Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
Ausgabe Mai / Juni 2005
Ich werde ihn nie wieder verlieren
Carolin Rixner
Michaela lief ziellos durch die Straßen. Es war ihr egal, wohin,
Hauptsache, sie musste nicht nach Hause.
Wie im Irrenhaus
Dort ging es wieder einmal zu wie im Irrenhaus. Ben, ihr Bruder, war mit
einer Sechs in Englisch heim gekommen. Das war bei ihm nicht verwunderlich,
denn alles, was mit Schule zu tun hatte, war für ihn reine Zeitverschwendung.
Mit der schlechten Note hatte er jedoch bei Mutter wieder mal einen hysterischen
Anfall ausgelöst. Sie war schier ausgerastet, hatte gebrüllt
und gekreischt. Ben hatte alles mit einem Achselzucken über sich
ergehen lassen, erst als der Mutter die Stimme versagte, hatte er angefangen,
zurückzubrüllen. Zu allem Überfluss war dann auch noch
Vater von der Arbeit heimgekommen. Er hatte gar nicht erst auf eine Erklärung
gewartet, sondern seinen 14-jährigen Sohn erst einmal verprügelt.
Dann hatte er die Mutter angeschrieen und war schließlich mit lautem
Türknallen im Computerzimmer verschwunden.
Flucht in den Regen
Michaela hatte die ganze Zeit über am Esstisch gesessen und der Szene
fassungslos zugesehen. Sie war fast ein bisschen verwundert, dass keiner
sie beachtete, als sie wortlos aufstand und aus der Wohnung stürzte.
Inzwischen war sie ziemlich durchnässt, denn natürlich goss
es wie aus Kübeln.
Plötzlich, ohne dass sie gemerkt hatte, wohin sie lief, stand sie
vor einer Kirchentür. Sie war schon oft hier vorbeigekommen, aber
in der Kirche war sie noch nie gewesen.
Verstohlen blickte sie sich um, doch es war kein Mensch zu sehen bei diesem
Wetter. Mit einer schnellen Handbewegung drückte sie die Türklinke
herunter und das Tor öffnete sich mit einem leisen Quietschen.
Wunderbar beschützt
In der kleinen Kirche war es trocken, warm und es roch angenehm nach einer
Mischung aus Wachs, Weihrauch und alten Stoffen.
Michaela sah sich um. Es war schön hier, und obwohl sie ganz allein
war, hatte sie das Gefühl, dass jemand bei ihr war. Langsam ging
sie den Mittelgang entlang, zu dessen beiden Seiten Kirchenbänke
standen. Der kleine Altar, auf dem viele Opferlichter in roten Plastikschälchen
standen, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie liebte Kerzen, sie dufteten
herrlich und sorgten für Gemütlichkeit.
Michaela setzte sich und beobachtete die flackernden Lichter. Das war
gut, so musste sie an nichts denken.Doch je länger sie dasaß,
den Kerzen zusah und den angenehmen Geruch in sich aufnahm, desto weiter
in die Ferne rückten auf einmal die Probleme mit ihrer Familie. Sie
lehnte sich zurück und holte tief Luft. Eine unbekannte Geborgenheit
durchströmte sie und sie fühlte sich wunderbar beschützt.
Ja, nun wusste sie es. Hier war jemand, zu dem sie immer kommen konnte.
Jemand, der wusste, wie es ihr ging, auch wenn sie es ihm gar nicht erzählte.
Jemand, der ihr Kraft gab, wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Sie spürte es ganz deutlich.
Plötzlich musste Michaela weinen. Warum hatte sie ihr Weg nicht früher
hierher geführt? Warum hatte sie so lange auf diese schützende,
liebende Hand verzichten müssen? Dann aber überkam sie Freude.
Gott hatte sie gefunden und mit der Gewissheit, dass sie ihn nie wieder
verlieren würde, machte sie sich bestärkt auf den Heimweg.
Carolin Rixner lebt und arbeitet als kaufmännische
Angestellte in Gunzenhausen, Bayern
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