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Achtsamkeit

die Tugend, die mir Gottes Gegenwart bewusst macht

Ein Zen-Mönch wurde einmal von einem modernen Menschen gefragt, welche geistlich-religiösen Übungen er pflege. Er antwortete: „Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich.“ Darauf der Frager: „Das ist doch nichts Besonderes. Das tun doch alle!“ Da meinte der Mönch: „Nein, wenn du sitzt, dann stehst du schon. Und wenn du stehst, dann bist du schon auf dem Weg.“


1.  Achtsamkeit liegt im Trend

Der Boom der westlichen Welt, sich in Scharen nach Indien aufzumachen, um sich dort einem Guru anzuschließen, hat uns eine Tugend wieder näher gebracht, die der „moderne“ Mensch längst vergessen hatte: die Achtsamkeit. Sie ist der Hektik und dem Stress des ganz normalen Alltags zum Opfer gefallen. In einem Lebensstil, in dem nur die Ergebnisse zählen, die Umsätze und Bruttosozialprodukte, hatte eben die Achtsamkeit ausgedient … oder eben doch nicht. Offenbar hinterließ der Verlust der Achtsamkeit eine Lücke, die heute wieder geschlossen werden möchte.
Jedenfalls verkaufen sich die Bücher des 1926 in Südvietnam geborenen buddhistischen Mönches Tich Nhat Hanh ganz hervorragend. Er beschreibt die Achtsamkeit als Kunst, ganz im gegenwärtigen Augenblick zu verweilen. Achtsamkeit ist die Grundlage für das „tiefe Schauen“, also die Fähigkeit, das Wesen der Dinge zu erkennen. Wer die Achtsamkeit lebt, in dem werden im Laufe der Zeit negative Gefühle wie Wut, Angst oder Verzweiflung verwandelt und geheilt.
Achtsamkeit wird geübt, in dem man sich geistig voll und ganz dem gegenwärtigen Tun widmet, ohne an etwas Anderes zu denken, auch nicht an Zukünftiges oder Vergangenes.
Bestimmte Alltagssituationen, wie etwa der Glockenschlag, sollen als Erinnerungspfeiler dienen, um sich wieder ganz auf das gegenwärtige Tun zu konzentrieren. Notwendig dazu ist, dass ich mich zu bestimmten Tageszeiten dem „edlen Schweigen“ widme, das heißt, dass ich mich für kurze Zeit zurückziehe und auf jeden verbalen Austausch verzichte. Beschäftigt man sich etwas näher mit diesen buddhistischen Weisungen, stellt sich natürlich die Frage, warum die Menschen etwas im Buddhismus entdecken, das in unserer christlichen Spiritualität eine ebenso Jahrtausende alte Tradition besitzt. Offenbar ist es auch unter Christen so, dass man erst in die Fremde gehen muss, um das Gute im eigenen Haus wieder zu erkennen.

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2.  Christliche Achtsamkeit

Der heilige Kirchenlehrer und Mystiker Franz von Sales (1567-1622) jedenfalls lehrte die Menschen vor vierhundert Jahren eine Spiritualität, die sich vor den heute so beliebten buddhistischen Übungen keineswegs zu verstecken braucht. Bei ihm lautet der Satz der Achtsamkeit folgendermaßen:
„Meine Vergangenheit kümmert mich nicht mehr, sie gehört dem göttlichen Erbarmen. Meine Zukunft kümmert mich noch nicht, sie gehört der göttlichen Vorsehung. Was mich kümmert und fordert, ist das Heute. Das aber gehört der Gnade Gottes und der Hingabe meines guten Willens.“
Seine Übungen, die er uns Christen vorschlägt, haben zwar keine asiatischen Namen wie „vipassana“ (edles Schweigen) oder „gathas“ (Erinnerungsverse), meinen aber das Gleiche. Er empfiehlt uns die „Betrachtung“ und die „Besuchung“. Am Morgen soll ich mich eine halbe Stunde zurückziehen und mich ganz auf Gott konzentrieren, damit ich höre, was er mir für Heute sagen möchte. Im Laufe meines Arbeitstages soll ich eine „Besuchung“ machen, das heißt Gott einen kurzen Besuch abstatten und ihm erzählen, was bisher gut gelaufen ist und was nicht. Am Abend soll ich in der „Abendübung“ den vergangenen Tag Gott zurückgeben und ihn bitten, er möge mich auch am nächsten Tag begleiten. In den Zeiten dazwischen, also inmitten meines geschäftigen Treibens soll ich mich so oft es geht durch „Herzensgebete“ daran erinnern, dass ich in der Gegenwart Gottes lebe, der mich umgibt, so wie die Luft, die ich atme.
Am Beginn einer jeden Tätigkeit, also immer dann, wenn ich eine neue Arbeit anfange, soll ich die „Gute Meinung“ machen. Das heißt: Indem ich daran denke, dass Gott bei mir ist und ich in seiner Gegenwart lebe und arbeite, stelle ich mich positiv auf das ein, was ich jetzt tun muss. Das dauert zwei Sekunden, indem ich in Gedanken sage: „Gott, du bist da. Fangen wir an“ oder ganz einfach das Kreuzzeichen mache. Der Glockenschlag der Uhr oder andere „Erinnerungspfeiler“ – Eselsbrücken also – können mich stets daran erinnern, dass das, was ich jetzt mache, in der Gegenwart Gottes geschieht.

