selbst sterben lässt?
Franz von Sales schreibt am 24. Februar 1612 einen Brief an den Prior des Klosters Talloires, Philippe de Quoex, in dem er diese Frage zur Sprache bringt und für sich auf folgende Weise beantwortet:
„Die gute Mutter ist sehr krank und mein Geist ist etwas in Sorge über ihre Krankheit. Ich sage ‚ein wenig’, und das ist viel. Ich weiß trotzdem, dass der erhabene Architekt der neuen Kongregation, wenn er den Grundstein aus dem Fundament herausbrechen will, das er gelegt hat, um ihn in das himmlische Jerusalem zu versetzen, wohl weiß, was er mit dem übrigen Bau machen will. In dieser Überzeugung bleibe ich im Frieden und Ihr demütiger Diener und Mitbruder.“
Gott wird schon wissen, was er mit der tödlichen Erkrankung der Gründerin bezweckt. Sein Wille möge geschehen. So schreibt er am gleichen Tag auch an den Jesuitenpater Bonivard:
„Mein lieber Pater, ich bitte Sie um eine Novene für die Gesundheit unserer Frau von Chantal. Seit zehn oder zwölf Tagen lässt mich ihre schwere Krankheit die dritte Vaterunser-Bitte sprechen: Dein Wille geschehe. Ich unterwerfe mich dem göttlichen Willen vollkommen. Wenn es ihm gefällt, diese Mutter wegzunehmen, bringe ich sie ihm zum Opfer; wenn es ihm gefällt, sie uns zu lassen, sei sein heiliger Name gepriesen! Wenn es ihm gefällt, dass unser Bauwerk entsteht, wird er uns den Baustoff lassen; wenn nicht, wird er ihn in seiner himmlischen Wohnung verwahren. Nach den Regeln unserer unlösbaren väterlichen, brüderlichen und kindlichen Liebe muss ich Ihnen gestehen, lieber Pater, dass mich die Führung Gottes in allen seinen Plänen mit Bewunderung erfüllt, verbunden jedoch mit einer gewissen heimlichen Hoffnung, dass er an den Rand des Todes führt, um das Leben zu schenken; ich sage noch mehr: dass er tötet, um wieder zu erwecken. Ich beschließe alle meine Gedanken mit dem Wort: Dein Wille geschehe.“
Dein Wille geschehe
Ähnliches fordert er von Johanna Franziska von Chantal selbst, in dem er in diesen Tagen ihr Krankenlager als „ein Nest“ bezeichnet, an dem Gott ihr Vertrauen in seinen liebenden Willen erkennen kann: „Lieben und bewahren Sie sorgfältig die Ruhe des Geistes und Körpers wie eine Statue in der Nische, in die sie ihr Herr gestellt hat, wie ein kleiner Vogel in seinem Nest, der weder Kräfte noch Beine hat, zu gehen, noch Federn, zu fliegen; denn Ihr Krankenlager ist ein Nest, an dem unser Herr Ihr Vertrauen sehen wird. Und gehorchen Sie ihm gut in all Ihren Nöten, denn das sind Boten des Willens Gottes.“
Anfang März 1612 kam Mutter Chantal wieder zu Kräften und konnte ihre Arbeit für die Schwestern der Heimsuchung und die Bedürftigen der Stadt erneut aufnehmen. Das Bauwerk der neu gegründeten Heimsuchung sollte also weiter bestehen. Mutter Chantal und Franz von Sales waren jedoch um eine Erfahrung reicher: Überlassen wir alles dem liebenden Willen Gottes. Es wird alles gut, auch wenn es anders kommt, als wir uns wünschen.
Überlassen wir alles dem liebenden Willen Gottes. Selbst wenn es anders kommt, als wir uns wünschen. Franz von Sales war ein Meister dieses heiligen Gleichmuts, nicht nur in persönlichen Belangen, als etwa Johanna Franziska von Chantal kurz nach der Ordensgründung der Heimsuchung Mariens im Sterben lag. Er überlies auch seine kirchlichen Ziele und Projekte, die er verfolgte, ganz dem Willen Gottes. Nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Überzeugung – und wirklich Gleichmut zu üben, das hat sehr viel mit Mut zu tun. Entgegen jeder eigenen Überzeugung davon überzeugt sein, dass Gott alles in die richtigen Bahnen lenken wird, auch wenn sie mir selbst gegen den Strich gehen, kann manchmal sehr schwer sein.
