Salesianische Zweimonatsschrift "Licht"
September / Oktober 2010

Salesianische Zweimonatsschrift "Licht" 2006

Ein denkendes Herz
Katharina Grabner-Hayden

Wie jedes Jahr verbrachte ich ein Wochenende mit meinem besten Freund. Erschöpft und ausgezehrt von den Anstrengungen unserer beider Leben, lagen wir am Strand eines österreichischen Sees und ließen unserer weißen Haut die Sonne schmecken. In früheren Zeiten war es ein Leichtes über alles Mögliche zu reden, über Familie, Beruf und den Anforderungen, denen wir uns ständig ausgeliefert sahen. Meist nahmen wir uns eine Flasche guten Wein und schon ging die Reise in das andere Leben los.
Nun, wir sind älter und abgeklärter geworden, wir kennen uns schon lange, es bedarf keiner Flasche Wein mehr oder sonst irgendeines äußeren Anlasses, wir sahen einander an und … schwiegen.

Über uns der strahlend blaue Himmel und das herrliche Grün zittriger Pappelblätter, die beim geringsten Windstoß launig angenehm vom satten Sommer säuselten.
So lagen wir stundenlang nebeneinander, wir brauchten nicht reden, unser Schweigen erzählte von Anstrengungen und Herausforderungen, denen wir kaum mehr gewachsen waren, von Ideen, die wir nur langsam und mäßig umsetzen konnten, von unseren geliebten Kindern, Partnern und Freunden, denen wir aus Zeitnot oder aufgrund sonstiger lapidarer Ausreden nicht zeigen konnten oder wollten, wie sehr wir sie liebten und brauchten.

„Wenn dir heute jemand sagen würde, dein Leben sei in Kürze zu Ende, was würdest du dir wünschen?“, schoss es mir durch den Kopf und sofort auch aus meinem Mund. Die Antwort war wieder Schweigen. Gesundheit, viel Geld, um meinen Kindern noch eine adäquate Ausbildung zu ermöglichen, einen Liebhaber, eine Weltreise, einen einzigen Wunsch von Gott? Die Antwort kam wenig später so leicht, wie die Blätter miteinander im Wind spielten, von meinem schweigenden Freund:
„Ein denkendes Herz.“
Wie ein Pfeil zielgerichtet und treffsicher war diese Aussage.

War es das, was ich wollte, ein denkendes Herz? War das die Antwort, die ich hören wollte?
Gute Freundinnen behaupten ja immer wieder, ein Wellnessurlaub, Weiterbildungsseminare, ein Liebhaber oder einfach einmal sechs Wochen lang weg von der Familie und weg von allen Verpflichtungen wären ein probates Mittel, um das Leben leichter und damit erträglicher zu machen. Alles nett, und nun kommt er, mein Freund, mit dieser Aussage: ein denkendes Herz!
Lieben und Denken. Kann, muss sich aber nicht ausschließen. Alle sind wir auf der Suche nach Menschen, die wir lieben können und von denen wir geliebt werden. Anfänglich die große Leidenschaft und danach das Wehklagen, man hätte die falsche Entscheidung getroffen. Viele Beziehungen gehen in die Brüche, weil überhöhte oder sinnlose Erwartungen den Partner erdrücken. Die edlen Versprechen, in guten wie in schlechten Zeiten zueinander zu stehen und sich beizustehen, verblassen oder verschwinden im Strudel zeitgemäßer Vorgaben unserer Gesellschaft, nur noch in Lebensabschnitten und den dazugehörigen Partnern zu denken; die Liebe und das Herz zeitlich begrenzt. Auf ins neue Glück oder ins Verderben! Dabei kennt die Liebe kein Maß und keine Zeit, WENN sie denkt, erkennt und wissen will.

Ich muss unweigerlich an das letzte Gespräch mit meiner älteren Schwester denken, die sich immer wieder über mich mokiert, weil ich nichts aus meinem Leben mache, nicht ständig zum Friseur renne, nicht in ihre Kleidergrößen passe. Sie sei glücklich mit ihrem Beruf, glücklich mit ihrem Mann und überhaupt: Warum ich mich noch mit der Kirche, der Bibel und sonst irgendeinem Schmöker befasse, sie wisse genau, was sie täte, sie brauchte das alles nicht, sie sei sich eben genug. Und was in fünf Jahren sei, wäre ihr egal. Wunderbar, dachte ich mir, nur so könnte ich nicht leben.

Wir selbst können uns nicht Maßstab sein, wir können uns nicht selbst genügen. Zuhören, Mitdenken, Mitleben, Mitfühlen und Erkennen, sind die Eckpfeiler einer dauerhaften Beziehung zu sich, zu anderen und zu Gott. Die Suche nach einem denkenden Herz, wie mein Freund so treffsicher meinte, ist gleichzeitig auch die Suche nach richtigen Entscheidungen für das eigene, wie auch für das Leben anderer.
Ein denkendes Herz bleibt offen für die Nöte und Sorgen anderer, lernt, macht neue Erfahrungen, schöpft aus dem Reichtum des Neuentdeckten und lässt andere daraus profitieren.
Ja, ich möchte weiterhin Suchender bleiben, mein Herz und meinen Verstand, mein Denken füllen, mit dem was Gott mir auf dem Weg zeigt.

Wir schwiegen wieder. Nur die Pappelblätter hauchten uns den Sommer in die müden Glieder.
Ich beugte mich über meinen Freund, küsste ihm die Stirn und bedankte mich für diese wunderbaren Gedanken, die eigentlich nicht von ihm stammen konnten, weil ich ihn eben schon so lange kenne.
„Altes Testament, erstes Buch der Könige, Kapitel 3 Vers 2-15“. – „Du bist aber trotzdem sehr gescheit.“

Katharina Grabner-Hayden ist verheiratet und hat vier Söhne.

Ihre Meinung          zurück          nächster Artikel