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3.  Der wesentliche Unterschied

Es gibt keinen Unterschied in der Übung der Achtsamkeit des Buddhismus und der christlichen Spiritualität, außer einen – und der ist der alles Entscheidende. Der Buddhist empfiehlt uns, in der Gegenwart zu leben. Christliche Spiritualität meint nicht nur das Leben in der Gegenwart, sondern in der Gegenwart GOTTES. Wir Christen glauben nicht bloß an ein „tiefes Schauen“, sondern an einen persönlichen Gott, an den dreifaltigen Gott – Vater, Sohn und Heiliger Geist , der in Jesus Christus Mensch geworden ist. In dieser Gegenwart des dreifaltigen Gottes leben wir und sind wir in jeder Sekunde unseres Daseins. Durch den dreifaltigen Gott erkennen wir uns selbst und das Wesen aller Dinge.
Die christliche Tugend der Achtsamkeit lehrt mich, diese Gegenwart Gottes zu erkennen und aus dieser Gegenwart heraus entsprechend zu handeln. In der Achtsamkeit achte ich auf die kleinen Dinge, die mich umgeben, da sich Gottes Gegenwart in der Schöpfung bis ins kleinste Detail erkennen lässt. Ich achte auf die kleinen Dinge des Alltags, da Gott mir gerade in Kleinigkeiten Hinweise für mein Verhalten geben will – und selbstverständlich habe ich Achtung vor den Menschen um mich herum, da jeder Mensch Abbild Gottes ist – ein Tempel des Heiligen Geistes.

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4.  Das Herzensgebet

Wie sehr Franz von Sales diese Tugend der Achtsamkeit am Herzen lag, können wir daran erkennen, wie wichtig ihm die Übung des Herzensgebetes war – oder buddhistisch ausgedrückt, die Übung der „gathas“ – der Erinnerungsverse. „In dieser Übung … der kurzen Herzenserhebungen zu Gott“ schreibt Franz von Sales in seinem Buch „Philothea“, „besteht das große Werk der Frömmigkeit. Sie kann im Notfall alle übrigen Gebete ersetzen, ihre Unterlassung kann aber kaum durch irgendetwas gutgemacht werden. Ohne sie kann man nicht gut ein beschauliches Leben führen, ohne sie wird man auch die Pflichten des täglichen Lebens nur sehr mangelhaft erfüllen. Ohne sie wird Ruhe zur Trägheit und Arbeit zur Last. Deshalb beschwöre ich dich, wende dieser Übung die größte Sorgfalt zu und lasse niemals davon ab.“
Sein berühmtes Buch „Philothea“ oder „Anleitung zum frommen Leben“ ist das ideale christliche Buch, um die Tugend der Achtsamkeit zu lernen.

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5.  FRAGEN ZUM NACHDENKEN

  • Ist mir bewusst, dass ich in der Gegenwart Gottes lebe?
  • Achte ich in meinem täglichen Leben auf Gottes Gegenwart?
  • Ziehe ich mich zurück, um zu beten?

Herbert Winklehner OSFS


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