Zum Fest der Aufnahme Marias
Annecy, 15. August 1602 (OEA VII,439-462; DASal 9,102-121)
Quae est ista quae ascendit de deserto, deliciens affluens, innixa super Dilectum suum? Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, gestützt auf ihren Vielgeliebten? (Hld 8,5).
Die Bundeslade war lange Zeit unter Zelt- und Segeltuch gestanden, als schließlich der große König Salomo sie in dem prächtigen, reich geschmückten Tempel aufstellte, den er für sie gebaut hatte (1 Kön 8). Da war der Jubel in Jerusalem so groß, daß das Blut der Opfertiere in den Straßen floß. Die Luft war erfüllt vom Rauch der vielen Brand und Rauchopfer, die Häuser und Plätze hallten wider von den Hymnen und Psalmen, die überall mit wohlklingenden Instrumenten und Gesang erklangen.
Mein Gott, wenn schon der Empfang der Arche des Alten Bundes so feierlich war, wie müssen wir uns den Einzug der Arche des Neuen Bundes vorstellen, ich meine den Empfang der glorreichsten Jungfrau und Mutter des Gottessohnes am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel! O unfaßbare Freude! O wundervolles Fest, das die frommen Seelen, die wahren Kinder Zions, vor Bewunderung ausrufen läßt: Wer ist jene, die da heraufkommt? Wer ist sie, die aus der Wüste heraufsteigt? Wahrhaftig, Wunderbares ist geschehen: die Mutter des Lebens ist gestorben, die Tote wurde auferweckt und steigt empor zum Ort des Lebens. Und das ist trostvoll: sie ist aufgefahren zur Verherrlichung ihres Sohnes und um in uns eine große Verehrung zu wecken. Das ist in etwa der Gegenstand, meine Zuhörer, den ich vor euch zu behandeln habe. Das kann ich aber nicht gut tun, ohne den Beistand des Heiligen Geistes zu erlangen. Ave Maria.
1. Die seligste Jungfrau blieb nach der Himmelfahrt ihres Sohnes in dieser Welt
Gott schuf am Anfang zwei Leuchten am Himmel: die eine wurde wegen ihres strahlenden Glanzes die große Leuchte genannt, die zweite die kleinere. Die große sollte den Tag erhellen und beherrschen, die kleinere die Nacht (Gen 1,16). Unser Schöpfer wollte, daß Tag und Nacht einander abwechseln und daß die Dunkelheit auf das Licht folge. Da er aber selbst das Licht ist (1 Joh 1,15), wollte er nicht, daß die Dunkelheit der Nacht völlig des Lichtes beraubt sei; nachdem er also die große Leuchte für den Tag geschaffen, schuf er deshalb die kleinere für die Nacht, damit auch die Dunkelheit der Finsternis noch von ihrem Schein durchdrungen und gemildert werde.
Als der gleiche Gott die geistliche Welt seiner Kirche zu erschaffen beschloß, da gab er ihr in seiner heiligen Vorsehung gleichsam am göttlichen Firmament zwei große Leuchten, von denen aber eine größer, die andere kleiner war. Die größere ist sein Sohn Jesus Christus, unser Erlöser und Herr, ein Abgrund des Lichtes, Quelle des Glanzes (Hebr 1,3), die wahre Sonne der Gerechtigkeit (Mt 4,2); die kleinere Leuchte ist die allerseligste Mutter dieses erhabenen Sohnes, die überaus glorreiche Mutter, ganz strahlend und wahrhaftig schöner als der Mond (Hld 6,9).
Als nun das große Licht auf diese Erde niederstieg, der Sohn Gottes, der unsere Menschennatur annahm, wie die wahre Sonne über unserer Hemisphäre aufgeht, da ward es heller Tag. Glückseliger, so ersehnter Tag, der etwa dreißig Jahre dauerte, in denen er das Land der Kirche erleuchtete durch seine Wunder und sein Beispiel, durch die Verkündigung seines heiligen Wortes. Als aber schließlich die Stunde gekommen war, daß diese kostbare Sonne untergehen und ihre Strahlen auf die andere Hemisphäre der Kirche senden sollte, d. h. auf den Himmel und die Scharen der Engel, was konnte man da anderes erwarten als die Finsternis einer dunklen Nacht?
Die Nacht brach auch sogleich an und folgte auf den Tag; denn was waren die großen Trübsale und Verfolgungen, die über die Apostel kamen, anderes als eine Nacht? Aber diese Nacht hatte noch ihre Leuchte, damit ihre Finsternis erträglicher sei; denn die seligste Jungfrau blieb auf Erden bei den Jüngern und Gläubigen. Daran können wir in keiner Weise zweifeln, denn der hl. Lukas bezeugt in der Apostelgeschichte (2,1-4; 1,14), daß Unsere liebe Frau am Pfingstfest mit den Jüngern beisammen war und mit ihnen im Gebet verharrte. Darüber befanden sich manche im Irrtum und glaubten, sie sei mit ihrem Sohn gestorben, weil Simeon ihr vorhergesagt hatte, daß das Schwert ihre Seele durchbohren werde (Lk 2,35). Ich werde die Stelle gleich erklären und werde nach ihrem richtigen Sinn zeigen, daß Unsere liebe Frau nicht mit ihrem Sohn gestorben ist.
Seht also die Gründe, warum ihr Sohn sie nach seiner Himmelfahrt auf dieser Erde bleiben ließ: 1. Diese Leuchte war notwendig zum Trost der Gläubigen in der Nacht der Bedrängnisse. 2. Ihr Verbleiben hier unten gab ihr Gelegenheit, eine Fülle von guten Werken zu tun, so daß man von ihr sagen konnte: Viele Töchter haben Reichtümer gesammelt, du aber hast sie alle übertroffen (Spr 31,29). 3. Gleich nach dem Tod und der Himmelfahrt Unseres Herrn sagten manche Irrlehrer, er hätte keinen natürlichen menschlichen Leib gehabt, sondern einen Scheinleib. Daß seine jungfräuliche Mutter nach ihm auf Erden blieb, war ein sicheres Zeugnis für die Wirklichkeit seiner Menschennatur. So begann sich schon da zu bewahrheiten, was wir von ihr sagen: „Cunctas haereses interemisti“ (Brev.); o Jungfrau, du hast alle Irrlehren zuschanden gemacht und zerstört. Sie lebte also nach dem Tod ihres Lebens, d. h. ihres Sohnes, und nach seiner Himmelfahrt; und sie lebte lange genug, wenn auch die Zahl der Jahre nicht ganz sicher ist; es müssen aber mindestens 15 Jahre gewesen sein, so daß sie das Alter von 63 Jahren erreichte. Ich sage „mindestens“, weil andere mit guten Gründen sagen, daß sie 72 Jahre erreichte; aber das ist nicht wichtig. Für uns genügt es zu wissen, daß diese heilige Arche des Neuen Bundes nach der Himmelfahrt ihres Sohnes unter Zelten in der Wüste dieser Welt blieb.
2. Sie starb dennoch nach einiger Zeit
So gewiß das ist, ebenso sicher ist es, daß die heilige Jungfrau schließlich gestorben ist. Nicht daß die Heilige Schrift es bezeugte; denn ich finde in der Heiligen Schrift keine Stelle, wo gesagt würde, daß die seligste Jungfrau gestorben ist. Einzig die kirchliche Überlieferung versichert uns das und die heilige Kirche, die es in der heutigen Festmesse bestätigt.
