Die Weisheit
Die Tugend, die weiß, dass sie nichts weiß
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Tugenden sind Geschenke Gottes an die Menschen. Kaum eine Tugend besitzt diesen Geschenkcharakter mehr als die Weisheit. Daher ist die Weisheit, die in der philosophischen Tradition zu den Kardinaltugenden gehört, aus christlicher Sicht eine der sieben Gaben oder Geschenke des Heiligen Geistes. Der von Weisheit Beschenkte, der Weise also, entdeckt als Erster, dass er derjenige ist, der aus sich heraus eigentlich nichts weiß. Diese zunächst unlogisch erscheinende Aussage weist darauf hin, dass jener Mensch, der viel Wissen besitzt, umso mehr entdeckt, dass es noch viel mehr Fragen gibt, die er nicht beantwortet hat. Eine jede Antwort, so erkennt der Weise, fordert zu weiteren Fragen heraus.
1. Weisheit und Wissen
Sprachlich betrachtet, hat das Wort Weisheit mit Wissen zu tun. Es wäre aber ein verhängnisvoller Trugschluss zu meinen, dass Weisheit die Fülle oder die Summe allen Wissens ist, denn Weisheit ist mehr als alles Wissen. Sie steht hinter oder über allem Wissen, umschließt dieses, bildet den Horizont des Wissens und kann so Wichtiges vom Unwichtigen und Wesentliches vom Unwesentlichen unterscheiden.
Jemand, der eine ganze Bibliothek gelesen hat und die Intelligenz besitzt, sich das Gelesene zu merken, muss noch lange kein Weiser sein. Andererseits gibt es sehr weise Frauen und Männer, deren Rat sehr geschätzt wird, ohne dass diese jemals viele Bücher gelesen hätten.
Vor allem zeigt uns die Tugend der Weisheit, dass zu allem Wissen auch das entsprechende Tun gehört. Wissen allein genügt nicht, nützt nichts, Wissen muss sich in das Tun umsetzen, aber nicht alles Wissen darf auch zur Tat werden. Die Weisheit entscheidet, welches Wissen welche Tat verlangt.
Gerade in den Erkenntnissen der Naturwissenschaften der letzten hundert Jahre mag uns das deutlich werden. Jener Atomphysiker wäre wahrscheinlich weise gewesen, hätte er sein Wissen für sich behalten. Die Atombombe hätte nicht gebaut werden können. Und ob der Gentechnologe, der als erster Tiere klonen konnte, weise war, es auch tatsächlich zu tun, wird sich noch zeigen. Der österreichisch-amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff (1905-2002), ausgezeichnet mit dem höchsten amerikanischen Wissenschaftspreis, meinte jedenfalls: „Ich glaube, ein Weiserer als wir hätte sich gescheut, den Atomkern zu zertrümmern oder in den Zellkernen der Erbsubstanz manipulativ einzugreifen.“ Eine Definition bringt diesen Zwiespalt von Weisheit und Wissen auf den Punkt: „Weise sind alle die, die sowohl die Notwendigkeit als auch die Grenzen allen Wissens erkennen, und die verstehen, dass Liebe größer als Wissen ist.“
2. Selbsterkenntnis
Berühmt ist die Erzählung über den griechischen Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.). Gefragt, wer der weiseste Philosoph Griechenlands ist, antwortet vor 2300 Jahren das Orakel in Delphi: „Sokrates!“ Und warum gerade Sokrates? Weil dieser bei seinem Prozess in Athen jene Worte sagte, die heute zum geflügelten Wort wurden: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Am Eingang zum Orakel wurde jeder Besucher mit den Worten begrüßt „Erkenne dich selbst“. In dem Wort des Sokrates hat das Orakel offenbar die Erfüllung dieser Selbsterkenntnis erkannt. Weisheit ist, wenn jemand erkennt, dass er trotz all seines Wissens eben nichts weiß, oder, dass Weisheit eben etwas anderes ist, als alles zu wissen.
Nicht weniger berühmt ist das Wort des wohl größten Theologen der Kirchengeschichte Thomas von Aquin (1225-1274), der mit seiner „Summa Theologica“, der „Summe der Theologie“ ein Werk schrieb, das Jahrhunderte lang das theologische Lehren und Lernen in der ganzen Welt beeinflusste. Am Ende seines Lebens bekannte genau dieser heilige Thomas im Rückblick auf sein theologisches Schaffen ganz ähnlich wie Sokrates: „Es ist alles Stroh, was ich geschrieben habe.“ Wahrscheinlich hat genau diese weise Erkenntnis den Ausschlag dafür gegeben, dass seine Summe allen Wissens eine so große Bedeutung bekam. Nicht das Wissen war das Entscheidende, sondern die Weisheit, die hinter all diesem Wissen steckte.
