Zur Weihnachtsvigil
Annecy, 24. Dezember 1613 (OEA IX,1-14; DASal 9,206-216)
Hodie scietis quia Dominus veniet, et mane videbitis gloriam ejus. Heute sollt ihr wissen, daß der Herr kommt, und am Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen (vgl. Ex 16,6f).
Die heilige Kirche ist gewohnt, uns am Vortag der großen Feste vorzubereiten, damit wir besser befähigt sind, die großen Gnadenerweise zu erkennen, die wir an ihnen von Gott empfangen haben. Wenn die Christen der Urkirche Unserem Herrn gewissermaßen Genugtuung leisten wollten für sein Blut, das er bei seinem Tod am Kreuz so freigebig vergossen hat, dann waren sie sorgsam bedacht, die Zeit der Feste recht zu nutzen und sie möglichst gut zu feiern. Deshalb gab es fast kein Fest, das keine Vigil hatte, in der sie sich auf das Fest vorzubereiten begannen. Das geschah nicht nur in der Kirche, sondern auch im Alten Bund; dem Sabbat gingen stets verschiedene Vorbereitungen voraus, die man am Tag zuvor traf.
Die heilige Kirche will also, daß wir uns in der Vigil des heiligen Weihnachtsfestes vorbereiten, und als ganz liebenswürdige Mutter will sie nicht, daß wir von einem so großen Geheimnis unvorbereitet überrascht werden; deshalb sagt sie uns die Worte: „Heute sollt ihr wissen, daß Unser Herr morgen kommt“ (Introitus). Das heißt soviel wie: morgen wird er geboren, und ihr werdet ihn als ganz kleines Kind in einer Krippe liegend (Lk 2,12) sehen. Diese Worte sind jenen entnommen, die Mose an die Kinder Israels richtete, da er den Tag kannte, den Gott bestimmt hatte, um ihnen das Manna in der Wüste zu geben. Er ließ sie zusammenkommen und sagte ihnen deshalb (Ex 16,6f) die Worte: Am Abend sollt ihr wissen, daß der Herr euch aus dem Land Ägypten geführt hat, und am Morgen werdet ihr die Herrlichkeit des Herrn sehen. Das heißt soviel, als hätte er gesagt: morgen früh wird er kommen. Er sprach also so, als sollte der Herr in seiner eigenen Herrlichkeit kommen. Wir wissen aber alle, daß Gott nicht kommt und geht, als hätte er einen Leib, denn er ist unveränderlich, fest und dauerhaft, ohne irgendeine Bewegung. Mose gebraucht trotzdem diese Ausdrücke, um zu zeigen, daß das Manna ein so großes Geschenk war,daß Gott gewissermaßen selbst kommen mußte, um es den Kindern Israels auszuteilen. Daher trägt er Sorge, daß sich die Israeliten darauf vorbereiteten durch die Erwägung einer so großen Gnade, um sich würdiger zu machen, sie zu empfangen. Ebenso sagt uns die Kirche: Heute sollt ihr wissen, daß der Herr morgen kommen wird. Dabei hat sie keine andere Absicht, als zu erreichen, daß wir unseren Verstand in die Betrachtung der Größe des Geheimnisses der hochheiligen Geburt Unseres Herrn versenken.