Richtig ist, daß uns die Heilige Schrift in allgemeinen Ausdrücken belehrt, daß alle Menschen sterben, und es gibt keinen, der vom Gesetz des Todes ausgenommen wäre. Sie sagt aber nicht, daß alle Menschen gestorben sind, noch daß alle, die gelebt haben, schon gestorben sind. Sie nimmt im Gegenteil einzelne davon aus, so Elija, der ohne zu sterben auf dem feurigen Wagen entführt wurde (2 Kön 2,11), und Henoch, der vom Herrn hinweggerafft wurde, ehe er den Tod verkostete (Gen 5,24; Hebr 11,5). Ich halte das auch vom heiligen Evangelisten nach dem Wort Gottes (Joh 21,22) für wahrscheinlich, wie ich euch kürzlich an seinem Fest im Mai erklärt habe. Diese drei Heiligen sind nicht gestorben, sie sind dennoch vom Gesetz des Todes nicht ausgenommen; denn obwohl sie nicht gestorben sind, werden sie am Ende der Zeit unter der Verfolgung des Antichrist sterben, wie in der Geheimen Offenbarung (11,7) deutlich wird.
Warum sollte man das gleiche nicht auch von der Mutter Gottes annehmen, nämlich daß sie nicht gestorben sei, daß sie aber hernach sterben werde? Gewiß, wenn jemand diese Meinung vertreten wollte, könnte man ihn nicht durch die Heilige Schrift widerlegen, und nach euren Grundsätzen, ihr Gegner der katholischen Kirche, stünde er auf sicherem Boden. In Wirklichkeit ist sie aber ebenso wie ihr Sohn und Erlöser gestorben und verschieden. Wenn man das auch nicht aus der Heiligen Schrift beweisen kann, so bestätigen es doch die Überlieferung und die Kirche als unfehlbare Zeugen.
Da wir also sicher sind, daß sie gestorben ist, bitte ich euch zu erwägen, welchen Todes sie starb. Welche Todesart war so verwegen, daß sie es wagte, die Mutter des Lebens anzufallen, sie, deren Sohn den Tod überwunden hat und seine Macht, die in der Sünde besteht (1 Kor 15,55f)? Merkt gut auf, meine teuersten Zuhörer, denn diese Frage ist beachtenswert. Die Frage werde ich rasch beantwortet haben, aber es wird nicht leicht sein, die Antwort gut zu begründen und zu erklären.
3. Sie starb des gleichen Todes wie ihr Sohn
Meine Antwort ist kurz die: Unsere liebe Frau, die Mutter Gottes, ist des gleichen Todes wie ihr Sohn gestorben. Der tiefste Grund dafür liegt darin, daß sie nur das gleiche Leben mit ihm besaß; sie konnte also nur des gleichen Todes sterben. Sie lebte nur vom Leben ihres Sohnes; wie hätte sie also eines anderen Todes sterben können als des seinen? Unser Herr und Unsere liebe Frau waren wirklich zwei Personen, aber ein Herz und eine Seele, ein Geist und ein Leben. Das Band der Liebe einte und verband die Christen der Urkirche so eng, daß der hl. Lukas (Apg 4,32) versichert, daß sie nur ein Herz und eine Seele waren; wieviel mehr Grund haben wir, zu sagen und zu glauben, daß der Sohn und seine Mutter, Unser Herr und Unsere liebe Frau, nur eine Seele und ein Leben waren!
Hört, was der große heilige Apostel Paulus sagt. Er fühlte eine so starke Vereinigung und Verbindung der Liebe zwischen seinem Meister und sich, daß er bekannte, er habe kein anderes Leben als das des Erlösers: Vivo ego ... Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Jesus Christus lebt in mir (Gal 2,20). Meine Zuhörer, groß war die Einheit, die Verschmelzung und Vereinigung der Herzen, die den hl. Paulus solche Worte gebrauchen ließ; sie ist aber nicht zu vergleichen mit jener, die zwischen dem Herzen des Sohnes Jesus und dem seiner Mutter Maria bestand. Denn die Liebe, die Unsere liebe Frau zu ihrem Sohn hegte, übertrifft um soviel jene, die der hl. Paulus für seinen Meister empfand, als die Namen Mutter und Sohn an Wesen der Zuneigung die Namen Herr und Diener übertreffen. Wenn deshalb der hl. Paulus nur vom Leben Unseres Herrn lebte, so lebte auch Unsere liebe Frau nur aus demselben Leben, aber noch wesentlicher.
Lebte sie aus seinem Leben, so ist sie auch an seinem Tod gestorben. Gewiß, der greise Simeon hat lange Zeit vorher Unserer lieben Frau diese Todesart vorhergesagt, als er ihr Kind auf seinen Armen trug und zu ihr sagte: Tuam ipsius animam pertransibit gladius; deine Seele wird vom Schwert durchbohrt; das Schwert wird deine Seele durchdringen (Lk2,35). Erwägen wir diese Worte. Er sagt nicht: „Das Schwert wird deinen Leib durchbohren“, sondern er sagt: „deine Seele“. Welche Seele? „Deine eigene Seele“, sagt der Prophet. Die Seele Unserer lieben Frau mußte also durchbohrt werden; aber durch welche Klinge, welches Messer? Das sagt der Prophet nicht. Da es sich aber um die Seele handelt, nicht um den Leib, kann es sich nicht um ein gegenständliches und stoffliches Schwert handeln, sondern nur um ein geistiges Schwert, das die Seele und den Geist zu erreichen vermochte (Hebr 4,12).
Nun finde ich drei Schwerter, die einen Stoß gegen die Seele führen können: 1. das Schwert des Gotteswortes, das durchdringender ist als ein zweischneidiges Schwert, wie der Apostel (Hebr 4,12) sagt; 2. das Schwert des Schmerzes, das die Kirche in den Worten Simeons ausgesprochen findet, wenn sie sagt: „Deine Seele durchdrang das Schwert des Schmerzes“ (Festmese Sieben Schmerzen). „Durch die Seele voller Trauer, seufzend unter Todesschauer, jetzt das Schwert des Schmerzes ging.“ 3. Das Schwert der Liebe; von ihm spricht Unser Herr: Non veni mittere pacem, sed gladium; ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert (Mt 10,34). Das bedeutet dasselbe, wie wenn er sagt: Ignem veni mittere; ich bin gekommen, Feuer zu bringen (Lk 12,49). Und im Hohelied der Liebe erachtet der Bräutigam die Liebe als ein Schwert, durch das er verwundet wurde, wenn er sagt: Du hast mein Herz verwundet, meine Schwester, meine Braut (Hld4,9). Von diesen drei Schwertern wurde die Seele Unserer lieben Frau beim Tod ihres Sohnes durchbohrt, vor allem vom dritten, das die beiden anderen enthält.