3. Ein Geschenk Gottes
Weisheit ist ein Geschenk Gottes. Ganz klar zum Ausdruck kommt dies in der biblischen Geschichte des Königs Salomo (2 Chr 1,7-12). Als Sohn Davids erbte er dessen Thron. Eines Tages wurde er von Gott aufgefordert: „Sprich eine Bitte aus, die ich dir gewähren soll“ (v.7). Darauf antwortete Salomo: „Du hast meinem Vater David große Huld erwiesen und mich an seiner Stelle zum König gemacht ... Verleih mir daher Weisheit und Einsicht, damit ich weiß, wie ich mich vor diesem Volk verhalten soll“ (v.8.10). Diese Bitte gefiel Gott und er antwortete: „Weil dir das am Herzen liegt, weil du nicht um Reichtum, Vermögen, Ehre oder um den Tod deiner Feinde, auch nicht um langes Leben gebeten hast, sondern weil du um Weisheit und Einsicht gebeten hast, um mein Volk zu regieren, zu dessen König ich dich bestellt habe, sollen dir Weisheit und Einsicht zuteil werden“ (v.11-12).
Diese Szene wird in der Bibel auch in 1 Kön 3,2-15 beschrieben. Diese Stelle ist die ältere und damit ursprünglichere Beschreibung. Dort bittet Salomo nicht direkt um Weisheit, sondern um ein „hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (v.9). Und Gott antwortete: „Sieh, ich gebe dir ein so weises und verständiges Herz, dass keiner vor dir war und keiner nach dir kommen wird, der dir gleicht“ (v.12). Diese Stelle zeigt noch viel schöner, was die Bibel unter der Tugend Weisheit versteht: ein hörendes Herz, das von Gott kommt und Gutes vom Bösen unterscheiden kann. Der Weise ist also nach der Bibel zuallererst ein Hörender. Er achtet sehr genau auf das, was andere sagen. Vor allem achtet er auf das Wort Gottes, in dem alle Weisheit verborgen ist. Aufgrund dieses Hörens lernt er Schritt für Schritt, zwischen gut und böse zu unterscheiden und sich für das wirklich Gute zu entscheiden. Er wird das Gute tun, das er durch sein hörendes Herz erkannt hat.
Der weise König Salomo wurde in Israel zu einem Muster solcher Weisheit. Seine weisen Urteile wurden zum Sprichwort. Noch heute sprechen wir vom „salomonischen Urteil“ (vgl. 1 Kön 3,16-28), wenn wir eine besonders weise Entscheidung hervorheben wollen. Und der Verfasser des biblischen „Buches der Weisheit“ nennt König Salomo als Autor seiner Schrift, um die Bedeutung dessen zu unterstreichen, was er von und über die Weisheit sagt. In diesem „Buch der Weisheit“ kommt endgültig zum Ausdruck, dass die Weisheit etwas ist, das von Gott kommt und nicht vom Menschen.
4. Die Allweisheit Gottes
Gott allein ist der wahre Weise, die Allweisheit, kein Mensch. Der Mensch kann nur dann als Weise betrachtet werden, wenn er an der Weisheit Gottes teil hat. Weisheit kommt nicht aus dem Menschen, sondern ist immer Weisheit Gottes, die Gott an die Menschen weiterschenkt. Daher ist es unmöglich, die weisen Entscheidungen und Ratschlüsse Gottes in allem zu verstehen, da der Mensch diese Allweisheit, die dafür notwendig wäre, nicht besitzt. Der weise Mensch wird oder muss letzten Endes, um wirklich weise zu sein, also wiederum genau dort hingelangen, wohin auch Sokrates mit seinem Denken gelangte: Weise bin ich, weil ich weiß, dass ich nichts weiß. Oder christlich ausgedrückt: „Es ist alles Stroh, denn wer weiß schon, ob nicht alles von Gott ganz anders gemeint und gedacht war und ist.“
Der heilige Kirchenlehrer Franz von Sales (1567-1622), der uns ebenso wie Thomas von Aquin eine stattliche Anzahl von Büchern hinterlassen hat, schreibt dies so: „Wie verrückt ist es doch, weise sein zu wollen nach einer unmöglichen Weisheit“ (DASal 3,56). Die unmögliche Weisheit ist die Meinung, alles und noch mehr als Gott wissen zu können.
