Zum Fest des hl. Johannes vor der lateinischen Pforte
Annecy, 06. Mai 1616 oder 1617 (OEA IX,79-73; DASal 9,240-248)
Die heilige Kirche feiert heute eines der beiden Feste des glorreichen heiligen Evangelisten Johannes. Ich weise darauf hin, daß das Evangelium (Mt 20,20-23), statt seine Vollkommenheiten und Vorzüge aufzuzählen, von seinen Unvollkommenheiten und Sünden berichtet, vor allem von einem Fehler, den man für einen seiner schwersten hält, nämlich von seiner Anmaßung und seinem Ehrgeiz. Statt ihn zu loben und zu preisen, scheint es ihn zu schelten und zu tadeln. Ich bewundere jene, die das geschrieben haben. Wenn die Weltleute jemand loben wollen, den sie lieben, zählen sie stets seine Tugenden, Vollkommenheiten und Vorzüge auf, alle Titel und Eigenschaften, die sie für ehrenvoll halten. Sie verbergen, bedecken und bemänteln seine Sünden und Unvollkommenheiten, lassen alles vergessen, was ihn verächtlich und gemein machen könnte. Aber unsere Mutter Kirche, die Braut Christi, tut das Gegenteil. Denn obwohl sie ihre Kinder einzigartig liebt, berichtet sie doch, wenn sie eines loben und hervorheben will, getreulich seine Sünden, die es vor seiner Bekehrung begangen hat, um die Majestät dessen zu verherrlichen, der es zu seiner größeren Ehre und Verherrlichung bekehrt hat, um seine grenzenlose Barmherzigkeit erstrahlen zu lassen, mit der er es aus seinen Armseligkeiten und Sünden erhoben und es mit so vielen Gnaden und mit seiner Liebe überhäuft hat.
Diese gute Mutter will gewiß nicht, daß wir erstaunt und in Sorge sind über das, was wir waren, über die großen Sünden, die wir früher begangen haben, noch über unsere gegenwärtige Armseligkeit. O nein, wenn wir nur jetzt den festen und unverbrüchlichen Entschluß haben, ganz Gott zu gehören und mit Vorbedacht die Vollkommenheit und alle Mittel zu ergreifen, die uns in der heiligen Liebe zunehmen lassen. Sie wird diesen Entschluß wirksam machen und Taten hervorbringen. Nein, so groß unsere Armseligkeiten und Gebrechen auch sein und gewesen sein mögen, sie dürfen uns gewiß nicht entmutigen; aber ihre Wirkung muß sein, daß wir uns demütigen und in die Arme der göttlichen Barmherzigkeit werfen. Sie wird um so mehr in uns verherrlicht, je größer unser Elend ist, wenn wir uns daraus erheben; dies mit Hilfe seiner heiligen Gnade zu erreichen, darauf müssen wir alle hoffen.
