Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar / Februar 2004

Erkenntnis eines Karrieremenschen
Carolin Rixner

Er war ein Karrieremann – endlich. Es hatte lange gedauert, bis er sich hochgearbeitet hatte, und es war keine einfach Sache gewesen. Viele wollten nach oben an die Spitze, Macht haben, das große Geld verdienen. Er hatte es geschafft. Er hatte erbarmungslos die Ellenbogen benutzt, um Konkurrenten außer Gefecht zu setzen.

Liebe brauche ich nicht
Nun hatte er also seinen Sitz in der Chefetage, eigene Mitarbeiter, an denen er seine Wut auslassen konnte, wenn ihm danach war, und das nötige Kleingeld, um sich ein Leben zu leisten, das seinen Wünschen entsprach. Privates gab es nicht viel. Gutaussehend war er nicht, aber reich, und so gönnte er sich hin und wieder wechselnde Frauenbekanntschaften, um seinen Spaß zu haben. Doch schon nach kurzer Zeit wurde die Unglückliche von der Bettkante gestoßen und zählte zur Vergangenheit. Liebe – das hatte er für sich entschieden – brauchte er nicht. Das war etwas für Weichlinge, und er musste hart sein, durfte keine Schwäche zeigen. Schwäche war die Bremse des Erfolgs. Schon seine Eltern hatten ihm das beigebracht. Die Mutter hatte ihn ausgeschimpft, wenn er sich nicht „wie ein Mann“ verhielt, denn „so würde er es nie zu etwas bringen“, und der Vater hatte ihn nicht selten verprügelt. „Ein Mann heult nicht“, war stets sein einziger Kommentar gewesen.

Wieder nur eine Affäre
Eines Morgens traf er, als er am späten Vormittag in sein Büro kam, eine junge Mitarbeiterin an, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Sie begegneten sich nur flüchtig auf dem Flur, doch irgendetwas fesselte ihn, sodass er innehielt und ihr nachsah. Das Mädchen war hübsch und er wusste, dass er Frauen nur durch seine ausgezeichnete Stellung und seinen dicken Geldbeutel für sich begeistern konnte. Das hatte ihm jedoch noch nie etwas ausgemacht.
Bis zum Abend hatte er eine Verabredung mit dem Mädchen. Stolz fuhr er sich mit einem Kamm durch die Haare, glättete seinen Anzug und richtete seine Krawatte gerade hin. Er war in guter Stimmung, wenn er an das Rendezvous und das, was danach kam, dachte.
Er führte sie ins teuerste Restaurant der Stadt. Sie schien wenig beeindruckt und unterhielt sich höflich, aber distanziert mit ihm. Das forderte ihn heraus. Sie gefiel ihm immer besser. Nach dem Essen lud er sie in seine Wohnung ein. Er erwartete Begeisterung, doch die luxuriöse Einrichtung ließ sie sichtlich kalt. Nun gut, dachte er bei sich, wenn sie es nicht mit den materiellen Dingen hatte ... Er näherte sich ihr, legte seinen Arm um ihre zierlichen Hüften und zog sie sanft in Richtung Schlafzimmer, wo er sie aufs Bett drückte. Während er sich an seiner Hose zu schaffen machte, saß sie nur still da und beobachtete ihn. Das störte ihn, obwohl ihre Augen wunderschön waren. „Was ist?“ fragte er etwas zu barsch.

Du bist liebenswert
„Du bist liebenswert“, antwortete sie schlicht. „Ja, ich weiß“, gab er zurück, immer noch eine Spur zu unfreundlich. Ihm war jetzt nicht nach einer Unterhaltung zumute.
„Du bist liebenswert“, wiederholte sie nur. „Hmhm“, brummte er und wollte sie an sich drücken. Doch sie schob ihn von sich. „Du bist liebenswert.“
Mit einer Mischung aus Irritation und Wut sah er sie an. Was war denn nun los? Platte hängen geblieben?
Ihre Augen trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, aber das reichte aus, dass sich in seinem Kopf plötzlich eine Tür auftat. Was tat er hier? Was wollte er? Wer war er? Was hatte er aus seinem Leben gemacht? Lebte er wirklich? Tausende von Fragen schwirrten durch sein Gehirn, Fragen, die er sich noch nie zuvor gestellt hatte. Sie zeichneten ein unbarmherziges Bild: Einen machthungrigen, egoistischen, gefühlskalten, abstoßenden, ungerechten Mann. Und doch hatte diese Frau eben zu ihm gesagt, er sei liebenswert.
Langsam glitt er neben seinem Bett zu Boden, denn er fühlte sich schwach. Die Gedanken kreisten noch immer in seinem Kopf und er begann zu verstehen, dass sein „hartes“ Leben eigentlich nur aus verdeckten Schwächen bestand. Und die größte Schwäche war seine fehlende Liebe.
„Du bist liebenswert“, wiederholte sie noch einmal und strich ihm zärtlich durch die Haare. Dann ließ sie ihn allein. Tränen stiegen ihm in die Augen, erschöpft ließ er ihnen freien Lauf.

Carolin Rixner lebt in Landershofen und besucht die Euro-Sprachenschule in Ingolstadt, Bayern

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