5. Nach Weisheit streben
Sollen wir also gar nicht erst damit beginnen, nach der Tugend Weisheit zu streben? Natürlich nicht. Genauso wie wir nicht aufhören sollen, nach Gott zu suchen, obwohl wir ihn hier auf Erden nie ganz werden finden können, so sollen wir auch nicht aufhören, nach Weisheit zu streben. Nur die „Toren verachten die Weisheit“, sagt die Bibel (Spr 1,7).
Was also ist zu tun, um diese Tugend der Weisheit von Gott geschenkt zu bekommen? Ich möchte diese Frage mit den Worten des heiligen Franz von Sales beantworten. Auch für ihn ist der Beginn aller Weisheit die Demut, also das Eingeständnis, aus sich selbst nicht weise sein zu können, da alle Weisheit von Gott kommt. In einer Predigt zitiert er das biblische Buch Jesus Sirach (1,5): „Die Quelle der Weisheit ist das Wort Gottes.“ Und meint dann: „Wer aber aus der Quelle trinken will, muss sich niederbeugen“ (DASal 9,76). Weisheit erhalte ich, in dem ich mich niederbeuge und mich an Gott und sein Wort wende.
In seinem theologischen Hauptwerk „Abhandlung über die Gottesliebe“ schreibt Franz von Sales, dass Reue und Buße, also Akte der Demut und des Niederbeugens, „gut für den Anfang christlicher Weisheit“ sind (DASal 3,150). Aus dieser Haltung entsteht die Erkenntnis Gottes: „Unser Geist wird Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. Er wird die ureigenste göttliche Wesenheit betrachten, die ihm wirklich und wahrhaftig gegenwärtig sein wird, und in ihr seine unendlichen Schönheiten, seine Allmacht, Allgüte, Allweisheit, Allgerechtigkeit und alles Übrige der Unergründlichkeit göttlicher Vollkommenheiten“ (DASal 3,191).
Der weise Mensch ist aus christlicher Sicht derjenige, der vor Gott hinkniet und dem Wort Gottes lauscht, der demütig bittet, von der Allweisheit Gottes beschenkt zu werden. Die vom Heiligen Geist geschenkte Gabe der Weisheit versteht Franz von Sales daher als die Fähigkeit „zur Betrachtung der Gottheit, des Ursprungs alles Guten“ (DASal 4,270).
Dennoch bleibt selbst für den weisesten Menschen Gottes Weisheit unerforschlich: „Wer vermag es, so sagt der heilige Gregor von Nazianz, den Sand am Meer oder die Tropfen des Regens zu zählen oder die Tiefe der Abgründe zu ermessen? Wer vermöchte daher die Tiefe der göttlichen Weisheit zu ergründen, die alle Dinge geschaffen hat und sie nach ihrem Wissen und Willen lenkt? Fürwahr, es genüge uns, sie nach dem Beispiel des Apostels zu bewundern, ohne uns bei ihrer Schwierigkeit und Tiefe aufzuhalten.“ (DASal 3,223).
6. Weisheit und Liebe
Franz von Sales ist der Lehrer der Liebe. Daher haben für ihn alle Tugenden nicht nur ihren Ursprung in Gott, sondern auch in der Liebe, die Gott ist. Dies gilt ebenso für die Tugend der Weisheit, die „in der Tat nichts anderes als die Liebe [ist], die empfindet, verkostet und erfährt, wie gütig und liebreich Gott ist“ (DASal 4,271). Wer also die Güte und Liebe Gottes erkennt, hat das Geschenk der Weisheit erhalten. Daher ist es nicht notwendig, dass man für die Tugend der Weisheit viel Wissen braucht, sondern eigentlich nur viel Liebe. In einer Predigt hat Franz von Sales deshalb dieses tröstliche Wort für uns Unwissende gesagt, die wir nach Weisheit streben:
„Manche denken, wenn sie mit Weisheit ausgestattet seien, wären sie besser befähigt, Gott zu lieben; aber das stimmt nicht. Ihr erinnert euch wohl, dass der Bruder Ägidius einmal den heiligen Bonaventura aufsuchte und sagte: Wie glücklich bist du, mein Vater, dass du so gelehrt bist, denn du kannst Gott viel mehr lieben als wir Unwissenden. Darauf antwortete der heilige Bonaventura, die Gelehrtheit helfe ihm nichts, um Gott zu lieben, und eine einfache Frau könne Gott ebenso lieben wie die gelehrtesten Männer der Welt“ (DASal 9,230).
7. FRAGEN ZUM NACHDENKEN
- Welche Menschen, die ich kenne, nenne ich weise?
- Habe ich Gott schon einmal um Weisheit gebeten?
- Bin ich jemand, der auf Gott und sein Wort hört?
Herbert Winklehner OSFS