Gründung in Lyon
Der Erfolg der neu gegründeten Gemeinschaft der Heimsuchung sprach sich herum. Am 2. Februar 1615 kam es daher zu einer weiteren Gründung eines Heimsuchungsklosters in Lyon. Interessanterweise sollte Franz von Sales sieben Jahre später in eben diesem Kloster sterben. Noch aber war es nicht so weit. Diese Gründung brachte nämlich ganz andere Schwierigkeiten mit sich. Durch die Ausweitung in eine andere Diözese wurde es notwendig, dass die Heimsuchung die Zustimmung des dortigen Bischofs, ja die päpstliche Anerkennung erhielt, um als echte Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche zu gelten.
Vom 25. Juni bis zum 10. Juli 1615 machte sich Franz von Sales daher auf den Weg nach Lyon, um mit dem dortigen Erzbischof Denis-Simon de Marquemont (1572-1626) die Gründung der Heimsuchung zu regeln. Leider konnte sich der Erzbischof mit den neuartigen Ideen, die Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal für ihr Kloster entwickelt hatten, wenig anfreunden. Für ihn waren Schwestern, die nicht in ständiger Klausur und nach den klassischen Regeln eines Ordens lebten, kein richtiges Kloster. Er forderte daher Franz von Sales auf, seine Gemeinschaft dementsprechend zu verändern, damit sie die kirchliche Anerkennung erhielt.
Änderung der Ordensregeln
Für Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal begann nun der mühsame Weg der Änderung ihrer Ordensgemeinschaft in ein klausuriertes Kloster nach den Regeln des heiligen Augustinus, um die päpstliche Anerkennung zu erhalten.
Der Erzbischof von Lyon ließ sich durch die verschiedenen Argumente und Erklärungen, die ihm Franz von Sales für seine Gemeinschaft vorlegte, einfach nicht überzeugen. Franz von Sales war sehr bald klar, dass er sich entscheiden müsse. Wenn er an den gemeinsamen Überzeugungen von ihm und Johanna festhielt, dann wird die Heimsuchung eine Gruppe von Frauen innerhalb seiner Diözese bleiben. Möchte er jedoch, dass sie sich über seine Diözese hinaus ausbreiten, dann muss er den Änderungswünschen des Erzbischofs Folge leisten. Wenn er nachgibt, hat dies jedoch die entscheidende Konsequenz, dass seine Schwestern das Kloster nicht mehr verlassen dürfen, nicht einmal um Armen, Kranken und Notleidenden zu helfen.
Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal, die in allem den Ratschluss der göttlichen Vorsehung erkannten, entschieden sich, den Wünschen des Erzbischofs nachzukommen, um die allgemeine kirchliche Anerkennung zu erhalten. Sie änderten die Regeln ihrer Gemeinschaft dahingehend um, dass sie von nun an der klassischen Augustinerregel entsprachen, vor allem mit Klausur und feierlichen Gelübden. In zwei Punkten ließen die beiden Ordensgründer jedoch nicht locker: in der Heimsuchung soll es auch weiterhin Platz geben für Witwen und gebrechliche Frauen. Daher soll nicht das anstrengende, lateinische Stundengebet der Mönche, sondern das kleine Offizium der allerseligsten Jungfrau gelten, damit auch schwächliche Frauen und Frauen, die nicht der lateinischen Sprache mächtig sind, daran teilnehmen können.
Die strenge Klausur wurde jedoch eingeführt. Den Schwestern blieb nun nichts anderes mehr übrig, als ihre Tore aufzumachen, damit die Armen und Notleidenden wenigstens zu ihnen ins Kloster kommen konnten. Zu ihnen hinaus auf die Straßen zu gehen, durften sie nicht mehr.
Anerkennung und Aufblühen
Am 23. April 1618 wurde die Ordensgemeinschaft mit den veränderten Ordensregeln von Rom offiziell anerkannt. Damit war die Heimsuchung ein formeller Orden der katholischen Kirche und konnte überall auf der Welt gegründet werden.
Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal haben dies als Entscheidung Gottes für ihre Gemeinschaft akzeptiert. Es war ein heroischer Akt, ihre eigenen Ideen zurückzustecken, um den Ideen der Kirche zu entsprechen. Die beiden taten es, weil sie davon überzeugt waren, dass sie damit auch dem Wille Gottes gehorchen, dem sie alles überlassen wollten.
Bis zum Tod des hl. Franz von Sales wurden noch zehn weitere Klöster außerhalb von Annecy gegründet: 1616 in Moulins, 1618 in Grenoble und Bourges, 1619 in Paris, 1620 in Montferrand, Nevers und Orléans, 1621 in Valence, 1622 in Dijon, Belley und Saint-Etienne.
Das Jahr 1616 brachte in der Freundschaft zwischen Johanna Franziska von Chantal und Franz von Sales eine entscheidende Veränderung.
Im Mai dieses Jahres beendete der Bischof sein theologisches Hauptwerk, an dem er mindestens zehn Jahre lang gearbeitet hatte: „Abhandlung über die Gottesliebe“ oder auch „Theotimus“ genannt. In diesem umfangreichen Werk beschäftigt er sich mit der Frage, wie Gott den Menschen liebt und wie der Mensch auf diese Liebe reagieren soll. Dieses Buch, das wegen seiner theologischen Dichte und des Umfangs bei weitem weniger Leser fand als sein Bestseller „Philothea“, trug dazu bei, dass Franz von Sales heute zu den Kirchenlehrern und Mystikern gezählt wird.
Jahresexerzitien
Johanna Franziska von Chantal wollte die Woche vor Pfingsten für ihre jährlichen Exerzitien nützen. Sie wünschte sich, dass Franz von Sales sie durch diese Tage begleite und ihr das Thema „Sich ganz Gott überlassen“ näher bringe.
Franz war darüber hoch erfreut, da es genau jenes Thema war, das er im „Theotimus“ behandelte: Weil Gott uns unendlich liebt, daher kann die Reaktion des Menschen auf diese Liebe nur bedingungsloses Vertrauen sein. „Ich überlasse mich dir ganz, mein Gott. Nichts davon will ich ausnehmen. Weil ich weiß, dass du mich liebst, vertraue ich dir ohne Vorbehalt.“
Franz von Sales erkrankt kurz vor Beginn der Exerzitien an Angina. Er ist ans Bett gefesselt, hat Fieber und sein Rachen ist geschwollen und schmerzt. Seine Exerzitienbegleitung muss er daher in Briefform bewerkstelligen. Dadurch sind uns die Anregungen, die Franz von Sales an Johanna Franziska gibt, noch heute erhalten, ebenso die Antworten und Reaktionen, die Johanna Franziska an Franz von Sales zurückschrieb.
Radikalität
Franz von Sales wird in diesem Jahr 1616 49 Jahre alt. Er spürt deutlich, dass seine körperlichen Kräfte nachlassen. Diese Situation mag dazu beigetragen haben, dass Franz von Sales gleich in seinem ersten Impuls Johanna Franziska mit aller Radikalität mit diesem Thema konfrontiert:
"Stellen Sie sich ganz konkret vor, dass sie genauso wie Ijob alles verlieren: ihre Familie, ihr ganzes Hab und Gut, ihre Gesundheit, ihre Freunde … nichts bleibt ihnen, nackt und bloß stehen sie da, nur Gott allein ist auf ihrer Seite. Genügt Ihnen das?“
Johanna Franziska von Chantal lässt sich auf diese Übung ein und erkennt sehr bald, wie tiefgehend diese Frage ist, wenn sie tatsächlich ernst genommen wird. Es betet sich ja ganz leicht: „Gott, ich überlasse mich dir ganz. Alles, was mein ist, ist auch dein. Ich vertraue dir vollkommen. Du liebst mich, daher ist alles, was du tust, Ausdruck deiner Liebe, selbst wenn ich es nicht verstehe.“
Aber wehe, Gott nimmt mich in meiner Hingabe ernst. Wehe, Gott nimmt mir tatsächlich alles, weil ich es ihm überlassen habe. Wehe, Gott darf tatsächlich bei mir seinen Willen in die Tat umsetzen, da ich ihm ja mein Vertrauen geschenkt habe, egal ob ich diesen Willen nun verstehe oder nicht!