Wenn man einem Gegenstand einen starken und kräftigen Stoß gibt, empfängt diesen alles, was mit ihm in Berührung steht, und erhält den Gegenstoß. Der Leib Unserer lieben Frau war mit dem ihres Sohnes in der Passion nicht in Verbindung; ihre Seele aber war unlösbar verbunden mit der Seele, dem Herzen, dem Leib ihres Sohnes. So bewirkten die Schläge, die der gebenedeite Leib des Erlösers am Kreuz empfing, zwar keineswegs eine Verletzung des Leibes Unserer lieben Frau, aber sie hatten heftige Wirkungen in ihrer Seele zur Folge, durch die sich bewahrheitete, was Simeon vorausgesagt hatte. Die Liebe läßt uns gewöhnlich die Wirkung der Bedrängnisse derer empfinden, die wir lieben: Quis infirmatur, et ego non infirmor? Wer ist krank, ohne daß ich es bin? Wer empfängt einen Stoß, ohne daß ich dessen Wirkung empfände, sagt der heilige Apostel (2 Kor 11,29). Dabei war die Seele des hl. Paulus mit den übrigen Gläubigen nicht so eng verbunden, wie die Seele Unserer lieben Frau mit Unserem Herrn verbunden war; sie stand mit ihm in inniger Verbindung, so eng wie sonst nichts; in Verbindung mit seiner Seele und mit seinem Leib, dessen Ursprung und Wurzel sie als Mutter war. Es ist also nicht verwunderlich, wenn ich sage, daß die Schmerzen des Sohnes die Schmerzen waren, die die Seele der Mutter durchbohrten.
Sagen wir es etwas deutlicher: ein scharf auf einen Menschen abgeschossener Pfeil, der seinen Leib durchbohrt hat, wird auch den treffen, der mit ihm in Berührung und Verbindung steht. Die Seele Unserer lieben Frau war in vollkommener Vereinigung mit der Person ihres Sohnes verbunden, sie haftete an ihr: Anima Jonathae conglutinata est ad animam David, sagt die Heilige Schrift (1 Sam 18,1); die Seele Jonatans war mit der Seele Davids verbunden oder klebte an ihr, so eng war ihre Freundschaft. Die Dornen, die Nägel und die Lanze, die das Haupt, die Hände und Füße, die Seite Unseres Herrn durchbohrten, trafen demnach auch die Seele der Mutter und durchbohrten sie. Folglich kann ich sehr wohl in Wahrheit sagen, heilige Jungfrau, daß deine Seele durchbohrt wurde von der Liebe, vom Schmerz und von den Worten deines Sohnes. Denn was seine Liebe betrifft, wie hat sie dich verwundet, als du den Sohn sterben sahst, der dich so sehr liebte und den du so verehrtest! Was seinen Schmerz betrifft, wie lebhaft hat er dich berührt, alle Lust und Freude, allen Trost tödlich getroffen! Und was seine gleichzeitig so liebevollen und so bitteren Worte betrifft, waren sie ebenso wie die Winde und die Stürme, um deine Liebe und deinen Schmerz zu entfachen und das Schiff deines Herzens voranzutreiben, das im Sturm eines so bitteren Meeres fast zerschellt ist. Die Liebe war der Bogenschütze, denn ohne sie hätte der Schmerz nicht genügend Schwung gehabt, um deine Seele zu treffen; der Schmerz war der Bogen, der die inneren und äußeren Worte wie ebensoviele Pfeile abschoß, die kein anderes Ziel hatten als dein Herz.
Ach, wie konnten so liebevolle Pfeile derart schmerzhaft sein? So verursachen die in Honig getauchten Stachel der Bienen jenen großen Schmerz, die von ihnen gestochen werden, und es scheint, daß die Süße des Honigs den Schmerz des Stichs vergrößert. Es ist wahr, meine Zuhörer, je liebevoller die Worte Unseres Herrn waren, desto schmerzlicher waren sie für seine jungfräuliche Mutter, und sie wären es für uns, wenn wir ihren Sohn liebten. Gibt es ein liebevolleres Wort als jenes, das er zu seiner Mutter und zum hl. Johannes sagte (Joh 19,26f)? Worte, die ein sicheres Zeugnis für das Fortbestehen seiner Liebe und Sorge geben, für seine Anhänglichkeit zur seligsten Jungfrau. Und doch waren diese Worte ohne Zweifel für sie äußerst schmerzlich. Nichts läßt uns das Leid eines Freundes so sehr fühlen wie die Versicherung seiner Liebe.
4. Sie starb trotzdem nicht zugleich mit ihrem Sohn
Aber kommen wir zu unserem Gegenstand zurück. Wir sagten also, daß die Seele Unserer lieben Frau vom Schwert durchbohrt wurde. Und, sagt ihr, starb sie daran? Ich habe schon gesagt, daß einige sehr im Irrtum waren, die das behaupten wollten. Die Heilige Schrift bezeugt, daß sie am Pfingstfest noch lebte und mit den Aposteln im Gebet und in Gemeinschaft verharrte. Ich habe weiterhin gesagt, daß sie nach der Überlieferung hernach noch einige Jahre gelebt hat. Doch hört bitte: Kommt es nicht oft vor, daß eine Hindin vom Jäger angeschossen wird und, obwohl getroffen und verwundet, entflieht und mehrere Tage später weit von dem Ort entfernt stirbt, wo sie angeschossen wurde? So wurde Unsere liebe Frau gewiß verwundet und getroffen vom Pfeil des Schmerzes bei der Passion ihres Sohnes auf dem Kalvarienberg; sie starb dennoch nicht sogleich, sondern trug ihre Wunde längere Zeit, an der sie schließlich starb. O liebevolle Wunde, Verwundung durch die Liebe! Wie bist du geliebt und liebevoll gehegt worden von dem Herzen, das du verwundet hast.
Aristoteles berichtet, daß die wilden Ziegen Kretas (Plinius sagt dasselbe von den Hirschen) eine schlaue List anwenden oder vielmehr einen bewundernswerten Instinkt haben: wenn sie von einem Pfeil getroffen sind, bedienen sie sich eines Baumharzes, mit dessen Hilfe der Pfeil ausgestoßen und aus dem Körper entfernt wird. Welcher Christ würde nicht manchmal vom Pfeil der Passion des Erlösers getroffen? Welches Herz wäre nicht gerührt, wenn es seinen Erlöser betrachtet, der gegeißelt, gefoltert, gefesselt, angenagelt, mit Dornen gekrönt und gekreuzigt wurde? Aber ich weiß nicht, ob ich es sagen soll, daß die Mehrzahl der Christen den Kretern gleicht, von denen der Apostel sagt: Cretenses mendaces, ventres pigri, malae bestiae; die Kreter sind Lügner, faule Bäuche, schlimme Bestien (Tim 1,12, nach Epimenides). Zum mindesten kann ich wohl sagen, daß viele den wilden Ziegen Kretas gleichen; denn wenn ihre Seele von der Passion des Erlösers getroffen und verwundet wird, nehmen sie sogleich ihre Zuflucht zum Baumharz weltlicher Tröstungen, durch das die Pfeile der göttlichen Liebe aus ihrem Gedächtnis entfernt und verdrängt werden. Als sich dagegen die seligste Jungfrau verwundet fühlte, pflegte und hütete sie die Geschoße sorgsam, von denen sie durchbohrt wurde, und wollte sie nicht entfernen. Das war ihr Ruhm, das war ihr Triumph, und so sehnte sie sich danach, an ihnen zu sterben, und starb schließlich daran. So starb sie am Tod ihres Sohnes, obwohl sie daran nicht sogleich starb.