Der große hl. Chrysostomus lobt den hl. Paulus, so treffend er es vermag, und spricht von ihm mit soviel Verehrung und Hochachtung. Es ist bewundernswert, wie er seine Tugenden, Vollkommenheiten und Vorzüge aufzählt, die Auszeichnungen und Gnaden, mit denen Gott ihn geschmückt und bevorzugt hat. Um aber zu zeigen, daß diese Gaben nicht von ihm stammten, sondern von der grenzenlosen Güte der göttlichen Majestät, die ihn zu dem gemacht hat, was er war, deshalb spricht der gleiche Heilige anschließend auch von den Fehlern des hl. Paulus und beschreibt ausführlich seine Sünden und Unvollkommenheiten; er sagt: Schaut euch den kleinen, mißgestalteten Buckligen an (denn er war klein von Statur und sah nicht viel gleich), wie Gott ihn zu einem Gefäß der Auserwählung (Apg 9,15) gemacht hat. Seht diesen großen Sünder und Christenverfolger, wie er ihn aus einem Wolf in ein Lamm verwandelt hat. Seht diesen mißmutigen, eigensinnigen, hochmütigen und anmaßenden Menschen, wie Gott ihn überhäufte und erfüllte mit so vielen Gnaden und Segnungen, wie er ihn so demütig und liebenswürdig machte, daß er selbst von sich sagte, er sei der geringste und kleinste unter den Aposteln (1 Kor 15,9), der größte Sünder (1 Tim 1,15), und daß er allen alles geworden ist, um alle zu gewinnen (1 Kor 9,22). Dieser große Heilige sagt auch noch (2 Kor 11,29; Röm 12,15): Wer ist krank, mit dem ich nicht leide? Wer ist traurig, mit dem ich nicht traurig bin? Wer ist fröhlich, mit dem ich mich nicht freute? Wer nimmt Anstoß, mit dem ich nicht entbrenne? Gewiß, die in alter Zeit die Lebensgeschichte der Heiligen beschrieben, haben deren Fehler und Sünden gewissenhaft ausgeforscht, berichtet und erklärt, um Unseren Herrn zu lobpreisen, der in ihnen verherrlicht wurde, da er sie aus ihrem Elend zog, sie bekehrte und so große Heilige aus ihnen machte.
Kommen wir nun wieder zu unserem glorreichen und ganz liebenswürdigen hl. Johannes zurück. Er hatte gewiß sehr wenige Fehler und Unvollkommenheiten, denn er war ganz rein und keusch. Er war auch noch jung, als er mit seinem Bruder, dem hl. Jakobus, von dieser dummen Regung des Ehrgeizes erfaßt wurde, daß sie einen Platz, einer zur Rechten und der andere zur Linken Unseres Herrn haben wollten. Es ist anzunehmen, daß die beiden übereingekommen waren, wie sie es anstellen wollten, um zu dieser Würde zu gelangen. Sie wollten nicht darum bitten. O nein, Ehrgeizige hüten sich ja, selbst um eine Ehre zu bitten, aus Furcht, daß sie für ehrgeizig gehalten werden. Die beiden finden also einen Ausweg miteinander und sagen: Unsere Mutter ist eine gute Frau, die uns sehr gern hat; sie wird das wohl für uns tun; und unser Meister liebt uns auch; er wird uns ohne Zweifel diese Gunst gewähren. Es ist wahr, daß er sie sehr liebte, besonders den hl. Johannes, seinen Lieblingsschüler; er war der liebenswürdigste Mensch, den man sich vorstellen kann. Sie bitten also ihre Mutter, diesen Wunsch vorzubringen. Sie, die sehr auf das Glück ihrer Kinder bedacht war, suchte also Unseren Herrn in dieser Absicht auf, wie einer der Evangelisten (Mt 20,20) sagt. Listig wie ein kleiner Fuchs trat sie mit vielen Verneigungen und demütigen Gebärden an ihn heran, kniete vor ihm nieder, um seine Gunst zu gewinnen, damit er ihr gewähre, was sie von ihm wünschte.
Als der göttliche Heiland sie sah, sagte er zu ihr: Was willst du? Sie antwortete: Ich habe eine kleine Bitte an dich, Herr. Seht die gute Frau, die tausend Windungen macht und nicht einfach vorgeht. Nun, das hat die Eigenliebe bewirkt. Sie hütete sich, ihm zu sagen: Das will ich, gewähre mir diese Gunst. O nein, denn die Eigenliebe ist dafür zu schlau und zu berechnend; sie läßt uns in heuchlerischer und unechter Demut Vorreden und wohlgesetzte Lobsprüche machen, damit man uns für recht bieder und klug halte. Sie ist ein gefährliches Tier, das uns großen Schaden zufügt, indem sie uns daran hindert, in allem einfach und gerade vorzugehen, und uns bei allen Dingen unseren eigenen Vorteil und unsere Befriedigung suchen läßt. Es gibt wenige, selbst unter geistlich Gesinnten, die einfach auf Gott schauen, ohne ihre eigene Befriedigung zu suchen, die nur ihn und nicht sich selbst zufriedenstellen wollen.
