Die Tugend für die goldene Mitte
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Man tut sich ein bisschen schwer, die Kardinaltugend „temperantia“, wie sie Lateinisch genannt wird, oder Griechisch „Sophrosyne“, ins Deutsche zu übersetzen. Teils spricht man von „Mäßigung“ oder „Mäßigkeit“, teils von „Maßhalten“ oder „Maßhaltung“, teils einfach nur von „Maß“. Egal, wie die Übersetzungen auch lauten mögen, bei dieser Tugend geht es darum, in allem den richtigen Mittelweg zu finden. Das Gegenteil dieser Tugend wäre also einfach gesagt die Übertreibung.
Dass das richtige Maß finden, gar nicht so einfach ist, zeigt uns nicht nur die Erfahrung mit den Übersetzungen, sondern das Leben selbst. Der griechische Philosoph Pindar (518-446 v. Chr.) teilte eine jede Kardinaltugend einem bestimmten Lebensalter zu: dem jungen Mann die Tapferkeit, dem Erwachsenen die Gerechtigkeit, dem Greis die Weisheit, zu allen Altersstufen jedoch rechnet er die Maßhaltung als notwendiges Ziel. Dies gilt auch für Platon (427-347 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.). Für sie zählt das Maßhalten deshalb zu den Kardinaltugenden, weil sie eine notwendige Eigenschaft für alle anderen Tugenden darstellt. Jede Tugend kann durch Maßlosigkeit oder Übertreibung zur Untugend werden. Ebenso kann jede Tugend zur Bedeutungslosigkeit herabsinken, wenn man sie zuwenig beachtet. Das richtige Maß jedoch verleiht den Tugenden erst den wahren Glanz und ewigen Bestand.
Besondere Bedeutung erhält die Tugend der Mäßigung für die wesentlichen Grundstrebungen des Menschen: das Verlangen nach Speise und Trank, nach gesellschaftlicher Geltung, nach Wissen, nach Gerechtigkeit und nach Sexualität. All diese Grundsehnsüchte sind gut und richtig. Sie gehören von Natur aus zum Menschen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass gerade diese Sehnsüchte ins Extreme umschlagen, dadurch alles Maß verlieren und zur Sucht werden. Der Mensch wird unmäßig oder maßlos. Aus den Tugenden werden Untugenden: die Gefräßigkeit, die Machtbesessenheit, die zügellose Neugierde oder übertriebene Wissbegier, der Stolz, die Prozesswut oder Rechthaberei oder die Wolllust bzw. Unzucht. Die Tugend des Maßhaltens ist notwendig, um diesen Grundsehnsüchten des Menschen die Zügel anzulegen und sie in Schranken zu weisen, damit sie nicht ins Extreme entarten, sondern die goldene Mitte, das richtige Maß finden.
In der sittlichen Ordnung der Moraltheologie (z. B. Thomas von Aquin [1225-1274]) spricht man davon, dass das rechte Maß in den meisten Tätigkeiten des Menschen das Grundprinzip ihrer sittlichen Bewertung darstellt. Ein Zuviel oder ein Zuwenig ist im sittlich-moralischen Urteil ausschlaggebend dafür, ob ein Handeln oder ein Verhalten als gut zu bezeichnen ist oder nicht. Die Mäßigung oder das Maßhalten ist daher wahrlich eine Kardinaltugend, die viele Bereiche des Menschen beeinflusst. Die Kunst, richtig zu leben, besteht darin, in allen Dingen das rechte Maß oder den goldenen Mittelweg zu finden.
Der heilige Kirchenlehrer Franz von Sales (1567-1622) vergleicht die Tugend des Maßhaltens mit dem Salz, das notwendig ist, damit das Leben nicht Gefahr läuft zu verfaulen. In seiner „Philothea“ schreibt er: Es gibt wohl erhabenere, aber keine notwendigere Tugend als diese. Zucker schmeckt besser als Salz, aber Salz braucht man öfter. Deshalb sollen wir diese Tugend [des Maßhaltens] immer in Bereitschaft haben, da wir sie praktisch immer brauchen.“ (DASal 1,107) Daher auch sein eindeutiger Rat: „Hüten Sie sich sehr vor Übertreibung, sie ist die Pest der heiligen Frömmigkeit.“ (DASal 6,370)
In allem das richtige Maß halten, lautet also eine Grundformel des Lebens. Mit Hilfe des heiligen Franz von Sales (ein Heiliger für den das richtige Maß sehr wichtig war und der von sich behauptete: „Ich bin kein Mensch, der etwas auf die Spitze treibt, und lasse mich gerne zur Mäßigung bewegen, wenn etwas sich nicht vollständig machen lässt.“ [DASal 6,115]) sollen nun einige Aspekte dieses Lebens beschrieben werden, um eine praktische Vorstellung dafür zu bekommen, welche Auswirkungen das Maßhalten auf verschiedene konkrete Lebensbereiche haben kann.
