Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Januar/Februar 2003

Schau auf jeden einzelnen Schritt
Eine Bergerfahrung

Einem Ziel kann man sich nur Schritt für Schritt nähern. Es ist besser, auf diese konkreten Schritte in der Gegenwart zu schauen, als verbissen
das Ziel in der Ferne in den Blick zu nehmen. Schon Franz von Sales
wusste darum und Hans Leidenmühler OSFS hat sehr anschauliche Erfahrungen damit bei einer Bergwanderung gemacht.


Wenn euch jemand fragt:
„Was wollt ihr morgen tun?“,
so antwortet: „Heute tu ich,
was mir für heute aufgetragen ist; was ich morgen tun werde, weiß ich nicht, denn ich weiß nicht, welchen Auftrag ich morgen erhalte.“

Franz von Sales (DASal 2,110)

Warum ist es so notwendig, in der Gegenwart zu leben? Die Gegenwart ist jener Augenblick, an dem sich Leben ereignet; sie ist meine Zeit und meine Chance, die ich sonst nirgends habe. Und: Sie birgt viel Kraft und Energie in sich.

Schwieriger Weg zu idyllischem Ziel
Ich kann mich noch gut an ein Erlebnis erinnern, das mir damals eine wichtige Einsicht in meine Lebensgestaltung gebracht hat: Ich gehe leidenschaftlich gerne Bergwandern, so war ich vor einigen Jahren gemeinsam mit meiner Schwester in den Schweizer Bergen.
Mit Hilfe eines Wander-Reiseführers suchten wir uns schöne Almen und Plätze aus, zu denen wir wandern wollten. In diesem Buch war eine Alm angepriesen, wunderschön in den Bergen gelegen, mit Gebirgssee und traumhafter Idylle. Uns war klar: Da wollen wir hin; der angekündigte Aufstieg – etwa vier Stunden – schien uns angesichts des schönen Zieles machbar, die Vorfreude war groß. Was wir nicht bedachten: der Weg war lang anhaltend steil, ein kleiner Trampelpfad durch Wald und Gebüsch.
Die schöne Aussicht, die ich bei den Wanderungen sonst immer genieße, und die mir das Gehen leichter machte, gab es hier nicht. Wald und Gebüsch verstellten diese. Dementsprechend war der Weg mühsam, das versprochene Ziel schien noch in weiter Ferne. Im Grunde war ich auf mich gestellt, ohne jede Ablenkung. Meine Schwester rebellierte bereits und wollte die Aktion abbrechen. Da fiel mir plötzlich die Geschichte von Beppo dem Straßenkehrer ein (in der Erzählung „Momo“ von Michael Ende): Die tägliche Aufgabe von Beppo war es, eine riesig lange Straße zu kehren. Wenn er während der Arbeit aufblickte und die Straße vor sich sah, die er noch zu säubern hatte, hätte er am liebsten alles aufgegeben, so aussichtslos war dieses Unterfangen. Aber was machte Beppo? Er ließ sich nicht beirren, weder von der Länge der Straße noch von dem, was er noch alles vor sich hatte; das hätte ihn nur in Trostlosigkeit versetzt. Stattdessen blieb er bei dem, was gerade dran war: Schritt für Schritt, Besenstrich um Besenstrich – so tat er in Ruhe sein Werk. Wenn er von Zeit zu Zeit zurückblickte, dann freute er sich, was er schon alles geschafft hatte.

Langsam, aber sicher
Diese Geschichte erzählte ich meiner Schwes-ter, und sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Schritt für Schritt – dem Atem und unserem eigenen Tempo angepasst – gingen wir langsam bergauf. Eigenartig: Das Ziel bestimmte gar nicht mehr so sehr unsere Gedanken, das Gehen wurde leichter; wir entdeckten, dass wir eigentlich noch viel Kraft haben. Weil wir uns auf die Gegenwart konzentrierten, spürten wir die Enttäuschung nicht mehr so stark, noch nicht am Ziel zu sein.
Der Weg bekam auf einmal eine eigene Wichtigkeit. Wenn wir von Zeit zu Zeit zurückschauten, dann wunderten wir uns, dass wir schon soviel zurückgelegt hatten, obwohl wir sehr langsam gingen. Wir erreichten unser Ziel – Schritt für Schritt. Die Alm mit dem See war traumhaft, wir genossen den Blick, die Ruhe, die gesunde Müdigkeit. Mindestens genauso wertvoll aber wurde mir der Weg dorthin. Ich möchte ihn nicht missen. Ich habe erfahren, welche Kraft und welches Leben in der Gegenwart liegt.

Weg und Ziel – gleich wichtig
Wie viel Energie verschwenden wir doch damit, dass wir ständig auf ein Ziel hin fixiert und dann enttäuscht sind, dass wir noch nicht dort sind. Rückblickend wiederum ärgern wir uns, weil wir noch nicht mehr geschafft haben. So wichtig es ist, ein Ziel zu haben, ebenso wichtig ist der Weg dorthin, das Gestalten und Erleben dieses Unterwegsseins.
Wir möchten immer möglichst schnell vorankommen. Worauf es aber letztlich ankommt, ist nicht, wie schnell ich mein Ziel erreiche, sondern: dass ich dort, wo ich gerade stehe, wahrhaftig bin. Es geht um das JETZT, um das HIER und HEUTE. Der Rest geht von alleine.

Hans Leidenmühler ist Oblate des hl. Franz von Sales.
Er ist Provinzökonom und lebt in der Pfarrei Maria Schmerzen in Wien, Österreich.

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