Salesianische Zweimonatsschrift "Das Licht"
Ausgabe 5 - September/Oktober 2000

 

P. Ferdinand Karer OSFS

Neue Realität vor dem Tabernakel


Leben ist immer konkret. Und jede Theorie muss sich an der Realität messen lassen, mit ihr auskommen, im besten Fall sie prägen.

Es hilft wenig, ein Leben lang über Leben zu reden, ständig zu sagen, wie es gehen könnte und sollte, nie aber den Mut finden, das Leben auch zu leben. Jede Theorie muss irgendwann Praxis werden, sonst bleibt sie überflüssiges Wort, zumindest muss die Theorie den Anspruch haben, in die Realität einfließen zu können. Genügt der Theorie die Theorie, erhebt man den Schein zum Sein und das Glasperlenspiel kann beginnen.
Es ist die Flucht vor Realität, die Scheu, der Wirklichkeit zu begegnen. Sie könnte einen ja erschlagen. Freilich, sie – die Wirklichkeit – geht nicht zimperlich mit uns um. Sie ist uns nicht immer Freund, sie entschuldigt nie, sie ist brutal und unnachgiebig. Also – so der eine Weg – man geht ihr aus dem Weg.


Und gern sitze ich mit still werdenden Minuten vor dem Tabernakel, tue nichts und denke nichts. Und dann ein Beten. Oft ein Ringen! Dann wieder Leere. Und gestärkt gehe ich der Realität aus dem Weg. Nachgiebig bin ich geworden, damit die Realität noch unnachgiebiger mich in die Flucht treiben kann, in die Theorie der Kurven und Ausreden, des Sich-Schlängelns und Windens, des Nicht-mehr-Stellung-Nehmens und Schweigens, des unterdrückten Willens und Augen Schließens. Aber im Gebet bleibe ich stark.
Gott wird meine Realität und diese Realität funktioniert immer entsprechend meiner Theorie. Und darin finde ich Wohlgefallen. Egal, welche Theorie ich erfinde. Bei Gott funktioniert sie. Immer dann, wenn ich es will.

Und die neue Realität geht der alten aus dem Weg. Sie will mit ihr nichts zu tun haben, weil sie mit ihr nichts zu tun haben kann. Überall dort kann Anbetung mein Leben nicht bereichern.
Überall dort laufe ich davon. Ich kann der Realität im Namen Gottes – eigentlich im eigenen Namen – eine neue Wirklichkeit überstülpen in der Hoffnung, dass die alte, mich quälende und ungerecht mit mir umgehende erstickt. Anbetung darf uns nicht den Boden unter den Füßen des Lebens wegziehen, denn um zu leben sind wir geboren und nicht um es zu meiden und zu umgehen.

So müssen wir einen Schritt weitergehen und sagen, dass nicht nur das Leben immer konkret sein muss, auch Gott muss konkret sein.
Und so muss das kleine Stück Brot aus dem Tabernakel heraus, damit es zur Nahrung werden kann, zu der Nahrung, die Realität mitbestimmt, zur Nahrung, die verändert. Gott kann nur konkret sein, wenn er gelebt wird.
Es hilft nichts, mich hinter Kirchenmauern zu verschanzen und mit Gott auf die Welt zu schimpfen. Gott muss hinaus – er muss dorthin, wo die Wirklichkeit am unwirklichsten ist, wo Herrschaften mit viel Einsatz einen Götzen zur realitätsbestimmenden Gottheit erklärt haben, der sich sehr leicht anbeten lässt, und dessen Anbetung immer mit konkretem Erfolg begleitet wird.
Diese Gottheit funktioniert, freilich muss man die Dimension Zeit ausklinken. Aber im Moment funktioniert sie. Und das scheint zu genügen.

Noch zu jeder Zeit hat Anbetung stattgefunden. In allen Straßen und Märkten, in den riesigen babylonischen Türmen funktioniert die Anbetung. Ohne Unterbrechung wird gebetet.
Die Frage ist nur: Wer wird angebetet? Denn: Alles, was ich anbete, möchte ich auch besitzen. So schließt sich der Kreis. Und die Frage bleibt: Was ist die Realität. Ist sie wirklich nur die künstliche Wirklichkeit meiner zu Gott erhobenen Idee. Der Traum vom Glück, sei es kurzfristig und danach todbringend, der die wirkliche Wirklichkeit übertüncht. Anbetung darf nicht zur Bildhauerei verkommen. Ich haue meinen Gott nicht in ein Bild.

Anbetung meint vielmehr: Was für ein Bild lässt Du, Gott, aus mir entstehen? Was soll ich tun und was muss ich werden, damit ein Bild von Dir wirkliche Wirklichkeit werden kann, ein Bild, das nicht ich gehauen habe.

P. Ferdinand Karer ist Oblate des hl. Franz von Sales und Lehrer am Gymnasium in Dachsberg, Oberösterreich

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