Essen: Bezüglich Essen und Trinken weist Franz von Sales daraufhin, dass es nicht nur um die Quantität, sondern auch um Qualität geht: „Nicht nur mit Appetit, sondern über alles Maß und jede Ordnung hinaus zu essen, ist umso verwerflicher, je größer die Maßlosigkeit ist. Die Maßlosigkeit im Essen zeigt sich nicht nur in der Menge der Speisen, sondern auch in der Art und Weise zu essen.“ (DASal 1,203) – „Die Unordnung besteht … darin, Verlangen nach allzu erlesenen Speisen und Getränken zu haben, oder sie in zu großer Menge zu genießen, oder sie besonders seltsam zubereiten zu lassen, oder sich daran allzu köstlich zu ergötzen, oder sie außer der Zeit zu genießen.“ (DASal 12,241)
Gerechtigkeitsstreben: Sein bischöflicher Freund Pierre Camus wollte sehr häufig sein Recht mit Hilfe von Gerichtsprozessen durchsetzen. Dieser übertriebenen Prozesswut antwortet Franz von Sales: „Wer in den Prozessen die Mäßigung bewahrt, für den ist meiner Meinung nach der Heiligsprechungsprozess schon gewonnen ... Streiten und nicht unsinnig handeln, das gelingt höchstens Heiligen.“ (DASal 12,122)
Reden und Urteilen: Sehr wichtig war Franz von Sales das Maßhalten im Reden und Urteilen. Damals wie heute ist der „Tratsch hinter vorgehaltener Hand“, das „freventliche Urteile“ oder gar der „Rufmord“ einer der beliebtesten Übertreibungen des Menschen. Daher sagt Franz von Sales: „Welche Zügel muss man doch der Zunge anlegen, um sie daran zu hindern, dass sie wie ein durchgegangenes Pferd durch die Straßen läuft und in das Haus des Nächsten eindringt, ja sogar in sein Leben, um sie zu zügeln und sie zu überwachen.“ (DASal 9,288)
Sexualität: Oftmals wurde vor allem in der katholischen Morallehre das Maßhalten bloß auf den Geschlechtstrieb des Menschen bezogen. Selbstverständlich ist die Sexualität ein wichtiges und prägendes Element im Leben des Menschen. Die Tugend des goldenen Mittelweges gilt deshalb auch für sie, aber nicht nur für sie. In Bezug auf das rechte Maß der Sexualität meint Franz von Sales: „Den Eheleuten tut eine zweifache Keuschheit Not: vollständige Enthaltsamkeit, wenn sie … voneinander getrennt sind, und das Maßhalten, wenn sie in gewohnter Weise wieder vereint sind ... Es ist leichter, sich der sinnlichen Lust ganz zu enthalten, als sie mit Maß zu genießen. Wohl gibt die heilige Freiheit der Ehe eine besondere Kraft, das Feuer der Begierlichkeit zu dämpfen, aber die Schwachheit jener, die sie genießen, überschreitet leicht die Grenzen des Erlaubten zur Zügellosigkeit, des Gebrauches zum Missbrauch. Man sieht oft … viele Verheiratete sich Ausschweifungen hingeben aus reiner Maßlosigkeit und Geilheit, obwohl ihnen genügen sollte und könnte, was ihnen gestattet ist. Ihre Begierlichkeit ist wie fliegendes Feuer, das da und dort versengt und nirgends bleibt.“ (DASal 1,140) Franz von Sales warnt allerdings auch davor, in der Bestrafung maßlos zu sein, wenn jemand gegen die Keuschheit gesündigt hat. Hier schreibt er: „Ein Mann sündigt oft und schwer gegen die Keuschheit. Vorwürfe überfallen sein Gewissen gleichsam mit dem Schwert in der Hand, um ihn mit heiliger Furcht zu durchbohren. In plötzlicher Erkenntnis ruft er aus: ‚Du geiles Fleisch, du unbotmäßiger Leib hast mich verraten!’ Und nun züchtigt er dieses Fleisch mit Geißelhieben, mit maßlosem Fasten, mit strengem Bußgürtel. Armer Mensch!“ (DASal 1,167)