5. Unser Herr starb aus Liebe
Hier müssen wir etwas verweilen; das ist nach meiner Ansicht günstig. Unsere liebe Frau starb des Todes ihres Sohnes; welchen Todes aber starb ihr Sohn? Hier schlagen von neuem Flammen der Liebe empor, meine Christen. Unser Herr litt unsagbar in seiner Seele und an seinem Leib; für seine Leiden gibt es keinen Vergleich in dieser Welt. Seht die Bedrängnisse seines Herzens, seht die Schmerzen seines Leibes, ich bitte euch; beachtet es und seht, ob es einen Schmerz gibt, der dem seinen gleicht (Klgl 1,12). Dennoch vermochten ihn alle seine Schmerzen nicht zu töten, alle seine Bedrängnisse, alle Schläge mit der Hand, mit dem Rohr und den Dornen, mit der Geißel und dem Hammer, der Stich der Lanze. Der Tod hatte nicht Kraft genug, um Sieger über dieses Leben zu werden; es war ihm unerreichbar. Wie starb er dann?
Ihr Christen, die Liebe ist stark wie der Tod; fortis ut mors dilectio (Hld 8,6). Die Liebe verlangte, daß der Tod bei Unserem Herrn eintrat, damit sie sich durch seinen Tod auf alle Menschen ausbreiten konnte. Der Tod wollte bei ihm eintreten, aber er vermochte es nicht aus sich selbst. Er wartete auf die günstige Stunde, die glückliche Stunde für uns, in der die Liebe ihn eintreten ließ und ihm Unseren Herrn an Händen und Füßen angenagelt auslieferte. Was der Tod nicht vermochte, unternimmt die Liebe, die stark ist wie er, und vollbringt es. Er ist aus Liebe gestorben, der Erlöser meiner Seele. Der Tod vermochte hier nichts, außer mit Hilfe der Liebe: Er wurde geopfert, weil er selbst es wollte (Jes 53,7).
Es geschah aus eigenem Entschluß, daß er starb, nicht durch die Macht des Bösen: Ich setze mein Leben ein; niemand nimmt es mir, sondern ich gebe es hin (Joh 10,17f). Jeder andere Mensch wäre an so vielen Schmerzen gestorben, aber Unser Herr, der die Schlüssel des Todes (Offb 1,18) und des Lebens in seiner Hand hielt, hätte jederzeit die Anstrengungen des Todes und die Wirkungen der Schmerzen ausschalten können. Doch nein, er wollte es nicht. Die Liebe, die uns bedrängt wie eine Delila, raubte ihm all seine Kraft (Ri 16,19) und ließ ihn freiwillig sterben. Deshalb heißt es nicht, daß sein Geist ihn verlassen hätte, sondern daß er ihn hingab: Emisit spiritum (Mt 27,50; Joh 19,30). Der hl. Athanasius weist darauf hin, daß er das Haupt senkte, bevor er starb: Inclinato capite, emisit spiritum, um den Tod herbeizurufen, der sich sonst nicht zu nahen gewagt hätte. Das ließ ihn´sterbend mit lauter Stimme rufen, um zu zeigen, daß er Kraft genug besaß, um nicht sterben zu müssen, wenn es ihm so gefiele. Die Erklärung gibt er selbst: Niemand hat eine größere Liebe, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde (Joh 15,13).
Er ist also aus Liebe gestorben. Dadurch wurde sein Opfer am Kreuz ein Brandopfer, weil er vom unsichtbaren aber um so heißeren Feuer seiner göttlichen Liebe verzehrt wurde. Sie machte ihn zum Opferpriester, nicht die Juden oder die Heiden, die ihn kreuzigten, zumal sie ihm durch alles, was sie taten, den Tod nicht beifügen konnten, wenn nicht seine Liebe die letzte Wirkung erlaubt und befohlen hätte durch den erhabensten Akt der Liebe, den es je gab. Denn alle Martern wären erfolglos geblieben, wenn ihnen nicht die Liebe den Sieg über sein Leben hätte erlauben und ihnen Macht darüber geben wollen: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre (Joh 19,11).
6. Folglich starb auch Unsere liebe Frau aus Liebe
Da also feststeht, daß der Sohn aus Liebe gestorben ist und daß die Mutter des Todes ihres Sohnes starb, kann man nicht daran zweifeln, daß die Mutter aus Liebe gestorben ist. Aber wie ist das geschehen? Ihr habt gesehen, daß sie auf dem Kalvarienberg eine Liebeswunde empfing, als sie ihren Sohn sterben sah. Von da an bedrängte sie die Liebe so stark, fühlte sie solche Schmerzen, brannte diese Wunde so sehr, daß sie schließlich daran sterben mußte. Sie kannte nur noch die Sehnsucht; ihr Leben bestand nur aus Ohnmachten und Verzückungen; sie schmolz innerlich durch solche Glut, daß sie mit vollem Recht sagen konnte: Stipate me floribus, fulcite me malis, quia amore langueo; stärkt mich mit Blütenduft, erquickt mich mit Äpfeln, denn ich bin krank vor Liebe (Hld 2,5). Amnon wurde von schändlicher Liebe zu Tamar erfaßt und davon so krank, daß man ihn abmagern und hinsiechen sah (2 Sam 13). O, die göttliche Liebe ist noch viel wirksamer und mächtiger! Ihr Ziel und ihr Ursprung sind viel größer. Deshalb ist es nichts Außergewöhnliches, wenn ich sage, daß Unsere liebe Frau an ihr starb. Sie trug in ihrem Herzen ständig die Wunden ihres Sohnes. Einige Zeit trug sie das, ohne zu sterben, aber schließlich starb sie, ohne zu leiden. O amor vulneris, o vulnus amoris! O Leiden der Liebe, o Liebe der Passion!
Ach, ihr Schatz, d. h. ihr Sohn war im Himmel; ihr Herz war also nicht mehr in ihr. Dort war der Leib, den sie so sehr liebte, Bein von ihrem Bein, Fleisch von ihrem Fleisch (Gen 2,23); dorthin flog dieser heilige Adler: Wo immer ein Leib ist, dort sammeln sich die Adler (Mt 24,28). Mit einem Wort, ihr Herz, ihre Seele, ihr Leben war im Himmel; wie hätte sie auf Erden bleiben können? Nach so oftmaligem Aufschwung des Geistes, nach so vielen Entrückungen und Ekstasen wurde schließlich diese Burg der Reinheit, diese Festung der Demut, nachdem sie auf wunderbare Weise abertausend Stürmen der Liebe standgehalten hatte, in einem letzten Generalangriff eingenommen und erobert. Die Liebe, die als Siegerin diese schöne Seele als ihre Gefangene entführte, ließ im heiligen Leib den bleichen, kalten Tod zurück. Tod, was tust du in diesem Leib? Glaubst du ihn behalten zu können?
Denkst du nicht daran, daß der Sohn dieser Frau, deren Leib du besitzest, dich besiegt, dich überwunden und zu seinem Sklaven gemacht hat? Nein, es wird nie geschehen, daß er dir den Ruhm dieses Sieges läßt. Du wirst bald ebenso schmachvoll abziehen, wie du jetzt stolz bist, und die Liebe, die dich in einem gewissen Übermaß an diesen heiligen Ort brachte, wird sehr bald zu sich kommen und dir den Besitz wieder nehmen.