Um das möglichst gut zu machen, werden wir vor allem unseren Verstand demütigen und anerkennen, daß er in keiner Weise fähig ist, auf den Grund dieses großen Geheimnisses vorzudringen, das ein wahrhaft christliches Mysterium ist. Ich sage „christlich“, weil nur die Christen jemals begreifen konnten, daß Gott Mensch und der Mensch vergöttlicht wurde. Alle Menschen hatten stets eine gewisse Neigung zu glauben, daß das möglich sei und geschehe, doch nur die Christen sind zu der Erkenntnis gekommen, wie das geschehen kann. Ich weiß wohl, daß es im Alten Bund die Propheten und bestimmte große und erhabene Persönlichkeiten gab, die es wußten; was aber das gewöhnliche Volk betrifft, vermochte es niemand zu erkennen. Bei den Heiden hat die Ahnung, die sie hatten, daß Gott Mensch werde und der Mensch Gott, dazu geführt, daß sie absonderliche Dinge taten. Das ging so weit, daß sie oder wenigstens manche glaubten, sie könnten sich zu Göttern machen und sich von den übrigen Menschen anbeten lassen. Sie dachten nämlich, wenn es auch einen höchsten Gott gebe, der als oberster Fürst über allem steht, könne es dennoch mehrere Götter geben, oder wenigstens Menschen, die in irgendeiner Weise an den göttlichen Eigenschaften teilhaben und sich Götter nennen. Als Alexander der Große im Sterben lag, sagten seine Höflinge, Verrückte, Schwachsinnige und Schmeichler: „König, wenn du willst, machen wir dich zu einem Gott.“ Da zeigte Alexander durch die Antwort, die er ihnen gab, daß er nicht so töricht war wie sie: „Ihr könnt mich zu einem Gott machen, wenn ihr glückselig seid“, antwortete er, als wollte er sagen: unglücklichen, vergänglichen und sterblichen Menschen steht es nicht zu, Götter zu sein, die nur glückselig und unsterblich sein können.
Die Christen wurden mehr erleuchtet und hatten das Glück zu wissen, daß der Mensch vergöttlicht wurde und Gott Mensch geworden ist, obwohl sie nicht fähig sind, die Größe des Geheimnisses der Menschwerdung und der hochheiligen Geburt Unseres Herrn zu begreifen. Es ist ja ein Geheimnis, das verborgen ist im Dunkel und in der Finsternis der Nacht; nicht als ob das Geheimnis dunkel in sich selbst wäre, denn Gott ist nur Licht (Joh 1,5.9). Man weiß ja, daß unsere Augen nicht fähig sind, das Licht oder die Klarheit der Sonne zu betrachten, ohne zu erblinden (wenn wir es unternehmen wollten, dieses Licht zu betrachten, sind wir gezwungen, die Augen zu schließen, und sind einige Zeit unfähig, etwas zu sehen). Ebenso liegt das, was uns daran hindert, das Geheimnis der hochheiligen Geburt Unseres Herrn zu begreifen, nicht daran, daß es in sich dunkel wäre, sondern daran, daß es nichts als helles Licht ist. Unser Verstand, der das Auge unserer Seele ist, kann es nicht lange betrachten, ohne sich zu trüben, und muß demütig bekennen, daß er dieses Geheimnis nicht ergründen kann, um zu begreifen, wie Gott im jungfräulichen Schoß der allerseligsten Jungfrau Fleisch angenommen hat und Mensch geworden ist gleich uns, um uns Gott ähnlich zu machen.
Gott ließ den Israeliten in der Wüste das Manna in der Nacht regnen (Num 11,9); und damit die Israeliten mehr Grund hatten, ihm dankbar zu sein, wollte er selbst das Mahl und die Tafel bereiten. Ihr habt ja gehört, daß Mose sagte: Ihr sollt wissen, daß der Herr euch aus Ägypten geführt hat, und am Morgen werdet ihr seine Herrlichkeit sehen. Er ließ also zunächst einen sanften Tau vom Himmel fallen, der als Tischtuch in der Wüste diente, dann fiel plötzlich das Manna wie kleine Korianderkörper. Und um zu zeigen, daß er sie ehrenvoll bediente, wie man jetzt den Fürsten auf bedeckten Platten serviert, ließ er dann einen kleinen Tau fallen, der das Manna bis zum Morgen bedeckte, bis die Israeliten es rasch zu sammeln kamen, ehe die Sonne aufging. Ebenso wollte Gott ein ganz besonderes und unvergleichlich liebenswertes Geschenk den Menschen machen, die auf Erden wie in einer Wüste leben, nur seufzen und sich nach den Freuden des gelobten Landes sehnen, das unsere wahre Heimat ist. Daher kommt er selbst in Person, um uns zu führen, und das auf dem Höhepunkt der Nacht (Weish 18,14f). Dieses Geschenk ist nichts anderes als die Gnade, die uns befähigt, die Freude der Glorie und Glückseligkeit zu erlangen, deren wir für immer beraubt wären ohne diese Gabe, die er uns in seiner Güte geschenkt hat. Deshalb wird Unser Herr im Dunkel der Nacht geboren und zeigt sich uns als kleines Kind in einer Krippe liegend, wie wir ihn morgen sehen werden.