Frömmigkeit: Ähnlich reagiert Franz von Sales auf die Maßlosigkeit im religiösen Verhalten. Auch im Bereich der Frömmigkeit tut das rechte Maß Not, denn „die Maßlosigkeit im Fasten, Geißeln, im Tragen des Bußgürtels und anderen Kasteiungen macht bei vielen die besten Jahre unfruchtbar für den Dienst der Liebe.“ (DASal 1,165) Damit Frömmigkeit fruchtbar ist, soll man nicht zu ungestüm sein, sich Gott anvertrauen und ihm überlassen, wie schnell wir in der Frömmigkeit vorankommen und wie viel an mystischen Erfahrungen er uns zuteil werden lässt. Franz von Sales hält sich an das Grundprinzip, das in der Lehre der katholischen Kirche eigentlich über all die Jahrhunderte hinweg Gültigkeit hatte und hat, es ist das Prinzip des Mittelweges. „Die Verrückten“, so predigt er einmal zum Thema Marienverehrung, „bilden stets die Extreme und sind einander entgegengesetzt. Die Kirche, die stets die königliche Straße zieht und den Mittelweg der Tugend einhält, bekämpft die einen nicht weniger als die anderen.“ (DASal 9,118) Ebenso wie übertriebene Marienfrömmigkeit, so ist auch gar keine Marienfrömmigkeit falsch. Richtig ist die goldene Mitte.
Trauer: Übertrieben werden kann auch das Maß der Trauer im Todesfall, vor allem dann, wenn der Mensch völlig vergisst, dass für den Christen der Tod nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebens ist. Hier rät Franz von Sales: „Dieser Schmerz ist uns nicht verboten, wenn wir ihn mäßigen durch die Hoffnung, dass wir ja nicht getrennt bleiben, sondern ihm in kurzer Zeit in den Himmel, dem Ort unserer Ruhe, folgen werden, … Diese Grundgesinnung verlangen unsere verstorbenen Freunde von uns und ich bitte Sie auch, diese aufrechtzuhalten und maßlose Traurigkeit jenen zu überlassen, die keine solchen Hoffnungen hegen.“ (DASal 6,45)
Freizeit: Ein salesianische Rat, der heute wahrscheinlich aktueller denn je ist, betrifft das Maßhalten in der Freizeit. In den letzten Jahren haben ja gerade die so genannten Extremsportarten und Großevents Hochkonjunktur erhalten. Zur Freizeit meint Franz von Sales: „Spiele, bei denen man einen Preis als Anerkennung für die Gewandtheit und Geschicklichkeit des Körpers oder Geistes gewinnt, Ball- und Laufspiele, Schach und andere, sind an sich gute und erlaubte Erholungen; man muss sich nur vor Übertreibungen hüten, sowohl in der Zeit, die man ihnen widmet, als auch im festgesetzten Preis.“ (DASal 1,185)
Es gibt nur eine einzige Tugend, in der keine Mäßigung notwendig ist. Diese Ausnahme bildet die Königin aller Tugenden, die göttliche Tugend der Liebe. Franz von Sales hat dies sehr prägnant formuliert: „Wir können die Mitmenschen nie zu viel lieben und somit auch in der Liebe nie die Grenzen der Vernunft überschreiten, sofern die Liebe wirklich im Herzen wurzelt; ... Der glorreiche hl. Bernhard (von Clairvaux, [1090-1153]) sagt: ‚Das Maß der Liebe zu Gott ist Liebe ohne Maß.’ Und weiter sagt er: Setze der Liebe keine Schranken, lasse sie ihre Äste breiten, so weit sie nur kann. Was für die Gottesliebe gilt, das gilt auch für die Nächstenliebe; doch muss die Liebe zu Gott den Ton angeben, muss den höchsten Rang einnehmen. Tut sie das, dann dürfen wir unseren Mitmenschen so viel Liebe schenken, als wir nur immer haben.“ (DASal 2,66f). In der Liebe allein also darf nicht nur, sondern soll Maßlosigkeit herrschen. „Die Mäßigung“, so Franz von Sales, ist „immer gut in allen Übungen, außer in der Liebe zu Gott, den man nicht mit Maß, sondern ganz ‚maßlos’ lieben soll.“ (DASal 7,52f)
Herbert Winklehner OSFS