Der Phönix stirbt durch das Feuer; die seligste Jungfrau starb an der Liebe. Der Phönix trägt Holz von wohlriechenden Bäumen zusammen und bringt sie auf den Gipfel eines Berges; auf diesem Holzstoß schlägt er so stark mit den Flügeln, daß sich dadurch an den Strahlen der Sonne das Feuer entzündet (Plinius, Hist. nat. X, 2). Die seligste Jungfrau sammelte in ihrem Herzen das Kreuz, die Dornenkrone und die Lanze Unseres Herrn und legte sie auf den Gipfel ihres Geistes. Durch ständige Betrachtung bewirkte sie eine starke Bewegung über diesem Scheiterhaufen, und von den Lichtstrahlen ihres Sohnes ging das Feuer aus. Der Phönix starb in jenem Feuer, die seligste Jungfrau in diesem, und man kann nicht daran zweifeln, daß sie ihrem Herzen die Leidenswerkzeuge eingeprägt hatte. Wenn schon so viele Jungfrauen, wie die hl. Katharina von Siena und die hl. Klara von Montefalco, diese Gnade hatten, warum nicht Unsere liebe Frau, die ihren Sohn, seinen Tod und sein Kreuz unvergleichlich mehr liebte, als alle Heiligen es je vermochten? So war sie nichts als Liebe. In unserer Sprache bedeutet das Anagramm für Maria nichts anderes als „lieben“: aimer ist soviel wie Marie; Maria, das heißt lieben. Geh hin, schöner Phönix, brennend und sterbend vor Liebe; schlafe in Frieden auf dem Lager der Liebe!
7. Aber sie wurde bald darauf auferweckt
So starb also die Mutter des Lebens. Doch wie der Phönix bald nach seinem Tod aufersteht und ein neues, glücklicheres Leben wiedergewinnt, so blieb auch die seligste Jungfrau nicht lange (höchstens drei Tage) tot, bis sie auferweckt wurde. Ihr Leib wurde nach ihrem Tod nicht dem Verfall ausgeliefert; der Leib, der während ihres heiligen Lebens nie der Verderbnis ausgesetzt war. Die Verwesung hatte keine Macht über solche Unversehrtheit; diese Bundeslade bestand aus unverweslichem Holz der Akazie wie jene des Alten Bundes (Ex 25,10). Das gleiche glaubt man von den Leibern des Elija und Henoch; wie es in der Geheimen Offenbarung (11,7-11) heißt, werden sie sterben, aber nur für drei Tage, ohne zu verwesen.
Wieviel mehr gilt das von der seligsten Jungfrau, deren unbefleckter Leib mit dem des Erlösers so innig verbunden ist, daß man sich keinerlei Unvollkommenheit an dem einen vorstellen kann, die nicht auf den anderen zurückfiele und ihn entehrte. Staub bist du, und zum Staub wirst du zurückkehren, wurde dem ersten Adam und der ersten Eva gesagt (Gen 3,19); auf den zweiten Adam und die zweite Eva trifft das nicht zu. Das ist gewiß ein allgemeines Gesetz, aber nicht ohne Ausnahme, wie ich von Elija und Henoch gezeigt habe. Die Stadt Jericho wurde vollständig geplündert und verwüstet, aber das Haus der Rahab wurde von der Plünderung ausgenommen und verschont, weil sie die Kundschafter des großen Josua eine Nacht beherbergt hatte (Jos 6,24f). Die Welt und alle ihre Bewohner sind dem Untergang als Raub des Weltbrandes verfallen; aber halten wir es nicht für gerecht, daß Unsere liebe Frau und ihr Leib davon ausgenommen sind? Der Leib, der nicht Botschafter aufnahm und beherbergte, sondern den wahren Josua selbst, den wirklichen Jesus, und nicht für eine Nacht, sondern viel länger: selig der Leib, selig die Brust (Lk 11, 27). Unser Leib wird eine Beute der Würmer; sie hatten aber Scheu vor jenem, aus dem der Leib ihres Schöpfers hervorgegangen ist.
Der Priester Abjatar hatte am Aufstand des Adonija teilgenommen, war dabei entdeckt und gefangen genommen worden: Du müßtest sterben, sagte Salomo zu ihm: aber weil du vor meinem Vater die Bundeslade getragen hast, sollst du nicht sterben (1 Kön 2,26). Gewiß, nach dem allgemeinen Gesetz sollte die seligste Jungfrau nicht vor dem Tag der allgemeinen Auferstehung auferweckt werden und ebenso nicht vor der Verwesung verschont bleiben. Aber die Ehre, vor dem ewigen Vater nicht die Bundeslade, sondern den eingeborenen Sohn zu tragen, den Heiland und Erlöser, das machte sie erhaben über die Gesetze. Ist es nicht wahr, daß unbeschadet dieser Gesetze am Tag der Auferstehung (Christi) viele auferweckt wurden? Viele Leiber der Heiligen, die entschlafen waren, standen auf (Mt 27,52). Warum dann nicht die seligste Jungfrau? Ihr dürfen wir dem großen Anselm zufolge keinen Vorzug und keine Ehre absprechen, die irgendeinem einfachen Geschöpf zuteil wurden.
Wenn man mich schließlich bedrängt, um zu erfahren, welche Gewißheit wir über die Auferweckung der seligsten Jungfrau haben, so antworte ich, daß wir darüber genau die gleiche Gewißheit haben wie über ihren Tod. Die Heilige Schrift, die weder der einen noch der anderen dieser beiden Wahrheiten widerspricht, bestätigt weder die eine noch die andere durch ausdrückliche Worte. Aber die heilige Überlieferung, die uns lehrt, daß sie gestorben ist, lehrt uns mit gleicher Sicherheit, daß sie auferweckt wurde. Wenn jemand die Glaubwürdigkeit der Überlieferung bezüglich der Auferweckung bestreitet, dann kann er auch den nicht überzeugen, der das gleiche bezüglich des Todes und Hinscheidens tut. Wir Christen aber glauben, bekennen und verkünden, daß sie gestorben ist und bald darauf auferweckt wurde, weil die Überlieferung das berichtet, weil die Kirche dafür Zeugnis gibt. Wenn jemand widersprechen will, können wir ihm antworten: Si quis videtur contentiosus esse, nos talem consuetudinem non habemus, neque Ecclesia Dei; Will aber einer unbedingt recht haben, wir haben eine solche Gewohnheit nicht, ebenso nicht die Kirche Gottes(1 Kor 11,16).
8. Und sie stieg zum Himmel empor
Nun genügt es nicht zu glauben, daß sie auferweckt wurde, wie wir auch in unserer Seele daran festhalten, daß sie nicht auferweckt wurde, um noch einmal zu sterben, wie Lazarus, sondern um ihrem Sohn in den Himmel zu folgen, wie jene, die auferweckt wurden am Tag der Auferstehung Unseres Herrn (Mt 27,52). Der Sohn, der seinen Leib und sein Fleisch von seiner Mutter empfing, als er in diese Welt kam, ließ nicht zu, daß seine Mutter hier auf Erden blieb, weder dem Leib noch der Seele nach. Bald nachdem sie dem Tod den allgemeinen Tribut geleistet hatte, holte er sie vielmehr zu sich in das Reich seines heiligen Paradieses. Dafür legt die Kirche Zeugnis ab, wenn sie dieses Fest der Aufnahme feiert und sich dabei auf die gleiche Überlieferung stützt, durch die sie die Gewißheit von ihrem Tod und ihrer Auferwekkung hat.
