Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar / Februar 2004

Frohes Neues Jahr
P. Ferdinand Karer OSFS

Der Tag hat lange begonnen. Freilich, keine Vögel, die einen wecken hätten können, kein Hahn, keine Eltern, kein Kind. Ein ruhig-leeres Erwachen.
Ihr Appartement lag am Rande der Stadt, fast im Grünen. Sie wollte es noch einmal wissen – letzte Nacht. Und heute: Neujahrstag. Klebriger Gaumen. Raue Zunge.

Sie zog die Vorhänge zur Seite, scheint ein sonniger Tag zu sein. Das neue Jahr beginnt gut, beginnt sonnig.
Im Bad braucht sie Licht, kein Fenster, das die Sonne hereinlässt. Eigentlich möchte sie eine gutgefüllte Handschale kalten Wassers im Gesicht. So ein bisschen eintauchen und Frische spüren. Im Wasser des Lebens einen neuen Tag beginnen und dann den Mund spülen.
Wär da nicht der Spiegel, so riesig groß – vom Waschbecken bis zur Decke. Sie will da heute noch nicht schauen. Immer dieser Spiegel, der einem eine Wirklichkeit vorgibt, die eigentlich nicht wirklich sein darf. Alles schlapp, zu fett, faltig, ja ekelerregend.
Doch es geht ganz einfach nicht, nicht zu schauen. Mit dem Versuch den Wasserhahn aufzudrehen, kommt automatisch dieser Blick. Dieser Blick in den Spiegel, der ihr gnadenlos ihren Körper in die Augen wirft. Sie geht in die Küche und erfrischt ihr Gesicht – mit eiskaltem Wasser. Sie muss ziemlich laut lachen. Ausgetrickst, denkt sie. Sie spült ihren Mund – mit lauwarmen Wasser. Die Espressomaschine schenkt ihr eine Tasse Kaffee. Und bevor sie trinkt, lässt sie das Aroma in die Nase steigen. Einfache Kreise zieht ihre Nase und mit ihr der Kopf, so als wollte sie Aroma rühren. Sie denkt nichts und trinkt. Noch einmal ein wenig riechen, bevor sie die Tasse zur Gänze entleert. Zurück ins Schlafzimmer. Verbrauchte Luft. Sie öffnet das kleine Fenster sperrangelweit. Bleibt ein wenig stehen, atmet tief.

Die Sonne hat beinah den winterlichen Zenit erreicht, freilich nicht sehr hoch, aber doch. Und sie kann’s. Tief in die Lungen geht die Luft, und die Sonnenstrahlen schenken der Haut Leben. Sonnende Wärme. Luft, die sie braucht. Wasser voll Leben. Leben!
Leben ja, lieben? Silvester war nicht liebenswert. Und die Menschen! Ich weiß nicht, denkt sie, es liegt an mir. Ich hab viel verloren. Gut warm wird mein Körper inmitten von Frische. Ich muss noch ein wenig hier stehen bleiben, atmen.

Das Telefon klingelt. Sie hebt nicht ab, lediglich ihre Arme hoch, verschränkt die Hände, lässt sie in den Nacken sinken, so dass der Kopf gut darin ruhen kann. In den Achselhöhlen wird es kalt. Vor ihrem Mund treffen ihre Ellbogen aufeinander, ein dumpfer Ton in den Ohren. Immer wieder. Sie spielt solange mit ihren Armen, bis die Achselhöhlen keinen Temperaturunterschied mehr kennen, bis ihnen egal ist, ob Fleisch geschützt oder dem Winter ausgesetzt.
Noch eine Weile bleibt sie stehen. So, denkt sie, und jetzt raus. Sie geht zum Kasten, kleidet sich, kommt ins Badezimmer, blickt in den Spiegel, muss lachen, findet sich gar nicht so unerträglich.
Im Stiegenhaus begegnet sie der Nachbarin. Die beiden sehen sich selten. Die Nachbarin wohnt ein paar Stockwerke über ihr und die Stufen machen ihr zu schaffen.

„Ein recht schönes, gutes neues Jahr“, wünscht sie der Nachbarin. Die Nachbarin ist ein wenig irritiert. Im Stiegenhaus wird nicht so viel geredet. „Danke! Ihnen auch alles Liebe!“, sagt die ältere Frau über die Freundlichkeit ihrer Nachbarin überrascht.
„Das Neue Jahr beginnt gut, ich treff heut so viele liebenswerte Menschen“, sagt sie noch, fast schon ein wenig für sich, als sie Treppen weiter nach oben geht. Und sie hopst irgendwie leichten Schrittes nach unten zur Ausgangstür.
Liebenswerte Menschen, denkt sie, als sie schon draußen auf der Straße ist, unterwegs zum Fluss, der nur wenige hundert Meter hinter ihrer Wohnung die Stadt vergessen lässt. „Liebenswert“, das hat schon lange niemand mehr zu mir gesagt. Liebenswert. Ein Wert. Sie denkt an ihren Badezimmerspiegel, muss lächeln und geht zu ihrem Fluss.

P. Ferdinand Karer OSFS ist Oblate des hl. Franz von Sales und Leiter des Gymnasiums Dachsberg, Oberösterreich

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