Die Wissenschaft
Die Tugend für die richtigen Entscheidungen
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Wenn es hier um die Tugend der Wissenschaft geht, dann bedeutet dies nicht, dass sich ab jetzt nur noch Studenten, Hochschulabsolventen, Doktoren und Professoren angesprochen fühlen sollen. Das wäre ein Irrtum. Wie wir hoffentlich noch alle vom Firmunterricht wissen, gehört die Tugend der Wissenschaft (auch Erkenntnis genannt) zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes, die jeder Gefirmte von Gott geschenkt bekam. Das heißt: Wenigstens alle, die das Sakrament der Firmung empfangen haben, sind Betroffene.
1. „Wer wird Millionär?“
Worum geht es bei der Tugend der Wissenschaft? Es geht um Erkennen und Verstehen, um Bildung, Lernen und Wissen. All das geht jeden Menschen an und zu jeder Zeit, also nicht nur während des schulpflichtigen Alters. Gott schenkt uns eine Tugend, damit wir uns selbst und andere glücklich machen können. Er schenkt uns die Fähigkeit der Wissenschaft aus dem gleichen Grund. In Quizsendungen, wie etwa der so populären deutschen Sendung „Wer wird Millionär?“, ist das offenkundig. Wer viel weiß, gewinnt viel Geld und freut sich … wer nichts weiß, bekommt wenig und ist enttäuscht. Die Gabe der Wissenschaft wurde uns allerdings nicht deshalb geschenkt, um bei Quizsendungen glänzen zu können, nicht einmal, um während unserer Schulzeit bei den Prüfungen immer gute Noten zu schreiben. Auch das wäre eine Verkürzung dieser Tugend. Die Höhe des Intelligenzquotienten ist nicht das Maß dafür, ob wir mit dieser Gabe des Heiligen Geistes gut oder weniger gut umgegangen sind.
Die Tugend der Wissenschaft hat mit unserem Gewissen zu tun, um den gesunden Hausverstand. Die deutsche Sprache bringt dies im Wort selbst zum Ausdruck: Ge-Wissen heißt wörtlich: eine Menge, eine Fülle von Wissen. Genauso wie ein Ge-birge eine Menge oder eine Fülle von Bergen ist. Die Tugend der Wissenschaft hilft mir, mein Gewissen zu bilden, also mein Wissen so zu vergrößern, dass es mir leichter fällt, richtige Entscheidungen zu treffen.
2. Gewissensbildung
Das beginnt bei Kleinigkeiten: Soll ich einen Regenschirm mitnehmen oder nicht? Ist mir der Wetterbericht bekannt oder weiß ich die Konstellationen der Wolken und das Wehen des Windes zu deuten, fällt es mir wesentlich leichter, eine richtige Entscheidung zu fällen. Das Leben bietet allerdings weitaus gewichtigere Fragen: Wer bin ich? Wozu lebe ich? Woher komme ich? Gibt es einen Gott? Was will Gott von mir? Was kommt nach dem Tod? Soll ich heiraten? Welchen Beruf soll ich ergreifen? … zahllose Fragen, die von mir eine Entscheidung fordern, die ich nur dann wirklich mit gutem Gewissen treffen kann, wenn ich auch ein gewisses Maß an Wissen besitze bzw. mir eben zuvor dieses dafür notwendige Wissen aneigne. Dafür bekamen wir von Gott die Tugend der Wissenschaft geschenkt. Sie macht uns fähig, uns Wissen anzueignen. Sie lässt uns Fragen stellen, neugierig sein, schenkt uns Interesse und macht uns unruhig, lässt uns suchen und finden. Der heilige Kirchenlehrer Franz von Sales (1567-1622), der mit großem Wissen gesegnet war, formuliert dies so: Wir erhalten von Gott die Tugend „der Wissenschaft, um das wahrhaft Gute, nach dem man streben soll, und das wahrhaft Böse, das man verwerfen soll, zu erkennen“ (DASal 4,270).
Bei Kindern lässt sich das sehr schön beobachten, wenn sie plötzlich ständig nach dem Warum fragen. Das kann Erwachsene schon mal zur Weißglut bringen, ist allerdings ein eindeutiges Zeichen dafür, dass in diesen Kindern die göttliche Gabe der Wissenschaft wirkt, und man sollte tunlichst darauf achten, diese Fragen geduldig und nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. Auch dafür ist die Tugend der Wissenschaft sehr nützlich.