Doch erwägen wir ein wenig, wie das geschieht. Die seligste Jungfrau gebar ihren Sohn jungfräulich, wie die Sterne ihr Licht hervorbringen. Nun trägt Unsere liebe Frau in ihrem Namen die Bezeichnung Stern des Meeres oder Morgenstern. Der Stern des Meeres ist der Pol, auf den die Kompaßnadel stets zeigt; durch ihn werden die Steuermänner auf See geführt und können erkennen, wohin ihre Reise geht. Jeder weiß, daß die frühen Kirchenväter, die Patriarchen und Propheten, alle nach diesem Polarstern ausschauten und ihre Seefahrt nach seiner Gunst lenkten.
Die allerseligste Jungfrau ist auch der Morgenstern, der uns die liebliche Kunde vom Aufgang der wahren Sonne bringt (Lk 1,78). Alle Propheten haben gewußt, daß die Jungfrau ein Kind empfangen und gebären wird (Jes 7,14), das Gott und Mensch zugleich ist. Sie empfing aber durch die Kraft des Heiligen Geistes (Lk 1,35); sie empfing ihren Sohn jungfräulich und gebar ihn ebenso jungfräulich. Ich bitte euch, welche Wahrscheinlichkeit bestand denn, daß Unser Herr die Unversehrtheit seiner Mutter verletzte, da er sie nur deswegen erwählt hatte, weil sie Jungfrau war? Konnte er, der die Reinheit selbst war, die Reinheit seiner hochheiligen Mutter mindern oder beflecken? Unser Herr ist von aller Ewigkeit gezeugt und jungfräulich aus dem Schoß seines ewigen Vaters hervorgegangen; denn obwohl er die gleiche Göttlichkeit von seinem ewigen Vater empfängt, teilt er sie dennoch nicht auf, sondern bleibt ein und derselbe Gott mit ihm. Die seligste Jungfrau gebar ihren Sohn, Unseren Herrn, auf Erden jungfräulich, wie er von seinem Vater ewig im Himmel gezeugt wird, jedoch mit dem Unterschied, daß sie ihn aus ihrem Schoß gebar, nicht in ihrem Schoß, denn nachdem er aus ihm hervorgegangen war, kehrte er nicht mehr in ihn zurück; sein ewiger Vater dagegen hat ihn aus seinem Schoß und in seinem Schoß gezeugt, denn er bleibt ewig in ihm.
Das darf aber nicht unter die Lupe genommen noch neugierig erwogen werden, und unser Verstand darf diese göttliche Zeugung nicht spitzfindig untersuchen, da sie für ihn etwas zu Hohes ist. Es ist jedoch gut, sich dessen als Ausgangspunkt der Betrachtungen zu bedienen, die wir über das Geheimnis der Geburt Unseres Herrn anstellen. Mit gutem Grund hat deshalb die seligste Jungfrau einen Namen, der Stern bedeutet, denn wie die Sterne ihr Licht jungfräulich hervorbringen und ohne dadurch in sich irgendeinen Schaden zu erleiden, sondern unseren Augen dadurch noch schöner erscheinen, ebenso gebar Unsere liebe Frau dieses unzugängliche Licht (1 Tim 6,16), ihren gebenedeiten Sohn, ohne dadurch irgendeinen Schaden zu nehmen, noch ihre jungfräuliche Reinheit irgendwie zu beflecken. Es besteht aber der Unterschied, daß sie ihn gebar ohne Anstrengung, Erschütterung und irgendein Ungestüm, anders als die Sterne, die anscheinend ihr Licht, wie man sieht, mit Gewalt, Ungestüm und Kraftaufwand hervorbringen.