Gewiß, die Störche haben eine natürliche Liebe zu ihren Eltern, die schon alt und hinfällig sind. Sobald die Härte der Jahreszeit sie zwingt, in wärmere Gegenden zu ziehen, nehmen sie die Eltern, laden sie sich auf und tragen sie auf ihren Schwingen, um in etwa die Wohltat zu vergelten, die sie während ihrer Aufzucht empfangen haben. Unser Herr hat seinen Leib aus dem seiner Mutter empfangen, sie hat ihn lange Zeit in ihrem heiligen Schoß getragen, auf ihren keuschen Armen, selbst als sie wegen der grausamen Verfolgung nach Ägypten fliehen und dort Zuflucht suchen mußten. Herr, sagt der himmlische Hofstaat nach dem Tod der seligsten Jungfrau, erhebe dich nach dem Gebot, das du gegeben (Ps 7,7). Du hast den Kindern geboten, ihren Vätern im Alter beizustehen, und hast dieses Gebot der Natur so tief eingeprägt, daß es sogar die Störche befolgen. Erhebe dich nach dem Gebot, das du gegeben hast, und laß nicht zu, daß der Leib, der dich unversehrt geboren hat, jetzt durch den Tod der Verwesung ausgeliefert werde. Erwecke ihn vielmehr, setze ihn auf die Schwingen deiner Macht und Güte, um ihn aus der Wüste der Welt dort unten an diesen Ort unsterblicher Glückseligkeit zu versetzen. Ohne Zweifel wollte der Erlöser dieses Gebot, das er allen Kindern gab, vollkommener erfüllen, als man sich vorstellen kann. Welches Kind würde nicht seine vielgeliebte Mutter wiedererwecken, wenn es das könnte, und sie nach ihrem Tod in das Paradies versetzen? Die Mutter Gottes starb aus Liebe; die Liebe ihres Sohnes hat sie auferweckt. Bei dieser Erwägung, die vollkommen der Vernunft entspricht, wie ihr seht, sagen wir heute: Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, voll der Wonnen, gestützt auf ihren Vielgeliebten? Das ist der Gegenstand unseres Festes und der Grund für den großen Jubel, mit dem alle Heiligen der streitenden und triumphierenden Kirche es feiern.
Als der Patriarch Josef seinen lieben Vater Jakob im Königreich Ägypten am Hof des Pharao empfing (Gen 47,7), kamen ihm ohne Zweifel über den freundlichen Empfang hinaus, den ihm der König selbst bereitete, die Vornehmsten des Hofstaates entgegen und bezeugten ihm auf jede Weise eine große Freude. Wie könnten wir zweifeln, daß beim Empfang der allerseligsten Mutter des Erlösers alle Engel ein Fest feierten und ihre Ankunft mit jeder Art von Freudengesängen begingen. Mit ihnen vereinigen wir unsere Glückwünsche und müssen wir ein großes Fest begehen mit Liedern und Triumphgesängen: Wer ist jene, die heraufkommt aus der Wüste, überreich an Wonne?
9. voll der Verdienste und Gnaden
Ihr Einzug war auch der schönste und großartigste, der nach dem des Sohnes je im Himmel gesehen wurde; denn welche Seele wäre je empfangen worden, so erfüllt von Vollkommenheiten, so reich geschmückt mit Tugenden und Vorzügen? Sie kommt herauf aus der Wüste der geringen Welt, trotzdem aber so duftend von geistlichen Gaben, daß der Himmel, abgesehen von der Person ihres Sohnes, nichts Vergleichbares besitzt. Sie steigt auf wie die Rauchwolke aus aromatischer Myrrhe und Weihrauch. Wer ist jene, sagt das Hohelied (3,6), die aus der Wüste aufsteigt wie eine Rauchsäule, duftend von Myrrhe und Weihrauch, von Spezereien aller Art? Wie ihr wißt, kam die Königin von Saba den König Salomo besuchen, um seine Weisheit und die vorzügliche Ordnung seines Hofes zu sehen. Bei ihrer Ankunft schenkte sie ihm eine große Menge Goldes, von Spezereien und kostbaren Steinen. Nie wurden so viele Gewürze gebracht, wie die Königin von Saba dem König Salomo schenkte (1 Kön 10,1.2.10). Als aber die seligste Jungfrau in den Himmel an den Hof ihres Sohnes aufstieg, brachte sie so viel Gold der Liebe, so viele Wohlgerüche der Frömmigkeit und Tugend mit, so viele kostbare Steine der Ausdauer im Leid, das sie für seinen Namen ertragen hatte, dies alles in Verdienste umgewandelt, so daß man mit Recht sagen kann: Nie wurde davon so viel in den Himmel gebracht, nie wurde so viel davon ihrem Sohn dargebracht wie von dieser heiligen Frau.
Wollt ihr in dieser Lehre klar sehen? Ihr müßt wissen, daß es niemand gibt, der so früh wie Unsere liebe Frau begonnen hat, gute Werke zu vollbringen, und es so eifrig fortsetzte. Denn was uns betrifft, wir beginnen sehr spät, sie zu tun, und wenn wir sie tun, verlieren wir sie sehr oft durch die Sünde und halten nicht durch. So kommt nicht viel an Verdiensten zusammen; denn wenn wir auch auf gut Glück einige Silberlinge sammeln, so geschieht das nur manchmal, und sehr oft verspielen und vertun wir unser Geld auf einen Schlag durch die Sünde. Und obwohl wir durch die Buße wiederhergestellt werden, seht ihr doch, daß in unserem Tun keine rechte Ordnung ist, denn wir verlieren viel Zeit. Auch sind unsere Anstrengungen nach der Sünde und selbst nach der Buße geschwächt, so daß unser Gewinn nicht groß sein kann. Doch sprechen wir von den Vollkommeneren. Selbst der hl. Johannes der Täufer, euer großer Patron, meine Zuhörer, war nicht ausgenommen von der läßlichen Sünde. Die läßliche Sünde verzögert jedoch unsere Werke, verlangsamt unseren Fortschritt, verhindert unser Vorwärtskommen. Unsere liebe Frau dagegen, die schon bei ihrer Empfängnis voll der Gnade war, hat unablässig Fortschritte gemacht, seit sie den Gebrauch der Vernunft erlangt hatte, und immer mehr zugenommen an Tugenden und Gnaden, so daß sie einen unvergleichlichen Reichtum davon besaß: Multae filiae congregaverunt divitias, sed tu supergressa es universas (Spr 31,29); viele Seelen haben Reichtümer gesammelt, du aber hast sie alle übertroffen.
10. Deshalb wurde ihr der höchste Rang im Himmel zuteil
Wie reich an Wonne wurde sie, da sie so reich an Werken und Taten in dieser Welt war! So wurde ihr der höchste Ehrenplatz unter den Heiligen zuteil. Der Pharao war Josef so gewogen, daß er ihm, als sein Vater in Ägypten eintraf, sagte: Dein Vater und deine Brüder sind zu dir gekommen; Ägypten steht dir zur Verfügung. Laß deinen Vater und deine Brüder auf dem besten Land wohnen (Gen 47,5f). An dem heiligen Tag jedoch, an dem Unsere liebe Frau im Königreich ihres Sohnes ankam müßt ihr euch vorstellen, daß der ewige Vater zu ihm sagte: All meine Herrlichkeit gehört dir (Joh 17,10), mein vielgeliebter Sohn. Deine Mutter ist zu dir gekommen; laß sie den höchsten Rang einnehmen, den besten und vornehmsten Platz in deinem Reich. Daran darf man nicht zweifeln, ihr Christen. Als Unser Herr in diese Welt kam, wählte er den geringsten Rang (Eph 4,9), den es gab, und er fand keinen an Demut geringeren als die seligste Jungfrau. Jetzt versetzt er sie in den höchsten Rang des Himmels durch die Herrlichkeit. Sie gab ihm den Rang nach seinem Wunsch, er gibt ihr nun den Rang nach seiner Liebe und erhebt sie über die Kerubim und Serafim.