Er sagt also zu ihr: Was willst du? Der Heiland liebte ja nicht so viele Worte, er, der die Einfachheit einzigartig liebte. Sie antwortete: Herr, ich bitte, daß meine Kinder in deinem Reich einer zu deiner Rechten und der andere zu deiner Linken sitzen. Und ihre Söhne, die bei ihr standen, fügten hinzu: Herr, wir möchten, daß du uns alles gewährst, um was wir dich bitten (Mk 10,35). Seht, wie groß unsere Armseligkeit ist! Wir wollen, daß Gott unseren Willen erfüllt, und wir wollen nicht seinen Willen erfüllen, wenn er nicht mit dem unseren übereinstimmt. Wenn wir uns genau prüfen, werden die meisten von uns finden, daß unsere Bitten sehr ungeläutert und unvollkommen sind. Wenn wir beten, möchten wir, daß Gott zu uns spricht, daß er uns besuchen, trösten und aufrichten kommt; wir sagen zu ihm, daß er dies tun, daß er uns das geben soll. Und wenn er es nicht tut, obwohl das zu unserem Besten ist, sind wir darüber beunruhigt, verwirrt und bekümmert.
Unsere Seele hat zwei Kinder; eines davon ist das eigene Urteil, das andere der Eigenwille. Beide wollen ihren Platz, das Urteil zur Rechten, der Wille zur Linken. Ja, denn unser Urteil will über allem anderen stehen und sich nicht unterwerfen, ebensowenig unser Eigenwille. Es gibt viele, die gehorchen, aber äußerst wenige, die ihr Urteil unterwerfen und auf ihren Willen völlig verzichten. Es gibt viele, die sich demütigen, die sich abtöten, die ein Bußgewand tragen, die Bußwerke und Strengheiten üben, die beten und Betrachtung halten; ganz selten aber sind jene, die ihr eigenes Urteil und ihren Eigenwillen vollkommen unterwerfen.
Nichts schadet uns im geistlichen Leben so sehr und nichts hindert uns so, auf dem Weg Gottes voranzukommen. Denn wenn sein heiliger Wille in uns herrschte, würden wir nie die geringste Sünde begehen; wir wären nicht darauf bedacht, nach unseren Neigungen und Launen zu leben; gewiß nicht, denn sein Wille ist die Richtschnur alles Guten. Schließlich ist es dieser Eigenwille, der in der Hölle brennen wird, sagt der hl. Bernhard. Wenn er im Himmel ist, wirft man ihn hinaus; denn die Engel wurden gestürzt, weil sie ihren eigenen Willen hatten und Gott gleich sein wollten; deshalb stürzten sie in die Hölle. Wenn der Eigenwille in der Welt ist, zerstört und verdirbt er alles. Wenn wir in uns etwas finden, was nicht mit dem Willen unseres teuren Erlösers übereinstimmt, müssen wir uns vor ihm niederwerfen und ihm sagen, daß wir es verabscheuen und verwerfen, das und alles, was ihm in uns mißfallen und seiner Liebe widersprechen könnte, und müssen ihm versprechen, nur das zu wollen, was seinem Wohlgefallen und seinem göttlichen Willen entspricht.