Als zweites stelle ich fest, daß das Manna einen dreifachen Geschmack hatte, der ihm eigentümlich war, abgesehen davon, daß es jeden Geschmack hatte, den man sich wünschen konnte (Weish 16,20-25). Wenn nämlich die Kinder Israels das Verlangen hatten, Brot zu essen, hatte es den Geschmack des Brotes; wünschten sie Rebhuhn oder was immer zu essen, so hatte das Manna zugleich diesen Geschmack. Die meisten Väter bezweifeln, ob alle, die Bösen ebenso wie die Guten, dieser Gunst teilhaftig wurden. Ob das zutraf oder nicht, das Manna hatte insbesondere den Geschmack oder die Süßigkeit von Mehl, von Honig und von Öl (Ex 16,31; Num 11,8). Das versinnbildet uns die drei Wesenheiten, die sich in dem gebenedeiten Kind finden, das wir morgen in der Krippe liegend finden werden. Und wie dieser dreifache Geschmack oder die Süßigkeit sich in einer einzigen Speise finden, die das Manna war, ebenso gibt es in der Person Unseres Herrn drei Wesenheiten, die dennoch alle drei nur eine Person bilden, die aber zugleich Gott und Mensch ist.
In diesem hochgebenedeiten Kindlein findet sich die göttliche Natur, die Natur der Seele und die des Leibes. Das Manna hatte den Geschmack von Honig, der ein himmlischer Saft ist. Obwohl die Bienen den Honig auf den Blumen sammeln, gewinnen sie die Süßigkeit doch nicht aus den Blüten, sondern sie sammeln mit ihrem kleinen Mund den Honig, der mit dem Tau vom Himmel fällt, und das nur zu einer bestimmten Zeit des Jahres. Ebenso kam die göttliche Natur Unseres Herrn vom Himmel und stieg gleichzeitig mit der Empfängnis herab auf die gebenedeite Blüte der allerseligsten Jungfrau, unserer lieben Frau, in der die menschliche Natur sie aufnahm und im Bienenkorb des Schoßes der glorreichen Jungfrau neun Monate bewahrte, nach denen sie in die Krippe gelegt wurde, wo wir sie morgen sehen werden.
Der Geschmack von Öl, der sich im Manna findet, versinnbildet uns die Natur der hochheiligen Seele Unseres Herrn. Was ist diese hochgebenedeite Seele anderes als ein Öl, ein Balsam, ein verströmender Wohlgeruch (Hld 1,2), der den Geruchssinn derjenigen ungemein befriedigt, die sich ihr in der Betrachtung ihrer Vorzüglichkeit nähern? Welchen Duft verbreitet sie doch angesichts der göttlichen Majestät, mit der sie sich vereinigt sieht, ohne es verdient zu haben, noch von sich aus je verdienen zu können! Welche Akte vollkommener Liebe, tiefer Demut erweckt sie doch im Augenblick dieser unvergleichlichen Vereinigung mit dem ewigen Wort gleichzeitig mit der Menschwerdung! Und welchen Duft, welchen Wohlgeruch, welchen Geschmack einer unvergleichlichen Süßigkeit hat sie doch für uns verbreitet, um uns zur Nachfolge und zur Nachahmung ihrer Vollkommenheit anzuspornen!
