Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar/Februar 2003

Als wärst du einzig auf der Welt
Für Gott sind alle etwas Besonderes

Es ist eine schöne Erfahrung, so geliebt zu werden, als sei man einzig auf der Welt. Und sie ist für den Christen keine Illusion. Denn er darf glauben, dass Gott ihn genau so liebt. Für Franz von Sales war dies der Motor seines Lebens. Ebenso für P. Hans Wessling OSFS, der davon viel zu berichten weiß.

Jesus Christus hat an jeden einzelnen von uns so sehr gedacht, als ob er sich um alle anderen nicht kümmerte. 
 Franz von Sales (vgl. DASal 1,257)

Da sagte mir neulich ein lieber Mitbruder: „Je älter ich werde, um so mehr habe ich die Gewissheit, dass Gott mein ganzes Leben mit seiner Liebe begleitet hat.“
„So empfinde ich es auch“, antwortete ich ihm.
Aber wie ist es mit den anderen, mit denen, die am Rand leben, die nie im Leben emotional die Liebe Gottes verspüren. Liebt er sie auch, und liebt er sie ebenso grenzenlos mit unendlicher Liebe?

Klopfen an die Himmelspforte
Ein Sprichwort sagt: „Träume sind Schäume.“ Das mag oft stimmen, aber nicht immer. Die Josefsgeschichten des Alten und des Neuen Testamentes sprechen beide von Träumen, die Erfüllung fanden. Viele Menschen haben im Laufe der Geschichte Ähnliches erlebt.
Es ist noch gar nicht so lange her, da hatte ich einen Traum, der mich seitdem begleitet. Ich träumte, ich sei soeben gestorben. Da kam ich an der Himmelspforte an. Sie stand offen. Eigenartige Gestalten empfingen mich. Sie standen Spalier. Die ersten, direkt an der Tür, erkannte ich. Es waren vier ehemalige Zuchthäusler: Ewald, Michael, Günther und Walter.
Vor ihnen aber stand noch Helmut mit einem großen Blumenstrauß und hieß mich im Namen aller willkommen. Ausgerechnet Helmut! Helmut war nie im Zuchthaus, er hat keinen umgebracht. Aber mehr als einmal saß er im Knast. Er war Exhibitionist. Ich durfte vielen begnadigten Lebenslänglichen Freund werden. Ewald, Michael, Günther und Walter gehören dazu. Sie sind bereits verstorben. Sie waren Menschen wie du und ich. Ich würde sie als Konflikttäter bezeichnen. Wenn ich Einblick in die Unterwelt bekommen habe, in eine Welt, wo alle bürgerlichen Maßstäbe gleichsam auf den Kopf gestellt sind, dann haben nicht sie, sondern die Begegnung mit Helmut mich diese Welt ahnen lassen.

Eine halbe Stunde Zeit
Als ich von diesem Traum erwachte, dachte ich an Jesu Wort: „Die Letzten werden die Ersten sein!“ (Mt 19,30)
Meine Gedanken gingen um viele Jahre zurück: 24. Januar 1978 – Fest des heiligen Franz von Sales. Es ist bereits 21 Uhr. Da läutet es an der Tür. Helmut steht dort, triefend vor Regennässe. „Komm herein“, sage ich. „Ich habe aber nicht viel Zeit. Eine halbe Stunde, dann muss ich weiterarbeiten.“
„Es ist schön, dass du trotzdem noch ein wenig Zeit für mich hast“, erwidert Helmut.
Ich hole eine Flasche Bier. Helmut setzt sich. Wir haben uns fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Am Telefon lernten wir uns kennen, mitten in der Nacht. Seitdem ruft Helmut immer wieder an. Oft sind es lange Gespräche.
„Was hast du denn heute noch vor?“ fragt Helmut.
„Ein neues Buch steht vor dem Abschluss. Das Manuskript soll morgen an den Verlag gehen.“
Helmut interessiert sich. Beim Entstehen meines zweiten Buches „Außenseiter wollen leben“ hatte er Pate gestanden. In einem Tonbandprotokoll hat er hier die Not einer gequälten, einsamen Seele ausgeschrieen.

Einer liebt mich immer
„Was ist denn jetzt der Titel?“ will Helmut wissen. Ich antworte: „Einer liebt mich immer!“ Helmut heult auf: „Liebe, Liebe, die kann man nicht lernen …“ Erschütternde Worte kommen aus seinem Mund. „Hans, Liebe muss einem gegeben werden! Ich habe nie Liebe erfahren. Mich hat nie einer gedrückt, ich bin einsam! Liebe, das gibt es doch nicht … Da könnte es höchstens einen geben. Mit zwölf Jahren las ich einmal ein Kalenderblatt. Darauf stand geschrieben: ‚Dieser ist mein geliebter Sohn …‘ Dieses Wort habe ich nie vergessen. Da hab ich gespürt, er meint mich …‘“ „Ja, Helmut, diesen Einen meine ich, er liebt dich genauso wie mich, wie jeden Menschen!“
Helmut ist wieder fort. Nachdenklich sitze ich an meinem Schreibtisch. Vor meinen Augen zieht eine Kompanie Außenseiter vorbei, denen ich begegnet bin, himmelschreiende Not, gequälte Herzen, Auswurf der Menschheit! Aber alles Geschöpfe Gottes! Ich bin zutiefst überzeugt, dass Er sie alle liebt, so liebt, als wären sie alleine auf der Welt!
Helmut verkehrte in Kreisen, welche die bürgerliche Welt Unterwelt nennt. Auch hierhin kommt Gottes Gnadenruf. Noch tiefer, bin ich nach Helmuts Besuch überzeugt. Welche Konsequenz ergibt diese Erfahrung aber für mich? Ich habe den Schluss für mein Buch „EINER LIEBT MICH IMMER“ gefunden.
Ich durfte Gottes Liebe spürbar in meinem Leben erfahren, ja das stimmt. Davon muss ich Zeugnis geben.
Diese Liebe, die ich verspüren durfte, ist aber kein Privatbesitz. Liebe muss weitergegeben werden. Wo das nicht geschieht, da werden die Ersten die Letzten sein! Wem viel Liebe geschenkt wurde, von dem wird einmal viel verlangt.

P. Hans Wessling ist Oblate des hl. Franz von Sales und lebt im Salesianum Paderborn, Nordrhein-Westfalen

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