Unser Herr antwortet demnach der Frau und ihren Söhnen: Ihr wißt nicht, um was ihr bittet. Sie verstanden wirklich nicht, um was sie baten; denn im Himmel gibt es keine linke Seite; denn auf der linken Seite sind die Verdammten, die der Gegenwart Gottes beraubt sind. Im Himmel gibt es nur die rechte Seite, wo die Seligen sind, die sich der göttlichen Wesenheit erfreuen und sie genießen werden, die sie mit aller Befriedigung und Glückseligkeit erfüllen wird. Wir wissen nicht, um was wir bitten, wenn wir zu Unserem Herrn sagen, daß er unseren Willen erfüllen und uns geben soll, was wir wünschen. Gewiß nicht, denn ihr wißt doch, meine Lieben, daß all unser Gut und Glück davon abhängt, der göttlichen Vorsehung ganz ergeben zu sein, nichts zu suchen als sein Wohlgefallen, seinem heiligen Willen uns vollkommen zu unterwerfen, uns daran zu erfreuen, daß wir diesen sich in uns und in allen Geschöpfen erfüllen sehen, wenn auch unter Anfechtungen und Leiden. Wir fühlen manchmal den Wunsch und die Neigung, Tugenden zu üben, die unserem Willen entsprechen. Da ist z. B. eineKranke, der wir sagen: Mein Kind, du weißt doch gut, daß deine Schmerzen und Leiden der göttlichen Majestät einzigartig wohlgefällig sind, wenn sie in Geduld und Unterwerfung unter seinen Willen angenommen werden. Ja, wird sie antworten, aber ich möchte lieber im Chor sein, um wie die anderen zu Gott zu beten; ich möchte wie sie mit Eifer und Gefühl Bußübungen, Abtötungen und Tugendakte verrichten. Seht ihr, sie möchte Gott dienen im Tätigsein; Gott aber will, daß sie ihm diene durch Leiden und Ertragen aus Liebe zu ihm.
Der göttliche Heiland sagt zu seinen Aposteln über diesen Ehrgeiz der beiden Heiligen: Glaubt nicht, daß ihr größere Herrlichkeit und mehr Liebe hättet, wenn ihr einen Vorrang an Würde in meinem Reich innehabt (Mt 20,25f). Ihr alle, die ich erwählt und berufen (Joh 15,6) habe, um mit mir am Tag des Gerichtes auf Thronen zu sitzen und zu richten (Mt 19,28), ihr werdet dadurch nicht mehr erhöht sein und deshalb keine größere Herrlichkeit besitzen. O nein, denn meine Mutter, die nicht zu dieser Würde erkoren wurde, wird trotzdem unendlich mehr Herrlichkeit und Liebe im Himmel besitzen als ihr alle.
Es gibt eine affektive und eine Tatliebe, so wie es auch zwei Arten gibt, das Martyrium zu erleiden: die eine affektiv, die andere tatsächlich. Der hl. Johannes wurde Märtyrer auf die erste Art, denn Gott ließ nicht zu, daß er tatsächlich Märtyrer wurde, sondern nur dem Willen und dem Verlangen nach. Denn das siedende Öl, das man für ihn bereitet hatte, in das man ihn warf, fügte ihm kein Leid zu, sondern war für ihn mild und lieblich, als wäre es das wohltuendste Bad gewesen. Der hl. Jakobus wurde tatsächlich Märtyrer, denn Gott gewährte ihm die Gnade, aus Liebe zu ihm zu sterben; gleichwohl blieb auch dem hl. Johannes der Lohn und die Krone des Martyriums nicht vorenthalten.
Unser göttlicher Meister sagte also zu den beiden Heiligen: Könnt ihr den Kelch mit mir trinken, der für mich bereitet ist (Mt 20,22)? Denn ich bin vom Himmel herabgestiegen, um den Willen meines Vaters zu erfüllen, der mich gesandt hat, um sein Werk zu vollenden (Joh 6,38; 4,34). Sie antworteten: Wir können es. Und er fügte hinzu: Wißt ihr, was das heißt, meinen Kelch trinken? Glaubt nicht, das bedeute, Ehrenstellungen zu haben, Gunsterweise und Tröstungen; gewiß nicht. Meinen Kelch trinken heißt, an meiner Passion teilhaben, Leiden und Schmerzen erdulden, Nägel und Dornen, Galle und Essig trinken.