Der Geschmack der Weizenblüte schließlich, der sich noch im Manna fand, versinnbildet uns den anderen Teil der hochheiligen Menschheit Unseres Herrn, seinen anbetungswürdigen Leib, der auf dem Baum des Kreuzes gemahlen und ein überaus köstliches Brot wurde, das uns nährt für das ewige Leben (Joh 6,35). Köstliches Brot, wer dich würdig genießt, wird ewig leben und kann nie des ewigen Todes sterben (Joh6,50f). Welch unvergleichlich lieblichen Geschmack hat dieses Brot für die Seelen, die es würdig genießen! Welche Köstlichkeit, ich bitte euch, sich zu nähren mit dem Brot, das vom Himmel herabgekommen ist, dem Brot der Engel (Ps 78,23-25; Weish 16,20; Joh 6,33ff)! Was es indessen am köstlichsten macht, das ist die Liebe, mit der es uns gegeben wurde von jenem selbst, der zugleich die Gabe und der Geber ist.
Damit ich mich aber nicht so viel bei den ersten Punkten aufhalte, gehe ich weiter, um vom dritten Punkt zu sprechen, der einiges enthält, um unseren Willen zu entflammen.
Ich bemerke nebenbei, daß es unter der großen Zahl von Menschen, die damals in Betlehem waren, nur einfache Hirten waren, die Unseren Herrn aufsuchten. Nach ihnen kamen die königlichen Magier, die von weither kamen, um unseren neuen König anzubeten, der in einer Krippe lag, und ihm zu huldigen. Als die Engel die Botschaft dieser glückbringenden Geburt verkündet hatten, gaben sie den Hirten bewundernswerte Weisungen. Geht, sagten sie, ihr werdet das Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend (Lk 2,8-10). Gott, welche Lehren sind das, um Unseren Herrn zu erkennen, und welche Einfalt der Hirten, einfach zu glauben, was ihnen verkündet wurde! Die Engel hätten einigen Anspruch gehabt, Glauben zu finden, wenn sie gesagt hätten: Geht, ihr werdet das Kind finden, auf einem Elfenbeinthron sitzend und umgeben von einem himmlischen Hofstaat, der ihm Gesellschaft leistet. Aber sie sagen: Euer Erlöser ist geboren mit diesen Insignien: ihr werdet ihn in einer Krippe liegend finden, zwischen Tieren und in Windeln gewickelt.
Warum, meint ihr, wandten sich die Engel eher an die Hirten als an irgendeinen anderen in Betlehem? Aus keinem anderen Grund als dem, weil Unser Herr als der König der Hirten (1 Petr 5,4) gekommen ist und nur seinesgleichen bevorzugen wollte. Was aber bedeuten die Hirten? Die einen sagen, sie repräsentieren die Hirten der Kirche, als da sind die Bischöfe, die Oberen der Orden, die Pfarrer und alle Seelsorger. Es ist die Ansicht eines Teils der heiligen Väter, daß ihnen der Herr seine Geheimnisse eingehender offenbart, weil sie von Gott beauftragt sind, sie dann ihrer Herde darzulegen, den Seelen, die ihnen anvertraut sind. Einige andere sagen, die Hirten stellen die Ordensleute dar und alle, die sich das Streben nach Vollkommenheit vorgenommen haben. Nun, wenn jeder von uns Hirte und Schäfer ist, was kann man dann unsere Schafe nennen? Das sind unsere Leidenschaften, Neigungen und Anhänglichkeiten, die Fähigkeiten unserer Seele. Doch beachtet, daß nur die Hirten, die über ihre Herde wachten, die Ehre und die Gnade hatten, die liebliche Botschaft von der Geburt Unseres Herrn zu hören. Das soll uns zeigen: wenn wir nicht über die Herde wachen, die Gott uns anvertraut hat, das heißt, wie ich gesagt habe, unsere Leidenschaften und Neigungen, die Fähigkeiten unserer Seele, um sie auf einer heiligen Weide sich nähren zu lassen, sie in Ordnung zu ihrer Pflicht anzuhalten, dann verdienen wir nicht, die so liebenswürdige Botschaft von der Geburt des Erlösers zu hören, und wir werden nicht fähig sein, ihn in der Krippe aufzusuchen, in die ihn seine gebenedeite Mutter morgen legen wird.
