Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar / Februar 2004

Die Vision
P. Herbert Winklehner OSFS

Am 5. März 2004 werden es genau 400 Jahre, dass sich der hl. Franz von Sales und die hl. Johanna Franziska von Chantal zum ersten Mal begegneten. Aus Anlass dieses Jubiläums berichten wir in diesem LICHT-Jahrgang ausführlich über die Beziehung dieser beiden Heiligen.

Das Leben der 29-jährigen Johanna Franziska von Chantal war im Jahre 1601 ordentlich durcheinandergeraten. Ihr Mann Christoph war tot. Getötet von einem Freund während der Jagd. Eine Woche nachdem er seinen Dienst in Paris beim König von Frankreich quittiert hatte, um sich ganz seiner Familie zu widmen.

Wie soll es weitergehen?
Nun hatte sie die Verantwortung für diese Familie allein zu tragen. Vier kleine Kinder. Celsus, ihr ältester Sohn, war gerade fünf, Marie-Aimée drei, Françoise zwei Jahre alt, und die kleine Charlotte hatte sie erst vor einem halben Jahr geboren ... Dann das riesige Schloss Bourbilly mit den vielen Gütern und den Bediensteten. Dazu der Schwiegervater auf Schloss Monthelon, der ihr gedroht hatte, ihre Kinder zu enterben, sollte sie den Plan haben, zurück in ihr Geburtshaus nach Dijon zu ihrem Vater, den Ratspräsidenten, zurückzukehren. Der Schwiegervater wollte, dass sie sich auch um ihn und seine Besitztümer kümmere.
Eine Menge Gedanken gingen Johanna durch den Kopf, als sie endlich eine Stunde lang Zeit fand, sich von den Problemen ihres Lebens loszureißen und auszureiten.
Christoph war der erste Mensch gewesen, der ihr wirklich das Gefühl gab, liebenswert zu sein. Er war ihr Traumehemann. Sie war verliebt über beide Ohren. Als kaum einjähriges Kind hatte sie bereits ihre Mutter verloren, als diese bei der Geburt ihres Bruders André starb. Sie wurde zunächst bei ihrer Tante aufgezogen, später musste sie mit ihrer älteren Schwester Margarete zur Familie ihres Ehemannes ziehen. Ihr Vater Benigne Fremyot hatte für seine Kinder kaum Zeit. Seine Amtsgeschäfte verlangten seine ganze Aufmerksamkeit. Außerdem war Kinderziehen immer schon die Angelegenheit der Ehefrau. Die aber war tot.
Christoph wurde ihr zugeteilt, wie eben üblich. Aber sie hatte großes Glück. 1592 wurde sie mit einem Mann verheiratet, den sie liebte und der sie liebte. Endlich hatte sie jene Geborgenheit gefunden, die sie immer gesucht hatte. Nun – nach fast 10-jähriger Ehe – war Christoph tot. Wie hatte sie sich gefreut, als er ihr noch vor wenigen Wochen mitteilte, dass er den Dienst am Königshof aufgeben und ab jetzt ganz für sie und die Kinder dasein wollte. Endlich eine wirkliche Familie zu sein, mit Vater, Mutter, Kindern, Heim! Dieser Traum zerplatzte mit der Kugel, die sich unglücklicherweise aus der Flinte des Freundes löste, als beide eine Woche nach der Rückkehr aus Paris auf die Jagd gingen.
Sie schrie in den Himmel: Warum Gott musste das alles sein? Wo ist meine Schuld für diese Strafe? Wie soll das jetzt weitergehen?

Die Mühle
Johanna ritt am Wald entlang, in die Nähe der Mühle, zu der sie und Christoph stets am Abend ritten, bevor er sie nach Paris verlassen musste. Es waren schöne Stunden gewesen, Stunden des Abschieds zwar, aber doch glückliche Stunden der Zweisamkeit. Da sah sie plötzlich einen Mann bei der Mühle auf einem Pferd sitzen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass dieser Mann es sein wird, der ihr aus all den Tragödien heraushelfen wird. Dieser da wird dir helfen, meinte sie eine Stimme zu hören. Sie wollte losreiten, um diesen Mann einzuholen, zu fragen, wer er sei, woher er komme. Doch der Mann war nicht mehr da.

Drei Frauen
In Annecy dachte Franz von Sales, Dompropst und Koadjutor des Bischofs mit Nachfolgerecht, über seine Zukunft nach. Er hatte viele Pläne. Seine Reise nach Rom 1598 kam ihm ständig in den Sinn. Jene Gemeinschaft, die er dort kennenlernte und die von der hl. Franziska von Rom gegründet wurde, faszinierte ihn. Eine ganz neue Gemeinschaft von Frauen, ohne die Strenge der Klausur der üblichen Klöster, zum Dienst an den Menschen beauftragt, besonders für die Armen und Kranken, und dennoch aus einer tiefen Frömmigkeit und Gottesbeziehung heraus lebend und arbeitend. Die heiligen Marta und Maria in einer Gemeinschaft vereint: die auf das Wort Gottes hörende und die aktive, tätige. So eine Gemeinschaft müsste man doch auch hier gründen können.
Als Franz von Sales in Gedanken durchs Fenster hinaus auf die Straße seiner Stadt Annecy blickte, der er irgendwann als Bischof dienen sollte, meinte er plötzlich eine Gruppe von drei Frauen zu sehen, die durch diese Straße geht, von Tür zu Tür. Sie pflegen Kranke, geben Armen Almosen, dienen Gott in den Menschen, die besonders seiner Hilfe bedürfen. Die erste Frau der Dreiergruppe zog ihn besonders in den Bann, nicht nur wegen ihrer außergewöhnlichen Schönheit, sondern vor allem wegen ihrer Anmut, Stärke und Ausstrahlungskraft. Diese Frau, so war ihm, wird mir helfen, meine Idee zu verwirklichen.
Kaum hatte Franz von Sales begriffen, was ihm da in den Sinn gekommen war, verschwand seine Vision.
Es sollte noch zweieinhalb Jahre dauern, bis sich Johanna Franziska von Chantal und Franz von Sales tatsächlich von Angesicht zu Angesicht begegnen werden. Sie wussten aber sofort, dass sie sich beide schon einmal gesehen hatten.

P. Herbert Winklehner ist Oblate des hl. Franz von Sales, Chefredakteur der Zeitschrift LICHT und Leiter des Franz Sales Verlages in Eichstätt, Bayern.

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