Wie groß sind diese Gunsterweise! Wie müssen wir es als großes Glück schätzen, mit unserem Erlöser das Kreuz zu tragen und gekreuzigt zu werden! Die Märtyrer haben den Kelch in einem Zug ausgetrunken, die einen in einer Stunde, die anderen in zwei oder drei Tagen, andere in einem Monat. Wir können Märtyrer werden und den Kelch trinken, nicht in zwei oder drei Tagen, sondern unser ganzes Leben, wenn wir uns ständig abtöten, wie es die Ordensmänner und Ordensfrauen tun und tun müssen, die Gott in einen Orden berufen hat, damit sie mit ihm das Kreuz tragen und gekreuzigt sind. Ist es nicht ein großes Martyrium, nie seinen eigenen Willen zu tun, sein Urteil zu unterwerfen, sein Herz zur entblößen, es leer zu machen von all seinen unlauteren Regungen und von allem, was nicht Gott ist; nicht nach seinen Neigungen und Launen zu leben, sondern nach dem göttlichen Willen und nach der Vernunft? Das ist ein Martyrium, das sehr lange dauert, das langweilig ist und unser ganzes Leben währen muß; aber am Ende werden wir als Lohn eine herrliche Krone erhalten, wenn wir darin treu sind.
Wenn eine große Fürstin oder ein hoher Herr eines unversehenen Todes stirbt, öffnet man ihren Leichnam, um zu sehen, an welcher Krankheit sie gestorben sind. Hat man die Todesursache gefunden, ist man zufrieden und unternimmt weiter nichts. Als Unser Herr am Kreuz hing, sagte er, ehe er seinen Geist aufgab, mit lauter Stimme, fest und schallend die Worte: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist (Lk 23,46), und er gab seinen Geist auf (Mt 27,50; Joh 19,30), uzw. unmittelbar nach diesem Ausruf. Man konnte es nicht glauben, daß er gestorben ist, da er eben noch mit so kräftiger Stimme gerufen hat, so daß es nicht den Eindruck machte, als müßte er bald sterben. Deshalb kam der Hauptmann der Soldaten, um zu erfahren, ob er wirklich gestorben sei. Als er sah, daß er tot war, befahl er, ihm einen Lanzenstich in die Seite zu geben. Das geschah, und man stieß ihn genau ins Herz (Joh 19,33 f). Als seine Seite geöffnet war, sah man, daß er wirklich tot war, gestorben an der Krankheit seines Herzens, d. h. an der Liebe seines Herzens.
Unser Herr wollte aus mehreren Gründen, daß seine Seite geöffnet wurde. Der erste Grund war, daß man die Gesinnungen seines Herzens sehe; das sind die Gedanken der Liebe und herzlicher Zuneigung (Jer 29,11) für uns, seine vielgeliebten Kinder und Geschöpfe, die er nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat (Gen 1,26; 5,1). Dadurch sollten wir sehen, wie sehr er danach verlangt, uns seine Gnaden und Segnungen zu schenken, ja sogar sein Herz, wie er es der hl. Katharina von Siena gewährt hat. Ich bewundere diese unvergleichliche Gnade, durch die er das Herz mit ihr tauschte. Vorher hatte sie gebetet: „Herr, ich empfehle dir mein Herz“; von da an aber sagte sie: „Herr, ich empfehle dir dein Herz“, da das Herz Gottes ihr Herz war.Gewiß, die frommen Seelen dürfen kein anderes Herz haben als das Herz Gottes, keinen anderen Willen als den seinen, keine andere Liebe als die seine, keine anderen Wünsche als die seinen; mit einem Wort, sie müssen ihm gehören.
Der zweite Grund war, damit wir mit allem Vertrauen zu ihm kommen, um uns in seine Seite zurückzuziehen und darin zu bergen; um in ihr auszuruhen, wenn wir sehen, daß er sie geöffnet hat, um uns darin aufzunehmen mit unvergleichlicher Güte und Liebe, wenn wir uns ihm schenken und uns vollkommen und ohne Rückhalt seiner Güte und Vorsehung überlassen.