Ohne Hintertür
Franz von Sales stellt Johanna Franziska in diesen Exerzitien 1616 ganz konkret die Frage, ob sie bereit ist, selbst auf ihn und seine Freundschaft zu verzichten, um sich ganz Gott überlassen zu können, ohne irgendeine Hintertür. Vielleicht war sich Franz von Sales schon 1616 klar, dass er nicht mehr lange leben wird und für Johanna Franziska tatsächlich eine Zeit kommen wird, in der sie ganz allein den von ihnen gegründeten Orden der Heimsuchung Mariä leiten wird müssen. Jedenfalls möchte Franz von Sales, dass sich Johanna Franziska dessen klar wird, dass alles im Leben kaputt und verloren gehen kann, wenn Gott nicht verloren geht, dann gibt es immer noch einen Weg.
„Gott allein genügt.“
Zu dem, was die große Mystikerin Teresa von Avila geschrieben hatte, die von Franz von Sales sehr verehrt wurde, möchte dieser nun auch Johanna Franziska von Chantal führen. Und Johanna Franziska geht diesen Weg der Radikalität mit. Am Ende ihrer Exerzitien fühlt sie sich ganz entblößt von allen weltlichen Dingen und vertraut sich sogar schriftlich Gott an: Egal, was die Zukunft bringen mag, ich überlasse mich dir ganz.
An diese schriftliche Erklärung ihres völligen Vertrauens an Gott wird sie sich bis an ihr Lebensende 1641 erinnern. Bis zu ihrem Tod ging nämlich vieles davon in Erfüllung, was Franz von Sales ihr zu Bedenken gab. Sie verlor drei ihrer vier Kinder, ihre engsten Freundinnen starben ebenso wie ihr Bruder und viele Menschen, auf die sie sich stützen konnte. Am meisten davon machte ihr jedoch der Tod des hl. Franz von Sales im Jahre 1622 zu schaffen.
Mehr als drei Jahre hatte Johanna Franziska von Chantal mit dem Bischof Franz von Sales nicht mehr ausführlich über ihr Leben reden können. Viele persönliche Fragen hatten sich in ihr angestaut, da sie sich in ihren Briefen fast ausschließlich mit organisatorischen Angelegenheiten zu ihrem neu gegründeten Orden der Heimsuchung Mariens befassten.
Treffen in Lyon
Seit 1618 ist ihr Orden päpstlich anerkannt. Der Ausbreitung dieser „kleinen Gemeinschaft“, wie Franz von Sales sie gerne nannte, stand damit nichts mehr im Wege. Genau das war die Aufgabe Johannas in den letzten Jahren: die Gründung neuer Klöster. Ihre letzte Gründung war das Kloster in Paris 1619, die nun, Ende des Jahres 1622, so weit gediehen war, dass sie wieder nach Annecy zurückkehren konnte.
Auf halbem Weg in Lyon wollte sie Franz von Sales treffen. Dieser befand sich ebenso auf der Rückreise. Auf Bitte des Herzogs von Sayoyen begleitete er diesen nach Avignon zu einem Fest mit dem französischen König Ludwig XIII. Franz von Sales fühlte sich krank und wünschte, von dieser anstrengenden Reise befreit zu werden. Der Wille des Herzogs aber ließ ihm keine andere Wahl. In Lyon, so war es der Plan des Bischofs, wollte er zusammen mit den Heimsuchungsschwestern die Weihnachtsfeiertage verbringen. Anfang Dezember kam er dort an und nahm Quartier im Gärtnerhäuschen des Klosters. Am 12. Dezember endlich blieben ihm einige freie Stunden, um sie mit Johanna Franziska von Chantal zu verbringen.
Die erste Stelle
Johanna Franziska hatte sich aufgrund der gedrängten Zeit schon auf der Fahrt nach Lyon einige Notizen darüber gemacht, was sie mit Franz von Sales in diesen wenigen Stunden besprechen wollte. So viele Fragen über ihren eigenen persönlichen Weg gingen ihr durch den Kopf.
Die Begrüßung war sehr herzlich. Beiden war anzumerken, wie sehr sie sich auf dieses Treffen gefreut hatten. Franz von Sales jedoch wirkte ein wenig müde.
