Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Mai / Juni 2004
Wer ständig leidet, wird Ihn nie finden
Katharina Grabner-Hayden
Sonntag, 9 Uhr, Gottesdienst. Wir haben uns in der Fastenzeit vorgenommen,
regelmäßiger in die Kirche zu gehen. Es war ein Überzeugungskampf.
Eltern gegen Kinder. Wir setzen uns diktatorisch durch. Ärgerlich
und schwitzend lasse ich mich mit meinen Lieben in der kalten Kirche nieder.
Vorher Kampf und nun trautes Familienglück. So ist
es eben, und ich bestehe auf ein wenig Tradition. Ihre Blicke töten
mich. „Kirchen sind halt kalt und unbequem, man spürt die Demut
dann besser“, hat man uns bereits als Kinder erzählt. Ich hüte
mich vor diesen Argumenten, die Kinder würden es nicht verstehen.
Nach gut zwanzig Minuten in der Bank herumgerutscht, bin ich bereits meiner
Uhr, Schminksachen aus der Handtasche, Führerschein und sonstigen
Kleinutensilien entledigt, Spiele, damit die Kinder endlich Ruhe geben.
Plötzlich steht mein Jüngster auf und sagt: „Ich
geh jetzt. ER ist sowieso nicht da. Ich muss hinaus.“ Ich lasse
ihn gewähren, damit ich wenigstens den restlichen Teil der Predigt
hören kann, und die Menschen neben mir atmen auf. Wir stören
sie in ihrer Andacht.
Aber auch ich kann mit den unheilsprophezeienden Worten des Priesters
nichts anfangen.
Die Luft ist geschwängert von Weihrauch und kultivierter Selbstgeißelung.
Was sind wir nicht alle für schreckliche Wesen, oh Haupt voll Blut
und Wunden. Vorösterliche Trauer, da klingeln die Kassen. Immer werden
sie aufgerissen die Pflaster des Schweigens und Vergessens. Wenigstens
einmal im Jahr in der Fastenzeit heruntergerissen und lüsternd beleckt
man sich die Wunden, wohlwissend, dass man mit den kleinen Fastenwürfelchen
und den Spendengeldern seine Enthaltsamkeit und Genügsamkeit erkaufen
kann.
Moderner Ablass? Selbstzufrieden und genau für eine Stunde nehmen
wir die Last einer kalten Kirche auf uns, ein Relikt aus vergangenen Tagen
oder eine Aufforderung zu mehr Demut, um Gott zu bitten für eine
bessere Ernte, ein schöneres Sterben, politische Einsicht, besseren
Job, bessere Beziehung, bessere Noten und und und … für ein
besseres Leben.
Gott, was für eine Hybris, sticht es mir plötzlich
mitten ins Herz. Wir, wir getrauen uns zu bitten? Wir bitten um noch mehr
Leben, wohlwissend dass genau in der Stunde wieder tausende Menschen verhungern.
Wir bitten um noch mehr Leben, wo Kinder misshandelt und verstümmelt
um ein bisschen Zuneigung wimmern. Wir bitten um noch mehr Leben, wo Mauern
gebaut werden, um Menschen zu trennen. Wir bitten um noch mehr Leben,
wo Frauen systematisch vergewaltigt werden. Wir bitten um noch mehr Leben,
wo der erste Blick in die Zeitung fällt, um voyeuristisch einem Kinderschänder
in die Augen zu schauen. Wir bitten um noch mehr Leben, wo es zum guten
Ton gehört, dreckige Judenwitze zu erzählen, und lachen dabei
mit. Wir bitten um noch mehr Leben, wo es Menschen nicht mehr erlaubt
ist, ihre religiöse Identität zu bewahren. Wir bitten um noch
mehr Leben, wo Hunderte sich eine Nadel setzen, um aus diesem Leben wenigstens
geistig zu entrinnen. Wir bitten um noch mehr, mehr …
Wir bitten, wo wir eigentlich schreien müssten.
Sie bitten um ein Leben, das sie vergessen haben zu leben. Das Einzige,
worin sie sich noch spüren, ist in einem bisschen Verzicht, der in
ein kollektives Leiden ausartet.
Leiden heißt nicht lösen zu wollen. Ohnmacht ist das Symptom
für dieses Leiden. Keiner ist für nichts mehr verantwortlich,
keiner bemüht sich wirklich um den anderen und geht auf ihn zu. Sollen
es doch die anderen versuchen, diese schreckliche Welt zu ändern.
Im Kleinen und im Großen.
Damit sind wir unserem eigenen Untergang, dem NICHT gelebt zu haben, geweiht
und das lassen wir dann sonntäglich absegnen und beweihräuchern.
Spendet, gebt in eure Fastensäckchen Geld, hungert euch an euren
Fastensuppen zu Tode, das Leben werdet ihr so nicht finden. Denn ihr sucht
nicht den Nächsten und damit Gott, sondern nur euch selbst.
Mir ist schlecht geworden und ich stehe auf, um die Kirche
zu verlassen. Draußen ist es freundlich, warm und hell. Die Vögel
kündigen den beginnenden Frühling an und aus allen Sträuchern
und Bäumen sprießt das neue Leben. Ich atme tief in mich und
meine Seele beginnt wieder zu fliegen.
Da sitzt auch mein kleiner Sohn an einem Mauervorsprung in der Sonne,
genießt die Wärme und hat die ersten Gänseblümchen
in seiner kleinen Kinderhand gesammelt. Er überreicht sie mir und
lächelt mir zu: „ Siehst du Mama, da ist ER. Es ist so leicht
zu finden.“ Ich nehme IHN in meine Arme und bin unsagbar dankbar.
n
Katharina Grabner-Hayden ist gelernte
Betriebswirtin. Sie ist verheiratet und
hat drei Söhne
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