Ihr möchtet mich vielleicht fragen, warum unsere Herzen vor den anderen so versteckt sind, daß man sie nicht sieht. Aus zwei Gründen ist es ratsam, daß dem so ist: erstens weil man Abscheu davor hätte, in den Herzen von Bösewichten und großen Sündern so häßliche und abscheuliche Dinge, so viel Elend zu entdecken. Die hl. Katharina hatte von Gott die Gabe erhalten, die Gewissen zu durchschauen und die geheimsten Sünden zu erkennen; sie hatte davor so großen Abscheu, daß sie sich abwenden mußte, um sie nicht sehen zu müssen. In unserer Zeit hat der selige Philipp Neri von der göttlichen Güte die gleiche Gnade erhalten. Oft hielt er sich die Nase zu, um den furchtbaren Gestank nicht wahrzunehmen, der von einem Sünder ausging. Der zweite Grund ist, daß es nicht ratsam ist, das Herz der Guten zu sehen, aus Furcht, daß sie der Eitelkeit verfallen oder daß es in den anderen Neid erwecke. Nun, bei Unserem Herrn gab es nichts zu befürchten, wenn man sein Herz sah, denn in ihm gab es nichts, was Abscheu wecken könnte, weil es so rein, so heilig und die Reinheit selbst war. Er konnte auch nicht eitel werden, da er der Urheber der Herrlichkeit ist.
Ich staune über den Eifer, mit dem die beiden Heiligen Unserem Herrn antworteten, als er davon sprach, seinen Kelch zu trinken: Wir können es, sagten sie. Seht ihr, wenn wir im Eifer sind, gute Empfindungen und Tröstungen haben, scheint es uns, daß wir Wunder vollbringen können; aber beim geringsten Anlaß straucheln wir und lassen die Nase hängen. Wenn man uns an der Fingerspitze oder Fußspitze anrührt, ziehen wir uns sofort zurück; wenn man uns ein Wörtchen sagt, das nicht nach unserem Geschmack ist, sind wir gekränkt. Wir machen es wie die Soldaten von Efraim, die in ihrer Phantasie große Kriegstaten vollbrachten und so tapfer waren, daß sie alle ihre Feinde zu töten gedachten; als es aber zur Tat und zum Angriff kam, wurden sie blaß und mutlos und ergriffen die Flucht. Wir sind genau so, denn wir machen im Geist große Pläne und fassen schöne Entschlüsse, indem wir uns vorstellen, daß wir dies und jenes für Gott tun werden; wenn aber die Gelegenheit dazu kommt, dann wenden wir ihr den Rücken, dann fehlen uns der Mut und die Treue.
Der hl. Petrus sagte mit großer Bestimmtheit zu Unserem Herrn: Ich werde dich nicht verlassen, sondern will mit dir sterben (Lk 22,33; Joh 13,37); aber auf das bloße Wort einer Magd hin verleugnete er ihn dreimal (Mt 26,69-75). Gewiß, wenn uns solch glühende Wünsche kommen, große Dinge für Gott zu tun, dann müssen wir uns mehr denn je vertiefen in Demut und Mißtrauen gegen uns selbst und in das Vertrauen auf Gott, uns in seine Arme werfen und anerkennen, daß wir keine Kraft haben, um unsere Entschlüsse und guten Absichten zuverwirklichen, noch irgendetwas zu tun, was ihm wohlgefällig wäre. Aber in ihm und mit seiner Gnade wird uns alles möglich sein (Phil 4,13). Töricht wäre, wer ein großes Bauwerk errichten wollte und nicht vorher überlegte, ob er Geld genug hat, um dafür zu bezahlen (Lk 14,28-30). Wir wollen den Himmel erwerben, wollen den großen Bau der Vollkommenheit errichten; wir sind Toren, wenn wir nicht überlegen, ob wir etwas haben, um dafür zu bezahlen, und was wir dafür geben müssen. Fehlt diese Überlegung, dann werden wir auf dem Weg steckenbleiben.