„Nun, meine Mutter“, sagte er zu Johanna Franziska von Chantal, „wie wollen wir die kurze Zeit, die uns jetzt zur Verfügung steht, nützen?“ Johanna Franziska holte ihre Notizen hervor. „Mein Vater, ich habe mir schon einige Fragen aufgeschrieben, die ich mit Ihnen besprechen will. So viele Dinge meines geistlichen Lebens sind mir einfach noch unklar und ich brauche dazu Ihren Rat.“
Franz von Sales sah Johanna Franziska von Chantal einige Zeit schweigend an. „So, “ sagte er, „ich glaube Ihnen gerne, dass sie Vieles im Herzen bewegt, das Sie mit mir besprechen wollen. Und wir können das auch gerne tun, wenn wir beide wieder in Annecy sind. Jetzt aber wollen wir die wichtigen Dinge besprechen, die unsere kleine Gemeinschaft betreffen.“
Mutter Chantal verstand und schluckte ... als Gründerin einer Ordensgemeinschaft stehen ihre persönlichen Anliegen und Probleme nicht mehr an erster Stelle. Es gibt dringlichere Dinge. Sie legte ihre persönlichen Notizen zur Seite und widmete sich dem, was Franz von Sales mit ihr über die Heimsuchungsklöster bereden wollte.
Unter anderem wurde in dieser Stunde die Entscheidung getroffen, dass jedes Heimsuchungskloster selbstständig, also unabhängig vom Kloster in Annecy, und nur dem Heiligen Stuhl und dem Bischof der jeweiligen Diözese unterstellt sein soll. Das Kloster in Annecy sollte jedoch als Gründungskloster immer einen besonderen Stellenwert unter den Heimsuchungsklöstern genießen. Dementsprechend soll es daher keine Generaloberin geben, also eine Oberin, die für alle Heimsuchungsklöster Entscheidungen fällen kann.
Aufbruch
Die etwa vier Stunden waren sehr schnell vergangen. Schon war es wieder Zeit zum Aufbruch. Franz von Sales bat Johanna Franziska von Chantal, noch die neuen Klöster in Grenoble und Valence zu besuchen und auch nach Chambéry zu reisen, um dort eine Neugründung vorzubereiten. Franz von Sales blieb in Lyon. Das Gartenhäuschen sollte der Ort seines Sterbens werden. Dort erlag er am 28. Dezember 1622 den Folgen eines Schlaganfalls. Ihre persönlichen Anliegen musste Johanna Franziska von Chantal in Annecy am Sarg des Franz von Sales besprechen.
Die hl. Johanna Franziska von Chantal erfuhr vom Tod des hl. Franz von Sales am 6. Januar 1623, also mehr als eine Woche nach dem 28. Dezember 1622, an dem der Bischof den Folgen eines Schlaganfalls erlegen war. Die Menschen hatten Angst, es Johanna Franziska früher mitzuteilen. Sie selbst befand sich im Heimsuchungskloster von Belley als sie einen Brief von Jean-Francois de Sales, dem Bruder des Heiligen und Nachfolger im Bischofsamt, ausgehändigt bekam, in dem er ihr den Tod mitteilte.
Namenlose Betrübnis
Johanna Franziska schreibt darüber in einem Brief an ihre Mitschwester Marie Jacqueline Favre:
„Mein Herz war über alle Maßen getroffen. Ich warf mich auf die Knie und betete die göttliche Vorsehung an, in dem ich, so gut ich konnte, den heiligsten Willen Gottes umarmte und meine namenlose Betrübnis in ihm. Ich weinte heftig den noch übrigen Tag, die ganze Nacht bis zur heiligen Kommunion am nächsten Tag.“
Ihrem Bruder André Fremyot, dem Erzbischof von Bourges, schrieb sie:
„Wahrhaftig, noch niemals hat mein Herz eine so große Bitterkeit empfunden, noch niemals hat mein Geist eine so schwere Erschütterung erlebt. Mein Schmerz ist größer, als ich es jemals ausdrücken könnte, und es scheint mir, als würden alle Dinge meine Leiden noch vergrößern und mir neue Pein bringen.“
Der Tod des hl. Franz von Sales war die bitterste Stunde im Leben Johanna Franziskas. Sie hat jenen Menschen verloren, der ihr über achtzehn Jahre lang, von 1604 bis 1622, der vertrauteste Wegbegleiter gewesen ist. An diesem Verlust trug sie so schwer, dass sie sich die nächsten zwanzig Jahre bis zu ihrem eigenen Tod 1641 von diesem Schmerz nur noch durch unermüdliche Arbeit ablenken konnte.