Wie überaus lieblich ist doch das Geheimnis der hochheiligen Geburt Unseres Herrn! Alle und jeder können hier einen tiefen Grund des Trostes finden; am meisten aber jene, die besser vorbereitet sind und die nach dem Vorbild der Hirten recht über ihre Herde gewacht haben. Ach, wir wären unwürdig, zu wissen, wie wir sie recht führen und ordnen sollen; aber Unser Herr kommt selbst, um uns zu lehren, was wir tun müssen. Er ist der gute Hirte (Joh 10,11) und der überaus liebenswürdige Schäfer unserer Seelen, die seine Schafe sind, für die er soviel getan hat. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir ihn getreu nachahmen und seinem Beispiel folgen, das er uns gibt. Aber was tut dieses allerliebste Kind? Seht es in der Krippe liegen. Ihr werdet es finden, sagen die Engel, in Windeln gewickelt. Ach, es hatte nicht nötig, so gebunden zu werden. Gewiß pflegt man die Kinder zu wickeln, weil sie noch zart sind und, wenn sie nicht gewickelt und gebunden wären, die Gefahr bestünde, daß sie eine falsche Wendung machen und auf diese Weise mißgestaltet werden. Man bindet sie auch, damit sie sich nicht die Augen oder das Gesicht zerkratzen, wenn sie die Händchen frei haben, um sich die Augen zu reiben, wann sie wollen. Sie haben ja noch nicht den Gebrauch der Vernunft, um das zu unterlassen, wie es notwendig ist. Doch was hatte Unser Herr für sich zu befürchten, da er vom Augenblick seiner Empfängnis an den Gebrauch der Vernunft besaß? Er, der das Ebenmaß selbst ist, konnte keine Mißbildung erfahren. O Gott, welche Güte des liebenswürdigen Heilands! Er unter- warf sich, alles zu tun, was die anderen Kinder tun, um als nichts anderes zu erscheinen denn ein armes Kindlein, dem Gesetz der Kindheit unterworfen. Er weint wirklich, aber nicht aus Selbstverzärtelung, d. h. nicht bitteren Herzens, sondern ganz einfach, um sich den anderen Kindern gleichförmig zu machen.
Ich überlege, ob Unser Herr noch einen anderen Grund hatte, der ihn bewog, das zu tun, daß er gebunden und gewickelt sein wollte, seiner allerseligsten Mutter unterworfen, so daß er mit sich machen, sich tragen und wickeln ließ, ganz wie es ihr gefiel, ohne irgendeinen Widerwillen zu zeigen. Er tat es, um uns zu lehren, unsere geistige Herde zu lenken und zu leiten, d. h. unsere Leidenschaften und Neigungen, die Fähigkeiten unserer Seele. Aber unter allen Fähigkeiten gibt es zwei, die gleichsam der Ursprung sind, von dem alle anderen abhängen, nämlich das begehrliche und das aufbrausende Vermögen. Alle anderen Kräfte, Fähigkeiten und Leidenschaften erscheinen diesen zwei Vermögen untergeordnet und regen sich nur auf ihren Befehl. Das Begehrungsvermögen ist jenes, das uns lieben und wünschen läßt, was uns gut und nützlich scheint; es läßt uns Freude empfinden im Glück und Traurigkeit im Unglück, in der Abtötung und in allem, was unserem Eigenwillen widerstrebt. Das aufbrausende Vermögen erzeugt den Kummer, den Widerwillen, die Regungen des Zornes, der Verzweiflung und ähnliches. Unser Herr will nun, daß wir von ihm lernen, das alles der Herrschaft der Vernunft unterzuordnen. Und wie wir ihn durch seine hochgebenedeite Mutter mit Windeln und Bändern gewickelt und gebunden sehen, so will er uns aneifern, alle unsere Leidenschaften, Anhänglichkeiten und Neigungen zu binden, schließlich alle unsere inneren und äußeren Kräfte, unsere Sinne und Säfte und alles, was wir sind, durch die Bande des heiligen Gehorsams zu binden, um uns künftig nicht mehr selbst zu leiten, noch über uns selbst zu bestimmen, aus Furcht, davon einen schlechten Gebrauch zu machen, außer in dem Maß, als es der Gehorsam uns erlauben kann.