11. Alles gereicht zur Verherrlichung ihres Sohnes
Doch wenden wir uns dem letzten Teil des Satzes zu, den wir zum Gegenstand der Betrachtung gewählt haben. Er sagt, die heilige Jungfrau, die überreich an Wonne aus der Wüste heraufkommt, stützt sich auf ihren Vielgeliebten. Das ist das Ergebnis allen Lobes, das die Kirche in rechter Weise den Heiligen und vor allem der seligsten Jungfrau spendet; denn wir bringen es stets zur Ehre ihres Sohnes dar, durch dessen Macht und Wirken sie aufsteigt und die Fülle der Wonne empfangen hat. Habt ihr nicht beachtet, daß die Königin von Saba die vielen Kostbarkeiten, die sie nach Jerusalem brachte, alle Salomo darbrachte? Das gleiche tun alle Heiligen, insbesondere die seligste Jungfrau. Alle ihre Vollkommenheiten und Tugenden, all ihre Glückseligkeit ist dargebracht, bestimmt und ausgerichtet auf die Ehre ihres Sohnes, der deren Wurzel, Urheber und Vollender ist (Hebr 12,3). Gott allein Ehre und Verherrlichung (1 Tim 1,17); darauf geht alles hinaus. Wenn sie heilig ist, wer hat sie geheiligt, wenn nicht ihr Sohn? Wenn sie erlöst ist, wer ist ihr Erlöser, wenn nicht ihr Sohn? Gestützt auf ihren Vielgeliebten. All ihr Glück beruht auf der Barmherzigkeit ihres Sohnes. Wollt ihr, daß Unsere liebe Frau eine Lilie der Reinheit und Unschuld ist? Ja, sie ist es in der Tat; aber diese Lilie hat ihr Weiß vom Blut des Lammes, durch das sie weiß geworden ist wie die Kleider jener, die sie im Blut des Lammes gewaschen haben (Offb 7,14). Wenn ihr sie eine Rose nennt wegen ihrer übergroßen Liebe, so kommt das leuchtende Rot nur vom Blut ihres Sohnes. Wenn ihr sagt, sie ist eine Rauchsäule, lieblich duftend, dann sagt sogleich, daß das Feuer, von dem dieser Rauch aufsteigt, die Liebe ihres Sohnes ist, das Holz sein Kreuz. Mit einem Wort, in allem und durch alles stützt sie sich auf ihren Vielgeliebten. Auf diese Weise muß man eifrig bedacht sein, Jesus Christus zu ehren, ihr Christen, nicht wie die Gegner der Kirche, die den Sohn besser zu ehren glauben, wenn sie der Mutter die gebührende Ehrung verweigern. Dabei läßt im Gegenteil die der Mutter erwiesene Ehre, da sie auf den Sohn zurückgeführt wird, den Ruhm seines Erbarmens großartiger erstrahlen.
Um die Richtigkeit der Absicht der Kirche zu beweisen, die sie bei der Verehrung der seligsten Jungfrau hat, will ich euch zwei gegensätzliche Irrlehren zeigen, die im Widerspruch zur echten Verehrung Unserer lieben Frau standen; die eine durch Übertreibung, da sie Unsere liebe Frau als Himmelsgöttin bezeichnete und ihr Opfer darbrachte; das wurde von den Kollyridianern behauptet; die andere durch zu wenig, da sie die Verehrung der seligsten Jungfrau durch die Katholiken verwarf; das waren die Antidikomarianiten. Die Verrückten bilden stets die Extreme und sind einander entgegengesetzt. Die Kirche, die stets die königliche Straße zieht und den Mittelweg der Tugend einhält, bekämpft die einen nicht weniger als die anderen. Gegen die einen stellt sie fest, daß die seligste Jungfrau nur ein Geschöpf ist und man ihr folglich keinerlei Opfer darbringen darf; gegen die anderen hält sie daran fest, daß der heiligen Jungfrau, weil sie die Mutter des Gottessohnes war, eine besondere Verehrung zuerkannt werden muß, die unendlich unter der ihres Sohnes steht, die aller anderen Heiligen aber weit übertrifft. Den einen hält sie entgegen, daß die seligste Jungfrau ein Geschöpf ist, aber so heilig und vollkommen, so innig verbunden, vereinigt und eins mit ihrem Sohn, so sehr und innig geliebt von Gott, daß man den Sohn nicht recht lieben kann, wenn man nicht um seiner Liebe willen die Mutter überaus liebt und wenn man nicht um der Ehre des Sohnes willen die Mutter in besonderer Weise ehrt. Den anderen aber sagt sie: Das Opfer ist die höchste Verehrung der Anbetung, die man nur dem Schöpfer erweisen darf. Seht ihr nicht, daß die seligste Jungfrau nicht die Schöpferin ist, sondern nur ein Geschöpf, wenn auch ein ganz ausgezeichnetes?
Ich meinerseits pflege zu sagen, daß die seligste Jungfrau gewissermaßen mehr Geschöpf Gottes und seines Sohnes ist als die übrige Welt. Gott hat ja in ihr viel mehr Vollkommenheiten geschaffen als in den übrigen Geschöpfen, denn sie wurde vollkommener erlöst als die übrigen Menschen, weil sie nicht nur von der Erbschuld erlöst wurde, sondern auch von der Neigung zur Sünde und davon, sündigen zu können. Einem Menschen, der Sklave werden soll, die Freiheit erkaufen, bevor er versklavt wird, ist eine größere Gnade, als ihn loszukaufen, nachdem er gefesselt wurde. Wir sind weit davon entfernt, daß wir den Sohn mit der Mutter völlig gleichsetzen wollten, wie die Gegner glauben oder zu glauben vorgeben, um es dem Volk einzureden. Kurz gesagt, wir nennen sie schön, aber schön wie der Mond (Hld 6,9), der sein Licht von der Sonne empfängt, denn sie empfängt ihre Ehre von der ihres Sohnes. Der Aspalatusstrauch, sagt Plinius (Hist. nat. XII, 24), ist an sich nicht wohlriechend; sobald ihn aber der Regenbogen berührt, verleiht er ihm einen unvergleichlich süßen Duft. Die seligste Jungfrau war der brennende aber unversehrte Dornbusch, den Mose sah (Ex 3,2): Als Dornbusch, den Mose unversehrt sah, erkennen wir deine heilige Jungfräulichkeit, sagt die Kirche im Brevier. In der Tat, aus sich wäre sie keiner Verehrung würdig, sie wäre ohne Duft. Nun kam aber der große Himmelsbogen, das große Zeichen der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen (Gen 9,13-17), um sich allmählich auf diesen Dornbusch niederzulassen, zuerst durch die Gnade ihrer unbefleckten Empfängnis, dann durch die Menschwerdung, als er ganz ihr Sohn wurde und sich in ihrem kostbaren Schoß barg. Dadurch wurde der Wohlgeruch so groß, daß keine andere Pflanze je einen solchen hat; ein Duft, der Gott so angenehm ist, daß die Gebete, die ihn angenommen haben, niemals zurückgewiesen werden und nie vergeblich sind. Aber die Ehre dafür fällt auf den Sohn zurück, von dem sie den Duft empfangen hat.