3. Untugend der Unwissenheit
Der heilige Franz von Sales war davon überzeugt, dass die Untugend der Unwissenheit eine Hauptursache dafür war, dass es im 16. Jahrhundert zur Kirchenspaltung zwischen Katholiken und Protestanten kam. Viele Missstände, die Martin Luther (1483-1546) mit Recht kritisierte, wie etwa die Auswüchse des Ablass- oder Reliquienhandels, gab es deshalb, weil weder Klerus noch Gläubige wirklich wussten, was mit Ablass oder Reliquienverehrung tatsächlich gemeint ist. Als dann die Protestanten gegen diese Missstände angingen und begannen, alles Mögliche einfach abzuschaffen, war es diesen dann auch völlig unmöglich, zu erkennen, ob das nun richtig oder falsch ist. Nicht das Wissen war das Kriterium für ihre Entscheidung, sondern dem, der am lautesten schrie, der sich in der Öffentlichkeit am besten präsentierte oder eben die stärkeren Waffen besaß, wurde Recht gegeben. Betrachtet man die Welt von heute, wird man zugeben müssen, dass die Tugend der Wissenschaft nicht nur auf dem Gebiet der Religion, sondern auf allen möglichen Gebieten (Politik, Gesundheit, Umwelt usw.) immer noch sehr oft durch die größere militärische oder mediale Präsenz ersetzt wird. Wenn etwas im Fernsehen gezeigt wird oder in der Zeitung steht, dann muss es stimmen, denn sonst würde es dort nicht stehen – das ist eines der am weitesten verbreiteten Irrtümer unserer Zeit. Ebenso die Vorstellung, dass der mit den wirksameren Waffen auch immer Recht hat. Ein Wort des hl. Franz von Sales gilt also immer noch: „Statt zur Wissenschaft der Wahrheit vorzudringen, sinken wir in die Torheit unserer Eitelkeit hinab“ (DASal 3,219).
4. Gute Bildung
Für Franz von Sales war es eines der Hauptziele als Bischof, in seiner Diözese Genf-Annecy der Bildung eine Vorrangstellung einzuräumen. „Die Wissenschaft“, so schrieb er an seinen Klerus, „ist für den Priester das achte Sakrament“ (DASal 12,104). Wer nicht solide theologisch ausgebildet war, wurde nicht zum Priester geweiht bzw. erhielt keine verantwortliche Aufgabe übertragen. Franz von Sales selbst übernahm die Examen für die Priesteramtskandidaten und jene, die sich für eine Pfarrstelle bewarben. Es halfen dabei keine Empfehlungsschreiben von Königen und Herzögen. Wer theologische Lücken hatte, musste nachlernen oder auf das Amt verzichten.
Franz von Sales sorgte in seiner Diözese für eine Verbesserung des Schulwesens und des Religionsunterrichts. Er führte den regelmäßigen Katechismusunterricht ein und einmal im Jahr gab es das große „Fest des Katechismus“, zu dem alle Kinder eingeladen waren und an dem der Bischof selbst Rede und Antwort stand. Auch die Erwachsenen sollten die Möglichkeit einer guten Fortbildung genießen können. Zusammen mit seinem Freund, dem Ratspräsidenten Antoine Favre, gründete er die „Académie florimontane“, eine der ersten Erwachsenenbildungseinrichtungen der katholischen Kirche überhaupt, in der Fragen der Human- und Naturwissenschaften genauso diskutiert wurden wie theologische Erkenntnisse.
Eine gute und solide (religiöse) Bildung für alle Christen, angefangen vom Kind bis zum Erwachsenen, war Franz von Sales ein Herzensanliegen. Nur so könne verhindert werden, dass Menschen von irgendwelchen selbsternannten Propheten irregeleitet werden. Festigkeit im Glaubensleben verlangt eine gewisse Festigkeit im Glaubenswissen. Dazu hilft uns die Tugend der Wissenschaft.
5. Nichts ohne die Liebe
Eines sollte allerdings auch bedacht werden. Wie bei jeder anderen Tugend gehört auch bei der Tugend der Wissenschaft die Liebe – die Tugend aller Tugenden – dazu, gemäß dem Pauluswort: „Hätten wir alle Erkenntnisse der Welt, aber die Liebe nicht, so wäre das nichts“ (1 Kor 13,2). Für Franz von Sales ist daher die echte Tugend der Wissenschaft „nichts anderes als dieselbe Liebe, die unsere Aufmerksamkeit darauf richtet, uns selbst und die Geschöpfe zu erkennen, um uns dadurch zu einer vollkommeneren Kenntnis des Dienstes gelangen zu lassen, den wir Gott schuldig sind“ (DASal 4,271). Die echte Tugend der Wissenschaft ist also Liebe, die uns zeigt, zu welchen Aufgaben Gott uns in dieser Welt berufen hat, damit wir uns genau dafür entscheiden. Und auch dieses Wort des Heiligen sollten wir uns merken: „O, wie gefährlich ist die Wissenschaft, so groß sie auch sein mag, wenn sie ohne Liebe und Demut schafft!“ (DASal 5,350).
6. FRAGEN ZUM NACHDENKEN
- Was tue ich für meine (religiöse) Bildung?
- Ist für mich (religiöse) Fortbildung wichtig?
- Gebrauche ich mein Wissen stets mit Liebe?
Herbert Winklehner OSFS