Die Eucharistie – „Sonne der geistlichen Übungen“
Predigt von Yves Boiveneau, Bischof der Diözese Annecy, anlässlich der Jubiläumsmesse zum 400. Gründungstag des Ordens der Heimsuchung Mariens in der Basilika des Heimsuchungsklosters in Annecy am 6. Juni 2010
Der heilige Franz von Sales (1567-1622) nahm sich als junger Student in Paris nach einer überstandenen schweren Glaubenkrise vor, jeden Tag die Heilige Messe mitzufeiern und mindestens einmal im Monat die Heilige Kommunion zu empfangen. Einige Jahre später, als er als Missionar im Chablais tätig war, musste er täglich eine Wegstrecke von mehreren Kilometern auf sich nehmen, um die Eucharistie feiern zu können, da es auf dem calvinistischem Gebiet des Chablais verboten war, eine katholische Messe zu zelebrieren.
In seinen eigenen Worten nennt Franz von Sales die Eucharistie „Sonne der geistlichen Übungen“, „Zentrum der christlichen Religion“ und „Herz der Frömmigkeit“ (Philothea II,14). Die Eucharistie war also Zentrum seines Lebens und seiner Seelsorge. Er lebte die Eucharistie, sie vereinte sein Leben als Priester und als geistlicher Begleiter: „Wenn Unser Herr wirklich in uns gegenwärtig ist, schenkt er uns Erleuchtung, denn er ist das Licht“ (DASal 12,31).
Von Kindheit an bezeugt die heilige Johanna Franziska von Chantal (1572-1641) mit ganzer Kraft ihren Glauben an die Gegenwart Jesu in der Eucharistie. Sie war bereit, mit ihrem geistlichen Begleiter die gleiche Liebe zur Eucharistie zu teilen, und wir wissen um den wesentlichen Stellenwert, den die Eucharistiefeier und die eucharistische Anbetung in den Klöstern der Heimsuchung besitzen.
„Der Heiland hat das hochheilige Altarssakrament eingesetzt, das wirklich und wahrhaftig sein Fleisch und Blut birgt, damit ewig lebe, wer davon isst“ (Philothea II,21), „unfassbares Geheimnis, das den Abgrund der göttlichen Liebe umfasst“ (Philothea II,14), schrieb Franz von Sales. „Die heiligste Eucharistie enthält ja das Heilsgut der Kirche in seiner ganzen Fülle, Christus selbst, unser Osterlamm“, sagt das Zweite Vatikanische Konzil (Praesbyterorum ordinis 5).
Für Franz von Sales ist die Eucharistie die immer neue Vergegenwärtigung des Opfers Christi. Er spricht darüber gerne als eine Art Fortsetzung der Menschwerdung Gottes: Der Sohn Gottes „[versenkte] seine Gottheit in den Menschen …, so dass der Mensch Gott wurde“ (Theotimus X,17). Er „[vernichtete] sich selbst …, um zu unserer Menschheit zu gelangen und sie mit seiner Gottheit zu erfüllen, uns mit seiner Güte zu überhäufen“ (Theotimus X,17). Mit einer gewissen Kühnheit lässt er Christus ‑ frei nach den Worten des Apostels Paulus ‑ sogar sagen: „Nicht mehr ich selbst lebe, sondern der Mensch lebt in mir (s. Gal 2,20). Mein Leben ist der Mensch … (s. Phil 1,21). Mein Leben ist mit dem Menschen verborgen in Gott (s. Kol 3,3)“ (Theotimus X,17).
Es gibt eigentlich keine richtigen Begriffe dafür, diese wirkliche und wahrhaftige Vereinigung in ihrer ganzen Tiefe beschreiben zu können, die sich zwischen Christus und den Gläubigen im Sakrament der Eucharistie vollzieht, in dem „Jesus Christus selbst" „sich mit uns auf wunderbare und ganz liebevolle Weise vereinigt“ (DASal 12,218). Christus kommt zu uns und zieht uns an sich. Dadurch vollzieht sich bei jenem Menschen, der gläubig den Leib Christi in sich aufnimmt, ihn, der sich „zur Speise herabwürdigt, um … sich aufs innigste mit dem Herzen und dem Leib seiner Gläubigen zu vereinigen“ (Philothea II,21), eine fortschreitende Umwandlung seines gesamten Wesens. „Glaube mir“, schreibt Franz von Sales an Philothea, „die Hasen werden im Schnee weiß, weil sie nichts anderes sehen und am Schnee schlecken; so wirst auch du ganz schön, ganz gut und ganz rein werden, wenn du immer wieder die verkörperte Schönheit, Güte und Reinheit im göttlichen Sakrament anbetest und in dich aufnimmst“ (Philothea II,21).
Es geht bei diesem Sakrament aber ganz und gar nicht darum, sich in sich selbst zu verschließen, die Eucharistie nährt vielmehr unser Dasein und unsere Handlungen im Herzen der Welt. Sie ist immer „die Eucharistie für die Welt“ und wird „für alle“ gefeiert. Wir alle nehmen denselben Herrn in uns auf, und das hat Auswirkungen auf unser Engagement für den Nächsten: „Dieses Sakrament [vereinigt uns] nicht nur mit Unserem Herrn …, sondern auch mit unseren Mitmenschen; da wir mit ihnen an der gleichen Speise teilhaben, sind wir dasselbe mit ihnen geworden. Und eine ihrer hauptsächlichen Früchte ist die gegenseitige Liebe und die Herzensgüte untereinander. Wir halten uns ja alle an den gleichen Herrn, und in ihm müssen wir von Herz zu Herz miteinander verkehren.“ (DASal 12,226)
Wenn wir die Eucharistie leben, dann halten wir die Erinnerung des Herrn wach und gehorchen seiner Weisung, die er uns hinterlassen hat: „Tut dies zu meinem Gedächtnis.“
Prediger: Bischof Yves Boiveneau, Diözese Annecy
Bibelverweise: Gen 14,18-20; Ps 109; 1 Kor 11,23-26; Lk 9,11b-17