Ihr Sohn ist unser Fürsprecher, sie unsere Fürsprecherin, aber in ganz anderer Weise; das habe ich schon oft gesagt. Der Erlöser ist Anwalt von Rechts wegen, denn er tritt für uns ein, indem er Rechtsgründe in unserer Sache vorbringt. Er legt die Beweise vor, die nichts anderes sind als seine Erlösung, als sein Blut und sein Kreuz. Er bekennt vor seinem Vater, daß wir Schuldner sind, aber er weist nach, daß er die Schuld für uns bezahlt hat. Die seligste Jungfrau und die Heiligen sind Anwälte gnadenhalber: sie bitten für uns um Vergebung, und das um der Passion des Erlösers willen. Sie haben selbst nichts vorzuweisen, um uns zu rechtfertigen, sondern sie vertrauen dabei auf den Erlöser. Mit einem Wort, sie vereinigen ihre Bitten mit der Fürsprache des Erlösers, aber sie haben nicht die gleiche Eigenschaft wie diese, sondern gleichen unseren Bitten. Wenn Jesus Christus im Himmel bittet, bittet er in eigener Vollmacht; die seligste Jungfrau dagegen bittet nur unter Berufung auf ihren Sohn, aber mit größerem Einfluß und Ansehen. Seht ihr, daß das alles zur Ehre ihres Sohnes gereicht und seinen Ruhm verherrlicht?
Um Unseren Herrn zu verherrlichen, hat deshalb das ganze Altertum seine Mutter so sehr verehrt. Schaut auf die Christenheit: von drei Kirchen stehen zwei unter dem Schutz der seligsten Jungfrau oder haben besondere Kennzeichen der Verehrung des Volkes zu ihr. Viderunt eam filiae Zion (Hld 6,8); die Töchter Zions, die Seelen der Gläubigen, die Völker schauten auf sie und priesen sie überglücklich. Und Königinnen priesen sie. Nicht nur das Volk, sondern auch erhabenere Seelen haben sie gelobt und gepriesen: die Bischöfe, die Theologen, die Fürsten und Könige. Wie die Vögel, jeder auf seinem Zweig, im Morgengrauen zu zwitschern beginnen, so bemühen sie alle sich, ihr Ehre zu erweisen, wie sie selbst vorhergesagt hat: Alle Geschlechter werden mich seligpreisen (Lk 1,48). Folglich müssen alle Gläubigen und müßt besonders ihr Christen von Paris sie anrufen und ihr gehorchen. Das sind die beiden Hauptformen der Verehrung, die wir ihr erweisen können und zu denen sie uns eingeladen hat.
12. Ermahnung zur Anrufung und Verehrung Unserer lieben Frau
Ich finde im Evangelium nur zwei Stellen, wo berichtet wird, daß Unsere liebe Frau zu den Menschen gesprochen hat: die eine, als sie Elisabet grüßte (Lk 1,40); dabei betete sie ohne Zweifel für sie, denn die Gläubigen grüßen sich durch Gebete. Das zweitemal war, als sie zu den Dienern bei der Hochzeit zu Kana in Galiläa sprach, wobei sie nur sagte: Tut alles, was mein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5). In diesen beiden Akten ist der Ausdruck der Liebe und des Willens der seligsten Jungfrau den Menschen gegenüber enthalten, nämlich für sie zu bitten; deshalb müssen wir sie mit großem Vertrauen anrufen. In allen Gefahren, in allen Stürmen, ihr Christen von Paris, „seht diesen Stern des Meeres, ruft sie an“ (St. Bernhard): durch ihre Gunst wird euer Schiff den Hafen erreichen, ohne zu stranden und ohne Schiffbruch zu erleiden.
Wenn ihr aber wollt, daß sie für euch bittet, dann hört auf ihr zweites Wort und gehorcht ihren Anordnungen. Nun, ihre Anordnungen bestehen kurz gesagt darin, daß ihr den Willen ihres Sohnes tut: Tut alles, was er euch sagen wird. Wollen wir, daß die seligste Jungfrau uns erhört, ihr Christen? Dann laßt uns auf sie hören. Wollt ihr, daß sie auf euch hört? Dann hört auf sie. Sie bittet euch von ganzem Herzen und um den Preis ihrer Liebe, daß ihr treue Diener ihres Sohnes seid. Eines Tages kam Batseba in großer Demut und Ehrfurcht zu David, um ihm ein Anliegen und eine Bitte vorzutragen; aber schließlich bat sie statt allem nur, daß ihr Sohn nach seinem Vater König und Nachfolger seiner Krone werde (1 Kön 1,16f). Die seligste Jungfrau, meine Zuhörer, bittet euch vor allem um den deutlichsten Erweis eurer Ehrerbietung gegen sie: daß ihr ihren Sohn zum König eures Herzens und eurer Seele macht, damit er in euch herrsche und damit ihr seine Anordnungen ausführt. Tut das, meine Zuhörer, eurer Pflicht gemäß, um eures Heiles willen und aus Liebe zu Unserer lieben Frau. Wie ihr gesehen habt, blieb sie nach der Himmelfahrt ihres Sohnes noch einige Jahre auf Erden und starb dennoch nach einiger Zeit, uzw. des Todes ihres Sohnes, d. h. aus Liebe. Aber sie war nicht lange tot, sondern wurde auferweckt und fuhr aus der Wüste dieser Welt zum Himmel auf, wo sie den höchsten Rang unter allen Geschöpfen einnimmt; und das alles zur größeren Ehre ihres Sohnes; ihretwegen bittet sie für uns und fordert uns auf, seine treuen Diener zu sein.
Allerseligste, glückselige Frau, die du im höchsten Paradiese der Seligkeit bist, hab Mitleid mit uns, die wir in der Wüste des Elends sind. Du bist in der Fülle der Wonnen, wir im Abgrund der Trostlosigkeit. Erwirke uns die Kraft, alle Trübsal zu ertragen und uns stets recht auf deinen Vielgeliebten zu stützen, die einzige Stütze unserer Hoffnung, den einzigen Lohn unserer Mühen, das einzige Heilmittel unserer Übel. Glorreiche Jungfrau, bitte für die Kirche deines Sohnes; steh mit deiner Huld allen Obrigkeiten bei, dem Heiligen Vater, den Prälaten und Bischöfen, besonders dem der Stadt Paris. Erweise dich huldvoll dem König. Dein Vorfahr David tat dem Sohn des Jonatan Gutes um der Dienste und Hilfeleistungen willen, die er von Jonatan empfangen hatte (2 Sam 9,7). Dieser König ist der Nachfolger eines deiner treuesten und ergebensten Diener, des glorreichen hl. Ludwig; wir bitten dich, ihm deine Fürsprache im Namen dieses heiligen Königs zuteilwerden zu lassen. Die Königin, die die Ehre hat, deinen Namen zu tragen, möge stets unter dem Schutz deiner heiligen Gunst stehen. Himmlische Lilie, begieße die Lilien deines Frankreich mit deinen heiligen Segnungen, damit sie weiß und rein seien in der Einheit des wahren Glaubens und der Religion. Du bist ein Meer; gewähre dem jungen Dauphin die Wellen deiner Gunst; du bist der Stern des Meeres; sei dem Schiff von Paris hold, damit es den heiligen Hafen der Herrlichkeit erreiche, um den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist zu preisen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.
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