Seht doch dieses überaus liebliche Kind, das sich von seiner hochgebenedeiten Mutter so sehr lenken und führen läßt, daß es in keiner Weise anders zu können scheint. Das hat keinen anderen Grund, meine Lieben, als den, uns zu zeigen, was wir tun müssen, vor allem die Ordensfrauen, die Gehorsam gelobt haben. Ach, Unser Herr, dessen Wille und dessen Freiheit unermeßlich sind, wollte trotzdem, daß alles unter den Windeln verborgen sei, auch das Wissen und die ewige Weisheit (Kol 2,3 ) mit allem, was er als Gott besaß, wesensgleich mit dem Vater, so der Gebrauch der Vernunft, die Fähigkeit zu sprechen, kurz alles, was er im Alter von dreißig Jahren tun sollte. Alles ohne Ausnahme wurde verschlossen und verborgen unter dem Schleier des heiligen Gehorsams, den er seinem Vater leistete, der ihn verpflichtete, sich in nichts von den anderen Kindern zu unterscheiden, wie der hl. Paulus (Hebr 2,17) sagt, daß er in allem seinen Brüdern gleichen mußte.
Es bleibt uns noch zu sagen, daß das Geheimnis der Geburt Unseres Herrn ein Geheimnis der Heimsuchung ist. Wie die allerseligste Jungfrau ihre heilige Base Elisabet besucht hat, so müssen wir während dieser Oktav recht oft das göttliche Kindlein besuchen, das in der Krippe liegt. Da werden wir vom höchsten Hirten der Hirten lernen, unsere Herde zu leiten und zu lenken, so daß sie seiner Güte wohlgefällig ist. Aber die Hirten kamen ihn ohne Zweifel nicht besuchen, ohne ihm einige kleine Lämmer zu bringen; so dürfen auch wir nicht mit leeren Händen kommen, sondern müssen etwas mitbringen. Doch sagt, was können wir dem göttlichen Hirten bringen, was ihm wohlgefälliger wäre, als das kleine Lamm unserer Liebe, die der vorzüglichste Teil unserer geistlichen Herde ist. Die Liebe ist ja die erste Leidenschaft der Seele. Wie wird er uns wohlgeneigt sein wegen dieses Geschenkes, meine lieben Schwestern, und mit welch großer Genugtuung wird es die heilige Jungfrau entgegennehmen wegen ihres Verlangens nach unserem Wohl. Das göttliche Kind wird uns zum Dank für unser Geschenk und als Zeichen seiner Freude darüber mit seinen gebenedeiten lieblichen Augen ansehen. Wie glücklich werden wir sein, wenn wir den teuren Erlöser unserer Seelen besuchen. Wir werden unvergleichlichen Trost empfangen, und wie das Manna den Geschmack hatte, den jeder wünschen konnte, ebenso kann jeder Tröstung finden, wenn er dieses überaus liebliche Kindlein besucht.
Die Hirten besuchten es und empfanden darüber sehr große Freude. Sie kehrten zurück, sangen das Lob Gottes und verkündeten allen, denen sie begegneten, was sie gesehen hatten (Lk 2,20). Doch der hl. Josef und die glorreiche Jungfrau empfingen unvergleichlich größere Tröstungen, weil sie bei ihm blieben, um ihm nach ihrem Vermögen zu dienen. Die fortgingen und die blieben, wurden alle getröstet, aber nicht in gleichem Maß, sondern jeder nach seiner Fähigkeit.
