Das Vertrauen –

die Tugend, um die Gott uns bittet


Eine Legende erzählt, dass die Engel im Himmel täglich waschkörbeweise die Bitten der Menschen sammeln, sortieren und zu Gott bringen, der sich sorgfältig mit jeder einzelnen Bitte beschäftigt. Eines Tages begannen die Engel darüber zu diskutieren, ob denn dieser ganze Aufwand nötig sei und sich Gott wirklich mit jeder Bitte auseinandersetzen müsse. Zufällig hörte Gott davon. Er kam zu den Engeln und meinte: „Meine lieben Engel, im Grunde habt ihr ja Recht, aber wir müssen mit unseren Menschen viel Geduld haben. Nur manches Mal, wenn ich so die vielen Bitten lese, wünsche ich mir, dass auch ich eine Bitte an die Menschen richten könnte. Ich hätte nur eine einzige Bitte, nämlich, dass mir die Menschen vertrauen.“ Seit dieser Zeit versuchen die Engel den Menschen so gut und so oft wie möglich diesen Wunsch Gottes zu vermitteln: „Gott bittet dich um dein Vertrauen!“

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1.  Das größte Geschenk

Nach dieser Legende ist das Vertrauen die einzige Bitte, die Gott an uns Menschen hat. Damit bringt sie ein wesentliches Element unseres Glaubens und unseres Lebens auf den Punkt. Vertrauen ist im Verhältnis der Menschen zu Gott wie im Verhältnis der Menschen zueinander etwas Grundlegendes – und das im wahrsten Sinne dieses Wortes: Diese Tugend legt den Grund, auf dem Leben und Handeln möglich ist. Denken wir nur an den ganz normalen Alltag. Wie viel Vertrauen schenken wir völlig unbewusst: in der Familie, im Beruf, in unserer Freizeit, im Straßenverkehr, bei der Technik? Was tun wir nicht alles, ohne es zuvor nachgeprüft, abgesichert oder nachgewiesen zu haben. Vertrauen schenkt Lebensqualität. Durch das Vertrauen wird mir eine Menge Arbeit erspart und Belastung abgenommen. Vertrauen zeigt mir, was ich anderen Wert bin, die mir vertrauen, und welchen Wert für mich die anderen haben, denen ich vertraue.
Umgekehrt kann die Erfahrung von Vertrauensmissbrauch Leben zerstören. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ lautet daher ein bekanntes Sprichwort, das dem Vertrauen seinen hohen Wert abspricht und das Misstrauen über das Vertrauen stellt. Dennoch kann man die Tugend des Vertrauens nicht hoch genug schätzen. So schreibt der geistliche Schriftsteller Carlo Caretto (1910-1988) von der Ordensgemeinschaft der Kleinen Brüder Jesu: „Von allen Geschenken, die du jemandem geben könntest, ist das Vertrauen das größte. Auf Gott oder den Menschen vertrauen bedeutet Frieden, Freude, Heiterkeit, Sicherheit, Stärke. Nicht vertrauen bedeutet Einsamkeit, Traurigkeit, Angst.“
Vertrauen ist und bleibt – trotz so mancher Enttäuschungen – eine wichtige Tugend des Lebens, so wichtig, dass der Vertrauensbruch nicht nur lebensfeindlich ist, sondern tatsächlich tödlich sein kann. Jemandem Vertrauen schenken ist etwas sehr Großes. Vertrauen missbrauchen entzieht dem Menschen den Boden seiner Lebenssicherheit.
Weil Vertrauen so wertvoll ist, können wir voll und ganz darauf vertrauen, dass Gott uns dieses Grundgeschenk des Lebens mitgegeben hat. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, diese Tugend in sich wachsen und reifen zu lassen.

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2.  Das Urvertrauen

In der Entwicklungspsychologie wird von „Urvertrauen“ gesprochen, ein Begriff den der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson (1902-1994) einführte. Er meinte, dass jeder Mensch in den ersten Lebensjahren ein Gefühl dafür entwickelt, wem oder was er vertrauen kann. Für die Entwicklung des Kindes und seine Beziehung zur Umwelt ist entscheidend, ob dieses Urvertrauen erfüllt oder missbraucht wird.
Der hl. Franz von Sales (1567-1622) durfte dieses Urvertrauen nicht nur durch seine Eltern und seine Familie, sondern durch Gott selbst erfahren. Nach seiner Glaubenskrise, die er als 19-jähriger Student in Paris erlebte, war er felsenfest davon überzeugt, dass Gott ihn nie in Stich lassen wird, weil dieser Gott die Liebe ist, und Liebe ist der beste Beweis dafür, dass ich jemandem absolut vertrauen kann. Später wird Franz von Sales sagen: „Unmögliches gibt es für mich nicht, wird es auch nie geben, denn ich vertraue auf Gott, er vermag alles“ (DASal 2,79). Diese Einstellung erinnert an die Worte des Apostels Paulus, der an die Philipper schrieb: „Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt“ (Phil 4,13). Franz von Sales wählte als Lebensmotto, das später auch sein Bischofsspruch wurde, die Worte: „Non excidet“ – „er, sie, es wird nicht verloren oder untergehen.“ Es ist ein Motto unerschütterlichen Vertrauens: Ganz egal, was auch geschieht, ich vertraue darauf, dass Gott mich nicht unter- oder verlorengehen lässt.