Die Münze, mit der wir diese Vollkommenheit erkaufen müssen, ist unser Eigenwille; ihn müssen wir verkaufen und uns seiner entäußern, indem wir vollkommen auf ihn verzichten. Wir müssen uns selbst verleugnen und das Kreuz aufnehmen (Mt 16,24; Lk 9,23); wir müssen unser eigenes Urteil unterwerfen; wir müssen unsere schlechten Neigungen und Launen ablegen. Schließlich werden wir die Vollkommenheit nie auf einem anderen Weg erreichen. Wir müssen alles verkaufen, um diese kostbare Perle (Mt 13,46) der heiligen Liebe zu erwerben, die Gott für uns bereithält, wenn wir uns treu bemühen, sie zu erlangen. Glücklich sind also die Seelen, die diesen Kelch mit Unserem Herrn trinken, die sich abtöten, das Kreuz tragen und liebend aus Liebe zu ihm leiden, die alle Ereignisse in gleicher Weise annehmen. Aber, mein Gott, wie wenige finden sich dafür! Indessen sage ich das nicht, ohne einige Ausnahmen zu machen.
Ihr werdet mir trotzdem sagen, daß es viele gibt, die sich danach sehnen, zu leiden und das Kreuz zu tragen. Das ist wahr. Ich weiß, daß es viele gibt, die sich danach sehnen und Gott um Leiden und Trübsal bitten, die ihn bitten, sie leiden zu lassen. Unter dieser Voraussetzung geschieht es oft, daß er sie heimsucht und in ihren Leiden tröstet, ihnen versichert, daß er sie mit Wohlgefallen leiden sieht und sie dafür reich belohnen wird mit unsterblicher Herrlichkeit. Es gibt auch manche, die den Grad der Glorie kennen wollen, den sie im Himmel haben werden. Das ist gewiß sehr vorwitzig, denn danach dürfen wir keineswegs fragen. Wir müssen der göttlichen Majestät dienen, so gut wir es vermögen, indem wir getreu seine Gebote und Räte befolgen und seinen Willen erfüllen mit der größtmöglichen Vollkommenheit, Lauterkeit und Liebe; wir dürfen aber nicht nach dem Lohn fragen, sondern das seiner Güte überlassen. Er wird nicht versäumen, uns mit unendlicher und unfaßbarer Glorie zu belohnen, indem er sich selbst uns als Lohn schenkt (Gen 15,1); so hoch schätzt er und nimmt er wohlgefällig an, was wir für ihn tun. Mit einem Wort, er ist unser guter Herr, wir brauchen nur seine ganz treuen Diener und Dienerinnen zu sein, und er wird uns gewiß ein treuer Vergelter sein (Mt 25,21.23). Es ist ein unvergleichliches Glück, dem göttlichen Heiland unserer Seelen zu dienen und den Kelch mit ihm zu trinken. Seht ihr die große hl. Katharina von Siena, die die Dornenkrone der goldenen vorzog? Wir müssen es ebenso machen; denn schließlich ist der Weg des Kreuzes, der Leiden und Trübsale ein sicherer Weg, der uns zu Gott führt und zur Vollendung seiner Liebe, wenn wir nur treu sind. Zum Schluß: wir müssen den Kelch Unseres Herrn mutig trinken und mit ihm gekreuzigt sein in diesem Leben. Wenn wir seinem Beispiel und seinen Spuren folgen, wird seine Güte uns die Gnade erweisen, daß wir mit ihm verherrlicht werden im anderen Leben. Dahin möge uns führen der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
nach oben | Übersicht Salesianische Predigten | Übersicht Franz von Sales-Predigten