Hanna, die Mutter Samuels, blieb lange Zeit kinderlos. Das verursachte ihr so große Bitterkeit, daß man sie nie in gleicher Stimmung fand (1 Sam 1,18). Denn wenn sie Frauen sah, die sich mit ihren Kindern freuten, dann klagte sie und härmte sich, weil sie keine hatte. Und wenn sie welche sah, die sich über ihre Kinder beklagten, dann freute sie sich, daß Gott ihr keines geschenkt hatte. Doch sobald sie den kleinen Samuel hatte, sah man sie nie mehr schwankend. Wir haben ohne Zweifel einige Entschuldigung, daß wir uns beklagen und wankelmütig sind in unserer Stimmung, solange wir dieses so liebenswürdige Kind nicht hatten, das eben geboren wurde oder morgen geboren wird. Künftig aber wird uns das nicht mehr erlaubt sein, denn in ihm besteht aller Grund für unsere Freude und unser Glück.
Die Bienen finden keine Ruhe, solange sie keine Königin haben: sie fliegen unablässig durch die Luft, zerstreuen und verirren sich und finden doch keine Rast in ihrem Bienenkorb. Sobald aber ihre Königin geboren ist, bleiben sie um diese versammelt und fliegen nur aus, um Honig zu sammeln, und anscheinend nur auf Befehl oder mit Erlaubnis ihrer Königin. Dasselbe gilt für unsere Sinne, unsere inneren Kräfte, die Fähigkeiten unserer Seele als geistige Bienen. Bis sie einen König haben, d. h. bis sie unseren neugeborenen Herrn zu ihrem König erwählt haben, finden sie keine Ruhe. Unsere Sinne verirren sich ständig und ziehen unsere inneren Fähigkeiten an sich, um sich bald an den Gegenstand zu hängen, dem sie begegnen, bald an einen anderen.So ist das nur ein dauernder Zeitverlust, Anstrengung des Geistes und Ruhelosigkeit, die uns den Frieden und die für unsere Seele so notwendige Gemütsruhe verlieren läßt. Sobald sie aber Unseren Herrn zu ihrem König erwählt haben, müssen sie sich nach der Art keuscher mystischer Bienen um ihn scharen und dürfen ihren Bienenstock nur verlassen, um Übungen der Liebe zu sammeln, die er ihnen dem Nächsten zu erweisen gebietet. Dann müssen sie sich sogleich zurückziehen und um ihn scharen, um den Honig heiliger, liebevoller Eindrücke zu sammeln und zu bewahren, die sie von der heiligen Gegenwart unseres höchsten Herrn gewinnen. Er wird durch einfache Blicke, die er auf unsere Seele richtet, in ihr unvergleichliche feurige Wünsche entfachen, ihm zu dienen und ihn immer vollkommener zu lieben.
Das ist die Gnade, die ich euch wünsche, meine Lieben, daß ihr euch nahe dem heiligen Erlöser aufhaltet, der kommt, um uns um sich zu scharen, damit wir stets unter der Fahne seines hochheiligen Schutzes bleiben, sei es, daß er als der Hirte Sorge trägt für seine Schafe und seine Herde, sei es als König der Bienen. Von der Bienenkönigin sagt man ja, daß sie so für ihre Bienen sorgt, daß sie den Bienenstock nie verläßt, ohne von ihrem ganzen kleinen Volk umgeben zu sein. Seine Güte möge uns die Gnade erweisen, daß wir seine Stimme hören, wie die Schafe die ihres Hirten (Joh 10,27), damit wir ihn als unseren obersten Hirten anerkennen, uns nicht verirren und nicht auf die Stimme des Fremden hören, der sich wie ein höllischer Wolf in unserer Nähe aufhält in der Absicht, uns zu verderben und uns zu verschlingen (1 Petr 5,8). Mögen wir ebenso die Treue zu halten vermögen, uns seinem Willen und seinen Geboten ergeben, gehorsam und unterworfen zu halten, wie es die Bienen ihrer Königin gegenüber tun, damit wir auf diese Weise mit Hilfe der Gnade Gottes in diesem Leben zu tun beginnen, was wir im Himmel ewig tun werden. Dorthin mögen uns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
nach oben | Übersicht Salesianische Predigten | Übersicht Franz von Sales-Predigten