Die Beerdigung
Schon am 7. Januar 1623 begann sie mit dieser Arbeit. Sie kümmerte sich um die Beerdigung für Franz von Sales. Sie legte all ihre Autorität als Gründerin der Heimsuchung in die Waagschale, damit der Leichnam so schnell wie möglich von Lyon nach Annecy überstellt wurde. Es war das einzige Mal in ihrem Leben, dass sie nicht bat, sondern befahl. Der Oberin von Lyon, Marie Aimée de Blonay, schrieb sie:
„Ich kenne ihre aufrichtige Verehrung, aber wir werden das Äußerste tun, um diesen Schatz zu erhalten. Denn aus seinem eigenen Mund weiß ich, dass er in unserem Kloster in Annecy begraben sein wollte. Möge Ihnen daher weder Kraft noch Mut fehlen, um die Ausfolgung des Leichnams zu bewerkstelligen. Handeln Sie ohne Säumen, ich beschwöre Sie, - ja, befehle es Ihnen kraft der Macht, die Gott mir über Sie gegeben hat.“
Am 23. Januar 1623 endlich, ein Monat nach seinem Tod, wurde der Leichnam nach Annecy überführt, wo er am 24. Januar – dem heutigen Festtag – im Heimsuchungskloster zur öffentlichen Verehrung und Verabschiedung aufgebahrt wurde.
Am 29. Januar wurde das feierliche Requiem gehalten und am 30. Januar wurde Franz von Sales beigesetzt. Johanna Franziska selbst verlangte zuvor noch einmal ganz alleine beim Leichnam zu verweilen, um Franz von Sales ihre ganz persönlichen Angelegenheiten mitzuteilen, die sie ihm schon bei ihrem letzten Zusammentreffen am 12. Dezember 1622 in Lyon mitteilen wollte, wozu es aber aus Zeitgründen nicht gekommen ist.
1632 kam es erneut zu einer Begegnung zwischen Johanna Franziska und dem Leichnam des hl. Franz von Sales anlässlich seiner Exhumierung für den Seligsprechungsprozess, bei der man die Unversehrtheit des Leichnams feststellte. Johanna bat den anwesenden Vertreter des Bischofs, er möge ihr die Hand des Franz von Sales auf ihren Kopf legen, damit der Verstorbene sie noch einmal segne, was auch geschah. Später versicherten alle Anwesenden und auch Johanna Franziska selbst, dass sich die Finger der Hand bewegt hätten.
Es ist nicht entscheidend, ob dieses „Wunder“ wahr ist oder nicht, viel wichtiger ist, dass Johanna Franziska von Chantal zeit ihres Lebens am Verlust des Franz von Sales gelitten hat. Ihr ungeheures Arbeitspensum, ihre Reisen von einer Gründung der Heimsuchung zur anderen, ihr unermüdlicher Einsatz für die Pestkranken von Annecy 1629 können sehr wohl als Flucht vor diesem Schmerz gedeutet werden.
Das Versprechen
Johanna Franziska von Chantal starb am 13. Dezember 1641 im Heimsuchungskloster von Moulin im Alter von fast 70 Jahren. Zur selben Zeit sah der hl. Vinzenz von Paul eine kleine Kugel, die wie Feuer leuchtete und sich von der Erde zum Himmel erhob. Dort vereinigte sie sich mit einer anderen Kugel, die ihr entgegengekommen war. Vinzenz spürte dabei, dass dies die Seele Johanna Franzikas sei, die von Franz von Sales in der Ewigkeit empfangen wurde, so wie Franz es ihr noch zu Lebzeiten versprochen hatte. Damit vollendete sich eine der größten und innigstens heiligen Freundschaften der Kirchengeschichte, in der beide einander halfen, zur Vollendung in der Heiligkeit zu gelangen. Franz von Sales wurde 1665 heiliggesprochen und Johanna Franziska von Chantal, die man später oft als französische Teresa von Avila bezeichnete, im Jahr 1767.