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3.  Vertrauensmissbrauch

Natürlich war Franz von Sales bewusst, dass Menschen die Erfahrung enttäuschten Vertrauens machen. Solche Enttäuschungen führen zu Pessimismus, Lebensüberdruss und in extremer Form sogar zu Lebensmüdigkeit, die dem Leben selbst ein Ende machen will. Franz von Sales warnt daher in ungewöhnlich scharfer Form davor, das Vertrauen, das andere uns schenken, je zu missbrauchen: „Das Vertrauen ist das Leben der Seele; nimmst du ihr das Vertrauen, so jagst du sie in den Tod“ (DASal 2,42). Missbrauch des Vertrauens tötet, weil der Seele ihr sicheres Lebensfundament entrissen wird.
Franz von Sales weiß ebenso, dass Menschen immer wieder der Meinung sind, Gott selbst hätte ihr Vertrauen in ihm missbraucht und sie enttäuscht, weil er ihnen dieses oder jenes nicht erfüllte, bzw. diese oder jene Enttäuschung, dieses oder jenes Leid zugefügt hätte. Dem widerspricht Franz von Sales vehement. Es ist unmöglich, dass Gott ein ihm geschenktes Vertrauen missbraucht. Wenn es überhaupt jemanden gibt, dem man bedingungslos und blind vertrauen kann, dann Gott ... gerade dann, wenn es im Leben drunter und drüber geht. So folgert Franz von Sales: „Sich Gott anvertrauen in den Annehmlichkeiten und im Frieden des Wohlbefindens, das kann beinahe jeder tun, sich ihm aber hinzugeben inmitten von Stürmen und Gewittern, das ist nur jenen eigenen, die seine Kinder sind“ (DASal 6,227).

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4.  Kindliches Gottvertrauen

Franz von Sales nennt jenes bedingungslose Vertrauen, das wir Gott entgegenbringen sollen, „kindliches Vertrauen“ und wünscht sich damit vom Menschen das, worauf Jesus selbst hinweist: „Amen, das sage ich euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen“ (Mt 18,2). „Kindliches Vertrauen“ in Gott ist der sicherste Weg durch das Leben. Gerade in „Stürmen und Gewittern“, also gerade dann, wenn wir meinen, Gott lasse uns im Stich, sollen wir uns an Gott klammern, so wie sich Kinder an ihre Mütter oder Väter klammern, wenn sie Angst haben. Franz von Sales ist überzeugt: „Ja, Gott verlangt von uns schon ein ganz großes Vertrauen auf sein väterliches Sorgen, auf seine göttliche Vorsehung. Aber warum sollten wir ihm nicht vertrauen, da er doch keinen getäuscht hat? Es hat noch keiner sein Vertrauen auf Gott gesetzt, ohne dafür reiche Frucht zu empfangen.“ (DASal 2,104)
Im Psalm 62, der in der deutschen Einheitsübersetzung mit „Vertrauen auf Gottes Macht und Huld“ betitelt ist, tritt ein Beter zu Tage, der dieses Vertrauen auf Gott sehr schön und für uns Christen richtungsweisend für das Wachsen der Tugend des Vertrauens zum Ausdruck bringt. Wir können diesen Psalm beten, wenn wir an der Macht Gottes zu zweifeln beginnen und ihm nicht mehr jenes Vertrauen schenken können, das er sich so sehr von den Menschen wünscht:

„Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe,
von ihm kommt mir Hilfe.
Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, meine Burg;
darum werde ich nicht wanken …
Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe;
denn von ihm kommt meine Hoffnung.
Bei Gott ist mein Heil, meine Ehre;
Gott ist mein schützender Fels, meine Zuflucht.
Vertrau ihm, Volk (Gottes), zu jeder Zeit!
Schüttet euer Herz vor ihm aus!
Denn Gott ist unsere Zuflucht.“ (Ps 62,2-3.6-9)

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5.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Wem bin ich bereit Vertrauen zu schenken?
  • Lebt in mir ein Urvertrauen auf Gott?
  • Welche Menschen schenken mir ihr Vertrauen und wie gehe ich damit um?

Herbert Winklehner OSFS


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