Die andere Hälfte der Seele
Herz aus Stein – Herz aus Fleisch
„Das Herz spricht zum Herzen“ hat Franz von Sales einem Mitbruder im Bischofsamt empfohlen und meinte damit, dass es manchmal hilfreicher ist, sich vom Gefühl als vom Verstand leiten zu lassen. Mit genau diesen beiden Haltungen befasst sich P. Josef Költringer OSFS in seinem Artikel.
Als ich mit dem Studium der Philosophie und Theologie fertig war, meine Ewige Profess abgelegt hatte und geweiht wurde, dachten viele, dass ich das Ende meiner Suche erreicht hätte, zumindest was meinen Glauben und meine großen Lebensentscheidungen betraf. Auch ich selber war überzeugt, dass es nun gelte, die einmal eingeschlagene Straße voranzuschreiten und mich meinen Talenten entsprechend in den Dienst nehmen zu lassen.
Ein neuer Weg
Das tat ich auch einige Jahre lang, bis sich die Gelegenheit ergab, für ein paar Wochen nach Asien zu reisen, wo ich eine ganz andere Welt erlebte, die mich zu faszinieren begann. Es war nicht so sehr die Neugierde nach neuen Ideen oder Kulturen, sondern die Menschen dort erregten mein Interesse, die mich irgendwie nicht mehr los ließen. Ich erinnere mich, dass ich meinen Schülern in Österreich nach meiner Rückkehr von der Reise gesagt hatte, dass ich meinte, in Asien meine zweite Hälfte der Seele finden zu können.
So habe ich begonnen, mich immer wieder angeregt über diese „andere“ Hälfte – vor allem mit meinen Mitbrüdern – zu unterhalten. Aber bei unseren Diskursen blieben wir an der Peripherie stecken, weil wir uns zu sehr auf die Aufgaben und auf Äußerliches konzentrierten. So sprachen wir von einer neuen Form von Pastoral, die der Zeit und den Menschen von heute besser entspräche; wir dachten auch daran, dass die viele Arbeit und unser Gebetsleben besser verwoben sein müssten; auch wünschten wir eine engere Zusammenarbeit mit den Frauen und wir meinten, unsere salesianische Spiritualität würde geradezu fordern, mit unseren Schwestergemeinschaften ein neues Modell von Ordensleben zu verwirklichen.
Kurz, wir waren auf der Suche nach einer gelungenen Gemeinschaft von Menschen, in der Spontanität einen Platz hat, den eigenen Talenten nachgegangen werden darf und die liebende Suche nach Gott eine wichtige Stelle einnimmt, ... und wir meinten, dass dafür verschiedene äußere Veränderungen notwendig seien.
Bis heute hat sich natürlich nichts geändert, die „andere“ Gemeinschaft wurde nicht gegründet und jeder wirkt, so gut er kann, an seinem Platz dahin.
Vielleicht spürt der eine oder andere von uns noch ein gewisses Unbehagen, aber, und das mag tröstlich sein, in ein paar Jährchen ist auch dieses flaue Gefühl von unserer eigenen Vernunft wieder überdeckt und vergessen.
Dabei hatte die Idee nach Neuaufbruch einen wahren Ursprung, weil wir auf unser Inneres gehört haben. Wenn wir nur klarer und mutiger vorangeschritten wären, und uns aufgemacht und das Drängende und Notwendige in die Tat umzusetzen versucht hätten!
Aber das haben wir nicht, weil wir in der einen Hälfte der Seele, die dem vernünftigen und rationellen Denken zugeordnet ist, letztlich stecken geblieben sind.
Schönheit im Chaos
Ich bin schließlich doch losgezogen und fünfzehn Jahre in Asien geblieben. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich immer an Bahnhöfen oder Bushaltestellen die großen Massen von Menschen in Indien beobachtet habe. Die Frauen in ihren bunten Saris am Boden sitzend, die Kinder halb nackt umherlaufend, die Männer mit ihren Turbanen heftig diskutierend …
Und trotz dieses Durcheinanders und der Armut gab es so etwas wie eine Aura von Schönheit und Gnade, die sie alle umgab, und man konnte die immense Energie förmlich spüren, die sie alle verstrahlten. Es war nicht das Durcheinander, der Schmutz oder Lärm, die Masse von Menschen, die unterschiedlichen Religionen und Kasten, die mich erstaunten, sondern die Lebensfreude und Dynamik, mit der diese jungen wie alten Menschen in den Tag hinein lebten. Nach all den Jahren in Indien bleibt diese Beobachtung eines meiner tiefsten Erlebnisse. Und ich kann diese Erfahrung nur so erklären, dass sie aus einer Quelle schöpfen, die nicht irgendwo in der äußeren Welt zu finden ist, sondern nur in ihrer Seele. Dort ist der Ort und die Quelle für ihre Lebensfreude. Wir im Westen lassen uns von unserem Verstand leiten, der alles ordnet und uns alle irgendwie gleichförmig kleiden, handeln und aussehen lässt. Die Menschen im Osten erscheinen verschieden wie ein Blumengarten, weil sie nicht nur von ihrem Denken sondern von ihrem Gefühl heraus leben, sich nicht nur dem Bewussten sondern auch dem Unterbewussten stellen, nicht nur ihrem Kopf sondern auch den Signalen des Körpers vertrauen. C. G. Jung kleidete es in die beiden Begriffe „animus“, der männliche, aktive, vernünftige und aggressive Teil der Seele, und „anima“, das weibliche, das mehr passive, intuitive und sympathische Bewusstsein. Die Bibel nennt es das Herz aus Stein und das Herz aus Fleisch.
Die aus dem Herzen leben
Jetzt, nachdem ich wieder zurückgekehrt bin, würde ich gerne diese Diskussion mit meinen Mitbrüdern noch einmal führen. Ich weiß allerdings nicht, ob die vielen Aufgaben, Einrichtungen und traditionellen Stimmen dies noch erlauben. Die damals Träumenden sind heute selbst in Leitungsaufgaben, und da sei es vernünftiger, auf ein Wunder zu warten, als selber einen ehrlichen und mutigen Schritt zu setzen und sich von alten Strukturen zu befreien; gläubiger und scheinbar leichter einen Heiligen herbeizubeten als selber heil und glücklich zu leben; effizienter mit Einsichten aus der Wirtschaft und der Hilfe von Marketing-Strategien alles straffer zu organisieren und abzusichern, als endlich mit dem Leben in kleinen Gemeinschaften neu zu beginnen.
Aber sie täuschen sich, auch wenn alles noch zu funktionieren scheint. Sie übersehen die Mutlosigkeit und Schlaffheit, die Gereiztheit und Überempfindlichkeit, die Kälte und die Trauer, die uns umgeben. Gesucht wären Menschen, die aus dem Herzen leben, „ganz“ und mit sich selbst zufrieden sind und gerade deshalb ein Herz für andere haben, und sich nicht mit Arbeit, mit Geld, Macht oder eine Position befrieden. Gesucht sind Menschen, die auf ihre Gefühle achten und ihnen vertrauen. Gesucht sind Menschen, die ein Herz aus Fleisch haben.
Das gibt’s aber nicht zu kaufen. Ich weiß nicht einmal, ob man es sich erarbeiten oder erbeten kann ...
Aber wir könnten zumindest beginnen darüber zu reden.
P. Josef Költringer ist Oblate des hl. Franz von Sales. Er ist Hausoberer, Ausbildungsleiter und Ökonom im Salesianum Rosental in Eichstätt, Bayern.
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